Die Suche nach einem Sündenbock ist nicht nur im Fußball verbreitet. Doch die Schuld vor allem bei anderen zu suchen, statt bei sich selbst, hat wenig mit aufgeklärtem Denken zu tun. Es ist magisches Denken in Reinform.
Die Fußball-WM ist vorbei. "Hallelujah!" mag es angesichts dieser Tatsache selbst einigen Ungläubigen entfahren. Den fußballfernen ebenso wie den fußballaffinen, denn endlich kann die Wunde, die das Vorrunden-Aus in die deutsche Fußballnation gerissen hat, beginnen zu heilen. Eine Wunde, die offenbart hat, dass neben dem Treten eines wehrlosen Bällchens im Fußball noch ganz andere Dinge trainiert werden. Vor allem die Sündenbock-Suche: Der Schiedsrichter hat schlecht gepfiffen, der Gegner war gemein, der Rasen war zu grün, das Essen zu schwer und Özil bei Erdogan.
Ja, sie ist schon bemerkenswert, die Suche nach einem Schuldigen, wenn das eigene Tun versagt. Es ist nichts anderes als magisches Denken, das hier am Werk ist. Ein Erbe aus grauer Vorzeit, das besonders gut in allgemeiner magischer Vernebelung gedeihen kann. Ja, auf den "Sündenbock" gibt es tatsächlich sogar ein biblisches Copyright. Im dritten Buch Mose gibt Gott in einem seiner berühmten exklusiven Zwiegespräche mit Moses detaillierte Anweisungen, wie genau er gern welche Opfer dargebracht hätte. Für den allmächtigen Herrscher des Universums offenbar eine extrem wichtige Frage. Unter anderem geht es um zwei Ziegenböcke, die übrigens – man muss es nach gewissen Böhmermanniaden deutlich betonen – in keinerlei Zusammenhang stehen zu irgendwelchen namentlich erwähnten Personen des vorigen Absatzes.
Um den Rummelplatzcharakter der Schlachtorgie zu erhöhen, werden für die beiden Böcke Lose gezogen. Nicht dass einer von beiden wirklich eine Chance hätte, mit dem Leben davon zu kommen, nein nein. Dem Bock mit dem guten Los wird die Kehle durchgeschnitten, damit er hernach als Sündopfer für den Herrn verbrannt werden kann. Dem Bock mit dem schlechten Los dagegen legt der Priester die Hand auf und überträgt so sämtliche Sünden des Volkes Israel auf das Tier. Danach wird der Bock ohne Futter und Wasser in die Wüste geschickt, um langsam zu krepieren – als Opfer für den Wüstendämon Asasel. Nein, kein trashiger Fantasyroman, sondern das Buch der Liebe, das nur einen Gott kennt. Und ein paar Dämonen.
Angesichts der Herkunft des Sündenbock-Brauchs muss man sich fragen, ob es nicht an der Zeit wäre, das magische Denken auch in diesem Punkt zu überwinden. Nicht nur aus Sorge um Özil, dem man weder wünschen möchte, dass er vom DFB direkt geschlachtet, noch dass er zu einem Dämon in die Wüste geschickt wird. Das Sündenbock-Denken vernebelt in so vielen Bereichen das klare Denken. Seien es Ausländer, die als Sündenbock dafür dienen, dass man selbst keine Arbeit findet – obwohl man vielleicht einfach schlechter ausgebildet und fauler ist, als ausländische Mitbewerber. Sei es der Klimawandel, bei dem sich ja erstmal die USA und alle anderen bewegen müssen – obwohl man selbst vielleicht einfach die Flugreisen und das Fleisch auf dem eigenen Teller reduzieren könnte. Natürlich ist es angenehmer, die Schuld bei anderen zu suchen, denn Selbsterkenntnis ist bekanntlich bitter. Doch sie gehört zur Aufklärung des eigenen Denkens unweigerlich dazu. Und sie wäre der erste Schritt zur Besserung. Nicht nur bei der deutschen Fußballnationalmannschaft.
Die hpd-Kolumne "UnARTig" verbindet 'unartige' Texte aller Art mit eigens für den jeweiligen Text erstellten Illustrationen des Künstlers Roland Straller.
13 Kommentare
Kommentare
Paul am Permanenter Link
Wenn wir alle ehrlich genug sind, müssten wir doch zugeben, wer hat es noch nicht gemacht, bei anderen die Schuld gesucht, entweder weil er/sie selbst mit drin steckt oder einfach nur seinen Senf dazu geben möchte.
Karol Dittel am Permanenter Link
Es stimmt schon. Wir alle neigen zu gewissen Wesenszügen. Oder anders gesagt; manche Wesenszüge sind uns allen gleich.
Die Impulse kommen dabei doch eher von Außen die auf derartige gruppendynamischen Missstände hinweisen. Der Artikel ist so ein Impuls. Und auch ein wichtiger Impuls wie ich persönlich finde.
Kay Krause am Permanenter Link
Paul, klar, dass Sie recht haben, so wie jeder immer ein bißchen recht hat.
Andreas Lichte am Permanenter Link
@ Daniela Wakonigg
wenn es die Bibel nicht gäbe, hiesse der "Sündenbock" einfach nicht "Sündenbock", sondern irgendwie anders (irgendeine Idee? fände ich lustig ...), das allzu menschliche Verhalten, die Schuld nie bei sich zu suchen, sondern immer bei den anderen, halte ich nicht unbedingt für "religiös motiviert" ...
Hans Trutnau am Permanenter Link
Bauernopfer oder Schwarzer Peter? Oder ganz neu, eben eingefallen: Fallgruber.
Aber Mal im Ernst - den 'Sündenbock' werden wir nicht mehr los; dazu ist die 'Kirche im Kopf' zu hartnäckig.
Kay Krause am Permanenter Link
Und wenn es die Bibel nicht gäbe, lieber Andreas Licht, dann müßten wir sie glatt erfinden, und ebenso den "Gott" dazu.
Andreas Lichte am Permanenter Link
@ Kay Krause
ich heisse "Andreas Lichte" ( Autor bei hpd: https://hpd.de/autor/andreas-lichte )
Bisher habe ich mir das "Paradies" nicht als eine "Menschheit nur aus Atheisten" vorgestellt ... wenn ich es mir – dank Ihres Denkanstosses – überlege, habe ich mir das "Paradies" wohl noch nie wirklich vorgestellt.
Karl-Heinz Büchner am Permanenter Link
Nein, Herr Lichte,
Resnikschek Karin am Permanenter Link
Sündenböcke sind in der BRD auch die Menschen ohne die staatlich erwünschte Konfession.
Was ist das für ein Staat, der sich hier kirchlicher Hetze anbiedert, weil wir nicht zu seiner Staatskirchenpolitik passen? Ich bin kein Freund von Seehofer und AfD. Aber ich warte darauf, dass in deren Folgeproblemen endlich die Säkularenfrage geklärt wird: dass wir von Menschen 2. Klasse zu den loyalen Staatsbürgern gezählt werden, als die wir uns jeden Tag in allen Ämtern und Funktionen bewähren. Dass wir rechtlich mit Kirchenmitgliedern gleichgestellt werden, die ja überwiegend nur Karteileichen sind und genau wie wir denken. Und dass unsere Kinder - besonders die im vernachlässigten Osten - eine Werteerziehung bekommen ab Kl. 1, die der kirchlichen inhaltlich und fachdidaktisch gleichgestellt ist. Und dass wir weiterhin in den Medien und allen Gremien und Positionen zu Wort kommen - als 40% Bürger, die wir sind. Die sog. Ungläubigen waren zu allen Zeiten in allen Kulturen die Sündenböcke, auf die man jedes Verbrechen projizierte. Dass das im 21. Jh. immer noch so ist, bloss weil die christliche Mehrheit nicht tolerant sein kann und will - das ist eine Schande für Deutschland - da ist die AfD auch nicht schlimmer als der Staat selbst. Karin Resnikschek, Tübingen
A.S. am Permanenter Link
Sehr geehrte Frau Resnikschek,
erlauben Sie mir bitte einen Hinweis in Sachen AfD: Die bayerische AfD hat die strikte Trennung von Staat und Kirche im Wahlprogramm für die Landtagswahl im Oktober.
"Religiöse Toleranz" (d.h. Toleranz für Aberglauben, Indoktrination und geistige Knechtschaft) sind Forderungen der Religionsgemeinschaften. Die forcierte Zuwanderung ungebildeter - und damit überdurchschnittlich religiöser - Menschen wird von den Kirchen massiv unterstützt, ebenso die Forderung nach staatlicher Alimentation für muslimische Verbände.
Auch wenn die nationalistische, fremdenfeindliche Haltung der AfD verurteilenswert ist, so stellt sich die AfD doch erkennbar der Kirchen-Agenda in den Weg - und wird deswegen von den kirchentreuen Parteien und Medien nieder gemacht.
Auch in der undifferenzierten Positionierung gegen die AfD haben sich die Linken unter dem Banner "gegen Nationalismus, gegen Fremdenfeindlichkeit" mal wieder vor den Karren der Kirchen spannen lassen.
Es ist höchste Zeit, dass die Linken selber erkennen, wie sehr sie durch ihre reflexhaften , undurchdachten Reaktionen gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus manipulierbar sind.
Der Klassiker solcher Manipulation ist die Gleichsetzung von Islamkritik mit Rassismus.
Religion ist Menschen-Manipulation im ganz, ganz großen Stil mit Jahrtausenden an Erfahrung.
Kay Krause am Permanenter Link
Und der allerbeste Sündenbock,
das ist der Mann im Pfaffenrock.
Gescmückt mit Rüschen und mit Spitzen,
kannst du im Beichtstuhl bei ihm sitzen,
Deine Sünden auf ihn laden,
Und bist du fertig - wie mich deucht -
dann ist seine Hose feucht.
und so ist dem einen beim Vögeln, dem ander'n beim Golfen,
und dem dritten im Beichtstuhl geholfen!
Und es ist doch eine wunderbare Welt,
fällt in den Klingelbeutel bardann noch Dein Geld!
Ich warf zum Spaß mal polnisches hinein.
Der Messner schaute ziemlich sauer drein!
Verlass den Klerus, denn (das ist famos):
im Wald, da ist das Beichten kostenlos!
Stefan P. am Permanenter Link
Ich würde Andreas Lichte zustimmen, dass die Sündenbocksuche nicht originär religiös ist. Ich halte es eher für eine generelle Charakterfrage, in welchem Maße man dazu neigt.
Allerdings glaube ich auch, dass dieser Impuls durch Frustration gefördert wird, etwa bei den verarmenden Schichten unserer Gesellschaft im Zuge der jährlich weiter aufklaffenden Schrere zwischen Arm und Reich. Wenn man verzweifelt ist, erhöht sich der innere Druck, und man macht nicht mehr so viele Umstände, zu differenzieren, um ihn abzulassen, wie vielleicht dann, wenn man sein gutes Auskommen hat, sich entfaltet und Liebe und Respekt findet.
Ich möchte den Sündenbock-Impuls in keiner Weise verteidigen - ich halte ihn vielmehr für fatal, einen der Grundmechanismen hinein in eine lebensunwerte Welt. So sehe ich auch, dass sich Menschen mit hoher Sündenbock-Bereitschaft zu gewissen Gruppen wie den Rechten hingezogen fühlen, weil da die Sündenbock-Suche quasi "systemimmanent" ist.
Ich meine aber, man klärt nicht auf, sondern riskiert, dass der Schuss nach hinten losgeht, wenn man es sich zu einfach macht: Nicht jeder Frustrierte in unserer Gesellschaft ist einfach schlecht ausgebildet oder faul. Das gehört in meinen Augen zur Differenzierung mit hier hin.
Die Lösung kann auch nicht sein, Frust einfach massenweise herunterzuschlucken. Wichtig ist für mich, dass man den richtigen Adressaten für die eigene (hoffentlich noch vorhandene!) Wut findet. Aus meiner Sicht wären das die Protagonisten des Neo-Liberalismus und seine Profiteure und Mitläufer. Leider kriegen unsere Wut allzu oft die Falschen, sprich zumeist die Schwachen und Minderheiten ab, weil wir uns an die Mächtigen nicht rantrauen, oft nicht mal im Kopf ...
Ich bin nicht der Ansicht, dass man vor dem Sündenbock-Impuls kapitulieren oder dass man ihn relativieren sollte nach dem Motto "Ach ja, das ist halt einfach nur allzu menschlich". Er ist letztlich nur eine Charaktereigenschaft (das zeigt schon der sehr unterschiedlich ausgeprägte Hang dazu), die sich in unserer Gesellschaft, besonders durch Erziehung, fördern oder abmildern lässt ...
Matthias Wehrstedt am Permanenter Link
"Natürlich ist es angenehmer, die Schuld bei anderen zu suchen, denn Selbsterkenntnis ist bekanntlich bitter. Doch sie gehört zur Aufklärung des eigenen Denkens unweigerlich dazu."
Na, ob die neuen Säkularen, aufgeklärt, wie sie angeblich sind, immer die Balken im eigenen Auge genauso gut sehen wie die Splitter im Auge der anderen?