Am 17. Juni wurde der Bericht zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bistum Fulda veröffentlicht (der hpd berichtete). Einen Tag später erklärte auch ein Artikel in der örtlichen Presse, was auf den 319 Seiten steht. Wie zu erwarten, werden auf gut einer Seite nur wenige spektakuläre Fakten aus dem Bericht zitiert. Eine sorgfältige Analyse von 319 Seiten kann nicht "über Nacht" geleistet werden, weshalb im Folgenden zwei Aspekte detaillierter betrachtet werden, die bisher in keiner Veröffentlichung thematisiert wurden.
Für die Aufarbeitungskommission wurde eigens ein Internetauftritt angelegt, auf der Startseite unter dem Motto "Nur mit Mut" steht fettgedruckt: "Unabhängige Kommission". Was ist unter "unabhängig" zu verstehen? Naheliegend wäre: Das Bistum benennt die Mitglieder, stattet sie mit Rechten aus – zum Beispiel Akteneinsicht – und lässt sie dann ohne weitere Einmischung ihre Arbeit erledigen.
Was versteht der Bischof unter "unabhängig"?
Die Kommission hielt monatliche Sitzungen ab, bei der auch Gäste eingeladen werden konnten. Im Bericht wird die Vorgehensweise wie folgt erläutert: "Bei entsprechendem Anlass wurden zusätzliche Gäste hinzugebeten (Bischof Dr. Michael Gerber, Offizial Till Hünermund, Rechtsdirektorin Silke Keller, […])." Dass der Bischof an Sitzungen teilgenommen hat, ist schon etwas befremdlich, aber wenn die Kommission Fragen an den Bischof – oder andere hochrangige Repräsentanten des Bistums – hat, kann es sinnvoll sein, den einen oder die andere "bei entsprechendem Anlass" einzuladen. In der Praxis wurde es anscheinend anders gehandhabt, wie die folgenden Zeilen aus dem Bericht nahelegen:
"In den Kommissionssitzungen vom Januar und Februar 2023 wurde die Idee ausführlich besprochen. Insbesondere seitens der ständigen Gäste des Bistums kam es zu skeptischen Einwänden, die sich auf die zu erwartenden Reaktionen innerhalb der besuchten Kirchengemeinden bezogen. Bischof Dr. Michael Gerber, der in der Sitzung vom Februar 2023 als Gast nicht anwesend sein konnte, wandte sich mit einer E-Mail im Vorfeld an die Kommission […]." (Hervorhebungen durch den Verfasser)
Aus Gästen "bei entsprechendem Anlass" sind offensichtlich "ständige Gäste" geworden, zu denen auch der Bischof gehört, der bei der Sitzung im Februar 2023 zwar nicht anwesend war, aber die Formulierung "nicht anwesend sein konnte" deutet darauf hin, dass er üblicherweise an den Sitzungen teilnahm. Welche Rolle übernahmen die Gäste? Zuzuhören und Fragen zu beantworten könnte mit viel gutem Willen noch mit dem Etikett "unabhängig" vereinbar sein, aber die Gäste haben "skeptische Einwände" vorgebracht und der nicht anwesende Bischof sah sich genötigt, eine E-Mail zu schreiben. Das ist aktives Eingreifen in die Arbeit der Kommission und kann mit dem Anspruch "unabhängige Kommission" nicht in Einklang gebracht werden.
Die Rolle der Gemeinden
Als eine systemische Ursache für den Missbrauch benennt die Kommission den Klerikalismus und beschreibt die Auswirkungen mit deutlichen Worten.
"Ein weiterer Aspekt von Klerikalismus, der im Rahmen der Aufarbeitung für die Kommission auffällig war, ist der Umstand, wie vehement sich häufig große Teile einer Pfarrgemeinde hinter einen Priester stellten, der in ihrer Gemeinde als Täter sexuellen Missbrauchs aufgefallen war, während dagegen die Betroffenen gemieden, verunglimpft und an den Rand geschoben wurden."
Die wenigen noch praktizierenden Gläubigen in den Gemeinden möchten sich nicht mit dem Missbrauch auseinandersetzen, schon der Gedanke daran, dass der Pfarrer ein schlechter Mensch sein könnte, belastet sie und wird verdrängt. Ausgerechnet Kinder aus solchen strenggläubigen Familien werden aber Messdienerinnen und Messdiener, nehmen an kirchlichen Freizeiten teil, kommen dem Pfarrer regelmäßig nahe. Sie sind einem doppelten Risiko ausgesetzt: Die Eltern sind geneigt, ihnen nicht zu glauben, und der Pfarrer hat direkten Kontakt zu ihnen.
Aus sich heraus scheinen die Gemeinden nicht in der Lage zu sein, die Missbrauchsfälle angemessen aufzuarbeiten. Das beweisen die Fragebögen, die von der Kommission an 152 Gemeinden verschickt wurden: es kamen nur 19 Antworten. Totschweigen ist noch immer der Standard beim Umgang mit Missbrauch in 87,5 Prozent der Gemeinden.
Ist Totschweigen die Strategie des Bischofs?
Hat Herr Dr. Gerber den Willen und den Mut, das Schweigen in den Gemeinden aktiv zu durchbrechen?
In den Sitzungen vom Januar und Februar 2023 besprach die Kommission einen Lösungsansatz, der auf "skeptische Einwände" seitens der ständigen Gäste stieß und zu dem sich auch der Bischof per E-Mail zu Wort meldete. Dieser Lösungsansatz sah wie folgt aus:
"Ursprünglich war an eine kleine Ansprache eines Betroffenenvertreters nach einem Gottesdienst und einen kleinen Informationsstand für Informationsgespräche im Anschluss gedacht. Die Ansprache sollte sensibel an den Missbrauch erinnern […]."
Den Missbrauch dort anzusprechen, wo er stattfand, und auch genau die Personen anzusprechen, die ihn systemisch begünstigt haben, war die Idee der Kommission und genau in diesem Punkt haben der Bischof und weiteres hochrangiges Personal des Bistums offensichtlich interveniert. Sie hatten Erfolg. Der Plan wurde fallengelassen und stattdessen wurden die Fragebögen verschickt, welche in 133 von 152 Gemeinden mutmaßlich im Papierkorb landeten.
"Nur mit Mut" ist das Motto des Berichts, das Bistum hat eher das Gegenteil praktiziert: "Totschweigen, wo es noch geht". Mut hat der Betroffene Stephan Auth bewiesen, der über Jahre hinweg die Interessen der Betroffenen vertreten hat, und das in einer Kommission, die redlicherweise nicht unabhängig genannt werden kann.






