Studien über Kindesmissbrauch in den beiden christlichen Kirchen gehören seit einigen Jahren zum Alltag. Folglich sinkt die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, sodass auch die aktuelle Studie über Missbrauch im Bistum Speyer in den Medien nur geringe Resonanz gefunden hat. Ein Artikel auf katholisch.de zeigt, wie die Kirche versucht, ihre Verantwortung abzuschwächen.
Schon der erste Satz des Artikels mit dem Titel "Studie zeigt Ausmaß vom Missbrauch in Kinderheimen im Bistum Speyer" macht deutlich, wo der Schwerpunkt der Kirche liegt:
"Beim Lesen der 473-seitigen Aufarbeitungsstudie zu sexuellem Missbrauch im Bistum Speyer ist Bischof Karl-Heinz Wiesemann nach eigenen Worten immer wieder ins Stocken geraten."
Was wird hier gleich zu Beginn vermittelt? Der Herr Bischof ist betroffen, ihm fällt das Lesen schwer, es ist für ihn kaum auszuhalten. Erst im weiteren Textverlauf wird auf das Schicksal der Betroffenen eingegangen. Von der Reihenfolge ist das die seit Jahrhunderten verfolgte Taktik: Die Befindlichkeiten der Kirche – hier in Person eines Bischofs – kommen vor dem Leid der Opfer. Nun könnte man argumentieren, es ginge doch nur um die Reihenfolge, das sei doch nicht so wichtig. Die Kognitionspsychologie sagt da etwas anders. Die Gedanken der Lesenden werden zuerst auf die Gefühle des Bischofs gelenkt, damit wird ein Anker gesetzt, der im Weiteren das Denken beeinflusst; in der Psychologie gibt es dafür den Fachbegriff Priming.
Das ist doch vor langer Zeit passiert
Herr Wiesemann ist emotional involviert, so viel steht außer Frage, aber übernimmt er auch die Verantwortung für das Geschehene? Im Text heißt es:
"Wiesemann sprach von einem tief beschämenden Geschehen in der Geschichte des Bistums mit teils eklatantem Leitungsversagen, vor allem in den 1950er und 1960er Jahren."
Er versucht, die Vorgänge als etwas Vergangenes, als "Geschichte", darzustellen. Der Höhepunkt ist für den 1960 geborenen Wiesemann lange her, er war noch nicht geboren beziehungsweise noch ein Kind.
Im weiteren Text werden Erkenntnisse aus der Studie wiedergegeben, wobei ausführlich auf die Strukturen innerhalb der Heime eingegangen wird. Insbesondere die Machtkonzentration bei der Heimleitung wird als strukturelles, den Missbrauch begünstigendes Problem gesehen. In dieser sind überwiegend Laien beschäftigt; ihnen die Schuld zuzuweisen, fällt der Kirche leicht.
Man hat dem Bischof ja nichts gesagt
Wenn es darum geht, dass die Kontrolle der Heime dem Bistum obliegt, wird wieder abgewiegelt:
"Zwar waren Repräsentanten des Bistums in einigen Verwaltungs- beziehungsweise Stiftungsräten der Heime vertreten […] Allerdings fanden Missbrauch und Gewalt überwiegend intern statt und gelangten damit mutmaßlich gar nicht erst vor die Räte."
Simpler ausgedrückt: Das Bistum wusste von nichts, dem Bischof wurde ja nichts gesagt. Die Kontrolle einer Einrichtung besteht jedoch nicht darin, zu warten, bis die zu Überwachenden sich selbst anschuldigen.
In letzten Absatz des Artikels wird auf das weitere Vorgehen eingegangen. Immerhin gesteht der Generalvikar ein, dass die Verantwortung für die Heime beim Bistum liegt.
"Der Speyerer Generalvikar Markus Magin unterstrich mit Blick auf die kirchlichen Heime – 'soweit es sie heute noch gibt' – die kirchlichen Aufsichtsverpflichtungen des Bistums."
Aber auch er schwächt ab und weist darauf hin, dass es die problematischen Heime zum Teil nicht mehr gibt. Welche konkreten Pläne verfolgt Herr Magin?
"Auf dem Hintergrund der Studienergebnisse werde ich eine erneute, sehr genaue Prüfung veranlassen […]"
Was auf 473 Seiten erarbeitet wurde, soll nochmals geprüft werden – weiter nichts. Das erinnert an das Vorgehen bei der Frauenordination – es wird seit Jahrzehnten viel geredet, hunderte Seiten Text produziert, aber eine Entscheidung ist noch in weiter Ferne.
Was möchte der Bischof tun?
Der Generalvikar spielt auf Zeit und was gedenkt sein Chef, der Herr Bischof, zu tun? Im Text findet sich dazu nur ein einziger Satz:
"Der seit 2008 amtierende Bischof sagte: 'Ich kann nur aus ganzem Herzen um Vergebung bitten.'" (Hervorhebung durch den Verfasser)
Nach dem mehr oder weniger dezenten Hinweis, dass der Schwerpunkt des Missbrauchs vor seiner Zeit als Bischof lag, drückt er seine Anteilnahme aus, das war’s. Ist hier Herrn Wiesmann die Wahrheit rausgerutscht? Wörtlich genommen schließt er mit dem "nur" aus, irgendetwas anderes zu tun, insbesondere nichts, um den Schutz junger Menschen vor Übergriffen des Personals der katholischen Kirche im Bistum Speyer zu verbessern. Natürlich ist es übertrieben, seine Aussage streng wörtlich auszulegen, aber wie soll sie dann interpretiert werden? Ist es nur eine Redewendung? Allerdings, wenn er anstatt sich des Problems anzunehmen, mit einer "leeren" Floskel reagiert, die man nicht wörtlich nehmen darf, deutet es darauf hin, dass er sich seiner Verantwortung nicht stellen will. Es gibt Redewendungen, die zwar auch nur Plattitüden sind, aber zumindest den Willen zur Veränderung erkennen lassen. Er hätte auch sagen können: "Wir werden alles tun, um Missbrauch in Zukunft zu verhindern."
Was verschweigt der Artikel?
Es ist verständlich, dass in einem Artikel nicht in Gänze auf die umfangreiche Studie eingegangen werden kann. Der Missbrauch in Heimen, begünstigt durch die internen Machtstrukturen, wird ausführlich thematisiert. Interessant ist, was in dem Artikel nicht erwähnt wird, in der Studie aber schon:
"Wem ausgeübte Gewalt angekreidet wird und wer damit davonkommt, ist abhängig von der Position innerhalb eines gesellschaftlichen Gefüges. Konkret bedeutet dies, dass insbesondere Pfarrer und andere hohe männliche Amtsträger der Kirche bis 2010 nur wenig Befürchtung haben mussten, dass sie wirklich Schaden davontrugen, wenn sie sich des Missbrauchs schuldig machten."
Das Ansehen von kirchlichen Würdenträgern hat den Missbrauch begünstigt. Im Umkehrschluss ist das sinkende Ansehen in den letzten Jahrzehnten dem Schutz vor Missbrauch förderlich. Das ist für die Kirche eine unangenehme Wahrheit und wird im Artikel – sicher nicht zufällig – verschwiegen. Nach katholischer Lehre ist der Pfarrer eine Person mit herausragenden, um nicht zu sagen beinahe übernatürlichen Fähigkeiten. Er kann die Transsubstantiation vollbringen und in der Beichte die Menschen von ihren Sünden befreien. Das zu hinterfragen oder abzuschwächen, würde die Kirche im Kern treffen.
Auch eine weitere Aussage in der Studie bringt direkt die DNA der Kirche in Zusammenhang mit dem Missbrauch.
"Was den meisten Betroffenen von sexuellem Missbrauch durch die katholische Kirche gemein ist, ist die katholische Erziehung […]"
"Die katholische Erziehung sorgte dabei für zweierlei: Erstens wurde den Kindern zu spezifischen Zeiten (hier vor allem in den 1950er und -60er Jahren) beigebracht, dass der Pfarrer immer ein guter Mann sei und dass er alles richtig mache. […] Ein weiterer Aspekt der katholischen Erziehung präsentiert sich in den Berichten der Betroffenen von der permanenten Angst, Sünden zu begehen – und den massiven Schuldgefühlen, die der Missbrauch nach sich zog."
Der Anteil katholischer Menschen in Deutschland sinkt permanent, noch schneller die Zahl der praktizierenden Gläubigen, so dass Ansehen und Einfluss der Kirche stetig abnehmen. Das ist eine Ursache für den Rückgang der Missbrauchsfälle in den letzten Jahrzehnten. Herr Wiesmann ist sich seiner Macht und seines Status bewusst und in der Studie wird er auf den Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen hingewiesen. Ein weiterer Verfall seines Einflusses in der Gesellschaft kann nicht in seinem Interesse sein. Seine Aussage "ich kann nur aus ganzem Herzen um Vergebung bitten" wörtlich zu nehmen, ist womöglich doch näher an der Wahrheit als es den Anschein hat.






