Ein "Klassiker" in Neuausgabe:

"Über den westlichen Marxismus"

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Karl-Marx-Monument in Chemnitz.

1976 veröffentlichte Perry Anderson "Über den westlichen Marxismus", eine kurze Erörterung, die schon schnell zu einem Klassiker über das Thema werden sollte. Darin kritisierte er die Abkehr von einem Bezug zu ökonomischen Fragen und einen Bruch mit der gesellschaftlichen Praxis, womit auch die gegenwärtige Krise der marxistischen wie nicht-marxistischen Linken teilweise erklärbar ist. Insofern lohnt die Lektüre der Neuausgabe.

Der Marxismus galt nach dem Niedergang des "real existierenden Sozialismus" als erledigt. Mitunter führten aber ökonomische Krisen später dazu, dass selbst liberalkonservative Medien dem bekanntesten Sohn Triers ihre Zustimmung gaben. Diese Bekundung blieb jedoch auf den Gesichtspunkt der Krisenanfälligkeit der Marktwirtschaft beschränkt. Demgegenüber könnten Interessierte nicht mehr an den leninistischen, aber möglicherweise an den westlichen Marxismus anknüpfen. Doch was ist damit überhaupt gemeint und wie realistisch wäre dies? Antworten auf diese Frage vermittelt die Neuausgabe einer Schrift von 1976: Perry Andersons Betrachtungen "Über den westlichen Marxismus". Der Autor gehörte seinerzeit zu den bekanntesten Denkern der Neuen Linken im angelsächsischen Raum. Zwanzig Jahre lang arbeitete er für die New Left Review als Publikationsorgan dieses Spektrums. Und heute noch lehrt Anderson mit dem Jahrgang 1938 Geschichte und Soziologie an der University of California in Los Angeles. Sein erwähntes Buch "Über den westlichen Marxismus" erschien jetzt in einer Neuausgabe.

Beispielbild

Darin legte er zunächst keine Definition des konkret Gemeinten vor. Auch in den späteren Ausführungen wird deutlich, dass der westliche Marxismus kein einheitliches Phänomen war. Anderson ging es mehr darum, strukturelle Besonderheiten herauszuarbeiten. Er blickte dabei auf den westlichen Marxismus vergleichend mit der klassischen Tradition. Insofern wird zunächst die ideengeschichtlich frühere Entwicklung mit ihren allgemeinen Spezifika thematisiert, wofür Autoren wie Marx, Kautsky, Lenin, Luxemburg oder Bucharin relevant waren. Ihnen ging es insbesondere um ökonomische Fragen der Kapitalismusanalyse, aber auch den Einklang von Theorie und Praxis. Da es aber nun im westlichen Europa nicht zu einer proletarischen Revolution kam, so die Deutung, hätte man sich von der Arbeiterbewegung wie der Ökonomie abgewandt. Anderson bemerkte zu dieser Entwicklung: "Die fortschreitende Preisgabe der ökonomischen und politischen Strukturen als Schwerpunkt der Theorie ging einher mit einer grundlegenden Verschiebung des Gravitationszentrums des europäischen Marxismus hin zur Philosophie" (S. 58).

Als weitere Besonderheit wurde die sprachliche Vermittlungsform genannt, welche mit der Abkehr von der realen Arbeiterbewegung und der Ökonomie einherging (wobei Marx keineswegs eine verständliche Schreibe eigen war): "Im Gegenteil, gerade der über das notwendige Mindestmaß hinausgehende Überschuss an sprachlicher Komplexität war das Zeichen seiner Abtrennung von den Volksmassen und ihrer Praxis. Die seltsame Esoterik des westlichen Marxismus nahm vielfältige Formen an …" (S. 62). Dies zeigte Anderson dann anhand von Lukacs und Korsch, Gramsci und Benjamin, Adorno und Althusser auf. Nicht mehr die ökonomische Basis sei das zentrale Themenfeld gewesen, sondern der kulturelle Überbau. Statt dem historischen Optimismus habe ein perspektivloser Pessimismus dominiert. Anderson erwähnte darüber hinaus Defizite sowohl des klassischen wie des westlichen Marxismus, wozu die Abwesenheit einer eigenen Demokratietheorie als Desiderat wie von der eines bürgerlichen Systems zählte. Ohne Anbindung an eine Massenbewegung scheitere auch die Theorie. Diese Aussage ist wohl auch für die Gegenwart gültig.

Anderson bewegte sich in seiner damaligen Argumentation nur in den Bahnen des Marxismus, was ihn viele wichtige Aspekte für das soziale Miteinander ignorieren ließ. Er selbst äußerte sich auch nicht zu Demokratiekonzeptionen, die Grundrechte kamen bei ihm ebenso wenig vor. Demnach bestand der von Anderson postulierte Gegensatz nicht darin, dass es einen autoritären oder demokratischen Marxismus geben würde. Die Freiheit der Individuen blieb bei ihm ebenso eine Leerstelle wie deren Rechtssicherheit. Angesichts dieser Defizite wäre dann der Marxismus nicht für eine demokratische Ordnung rettbar.

Andersons altes Buch macht aber noch auf ein weiteres aktuelles Problem aufmerksam, das ebenso für die nicht-marxistische Linke relevant ist. Auch diese interessiert sich immer weniger für mit der Arbeitswelt einhergehende Fragen sozialer Gerechtigkeit, sondern zeigt sich auf Identitätsfragen und Kulturkonflikte von Minderheiten fixiert. Das muss kein grundlegender Gegensatz sein, ist es aber in der gesellschaftlichen Praxis. Unbeabsichtigt erklärt Anderson so ein in der Gegenwart beobachtbares linkes Scheitern mit.

Perry Anderson, Über den westlichen Marxismus (1976). Mit einem Nachwort von Stephan Lessenich, Berlin 2023, Karl Dietz-Verlag, 151 Seiten, 18 Euro

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