Essay

Wissenschaft, Politik und das Maß der Vernunft

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Das Robert-Koch-Institut stand während der Corona-Pandemie in engem Austausch mit der Politik.
Robert Koch-Institut (RKI), Außenstelle in der General-Pape-Straße, Berlin-Tempelhof

Anlässlich des Herbstsymposiums des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) zum Thema "Evidenz in Not – wie Wissenschaft Politik erreicht" lohnt ein Blick auf das Verhältnis zwischen Erkenntnis und Entscheidung. Die Geschichte kennt düstere Beispiele, in denen sich Politik scheinlegitimierend auf Wissenschaft berief – und diese sich willfährig zeigte. Gerade deshalb ist ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen beiden Sphären nicht nur klug, sondern notwendig. Dieser Beitrag plädiert für Augenmaß, epistemologische Bescheidenheit und demokratische Urteilskraft.

Die Forderung nach evidenzbasierter Politik klingt vernünftig, ja geradezu alternativlos. Wer möchte nicht, dass politische Entscheidungen sich an überprüfbaren Fakten orientieren? Doch die Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik ist komplexer – sie ist keine Einbahnstraße der Vernunft, sondern ein Feld der Aushandlung, der Verantwortung – und auch der Verdrängung.

Wissenschaft ist nicht Politik, und Politik ist nicht Wissenschaft. Das klingt banal, ist aber entscheidend: Erkenntnis beansprucht keine politische Gültigkeit, und politische Entscheidungen brauchen mehr als wissenschaftliche Legitimierung. Beide Sphären müssen miteinander sprechen – ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen. Nur so bleibt der republikanische Gedanke gewahrt, dass die res publica, die Angelegenheiten aller, Gegenstand eines beständigen Aushandlungsprozesses bleiben.

Homöopathie – die entgrenzte Politik

Ein lehrreiches Beispiel für das Gegenteil evidenzbasierter Politik ist die fortbestehende Duldung der Homöopathie im öffentlichen Gesundheitswesen. Ihre medizinische Irrelevanz ist rational nicht mehr zu bestreiten, ihre theoretischen Grundlagen sind mit naturwissenschaftlichen Prinzipien unvereinbar. Und dennoch wird sie politisch geduldet – nicht nur als individuelle Praxis, sondern als Teil des Systems.

Dies wird von manchen als Ausdruck der Einschätzungsprärogative der Politik gedeutet – was aber zum einen an der offenen Widersprüchlichkeit zum eigenen Anspruch rationaler Gesundheitspolitik scheitert. Zum anderen triumphiert hier Symbolpolitik vollständig über Fachlogik. Es ist eine Entgrenzung: Politischer Opportunismus ersetzt das Mindestmaß an Kohärenz von Politik und Wissenschaft. Ein Beispiel für ein Phänomen am Rande der politischen Legitimation, wo die Berufung auf die Einschätzungsprärogative kaum noch trägt.

Zwischen Hoffnung und Ernüchterung

Der Gedanke evidenzbasierter Politik hat in Deutschland viele Anhänger gefunden, von skeptischen Organisationen bis zu politischen Arbeitsgruppen etwa bei Bündnis 90/Die Grünen. Doch inzwischen herrscht eine gewisse Ernüchterung. Nicht, weil der Ansatz falsch wäre, sondern weil man der Evidenz eine normative Kraft zuschrieb, die sie allein nicht entfalten kann.

Auch ein Blick nach Großbritannien, wo politische Entscheidungen unter Angabe ihrer Evidenzquellen erfolgen müssen, zeigt die Ambivalenz. Die Verpflichtung zur Evidenzangabe kann leicht zu einer Formalrationalität mit dem Anschein von Vernunft werden. Was als Transparenz gedacht war, wird zur bürokratischen Pflicht – mit der Gefahr, den politischen Diskurs bis zur Bedeutungslosigkeit zu entkernen.

So droht Evidenz zum Alibi zu werden: Sie dient nicht mehr der Orientierung, sondern der Legitimation. Entscheidungen erscheinen rational, weil sie mit Quellen versehen sind – nicht, weil sie demokratisch verhandelt wurden. Das ist keine evidenzbasierte Politik mehr, sondern evidenzverbrämte Verwaltung.

Die Gelehrtenrepublik – eine Warnung, kein Ideal

Das beste Gegenargument gegen eine technokratische Überhöhung der Wissenschaft bleibt Platons Gelehrtenrepublik. Was als Ideal erscheinen mag – die Herrschaft der Vernunft – wird in der Praxis zur Herrschaft der Deutungshoheit ohne demokratische Kontrolle. Wer glaubt, Politik lasse sich durch Evidenz ersetzen, hat die Geschichte der Macht nicht verstanden – und den Sinn demokratischer Urteilskraft verkannt.

Wissenschaft kann Orientierung geben und auch die Grenzen rationalen Entscheidens aufzeigen, aber sie darf nicht zum Vormund der Demokratie werden.

Die eigentliche Frage ist: Wie kann Politik rational sein, ohne ihre Freiheit zu verlieren? Wie so oft gibt es hierauf keine einfachen Antworten, aber einen Satz von Bedingungen: Augenmaß, epistemologische Bescheidenheit, und die Bereitschaft, Verantwortung nicht zu delegieren. Wissenschaft und Politik müssen sich dort begegnen, wo beide ihre eigentliche Aufgabe haben: in der Verantwortung für das Gemeinwesen.

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