"Es ist ungeheuerlich, dass sich die Bundesregierung nach wie vor der Not derjenigen Schwerstkranken verweigert, die auf einem ordnungsgemäßen Rechtsweg ihr Selbstbestimmungsrecht bis zum Lebensende wahrnehmen wollen", empört sich Professor Robert Roßbruch, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS). Er bezieht sich auf die Stellungnahme der Bundesregierung vom 25. Mai dieses Jahres, in der eine Kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion zur Erlaubniserteilung des Erwerbs eines tödlich wirkenden Medikamentes zum Zweck der Selbsttötung beantwortet wird.
Allein in der Zeit vom 1. August 2019 bis zum 10. Mai 2020 waren 46 solcher Anträge beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eingegangen, die sich nach einem entsprechenden Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts vom März 2017 Hoffnungen auf eine berechtigte Ausnahmegenehmigung gemacht hatten.
"Zuerst gab es keine Antworten durch die zuständige Behörde, dann Hinhaltetaktiken, später langwierige Prüfungen der Einzelfälle und nur pauschal begründete ablehnende Bescheide. Jetzt wird das Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts, das Ende Februar dieses Jahres die Strafgesetzgebung zur Suizidhilfe für nichtig erklärt hatte, nicht auf diese Fälle angewandt, obwohl Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) immer wieder darauf verwiesen hat, dass er noch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu § 217 Strafgesetzbuch abwarten und dann entscheiden wolle. Auch dies entpuppt sich nun als reine Hinhaltetaktik", resümiert Roßbruch, der als Beschwerdeführer und Bevollmächtigter unter anderem von Uwe-Christian Arnold und Dr. med. Erika Preisig eine der sechs verhandelten Verfassungsbeschwerden eingereicht hatte.
"Die Aussage der Richter und Richterinnen des Bundesverfassungsgerichts, dass es zum Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen gehört, sich auch Hilfe bei einem freiverantwortlichen Suizid zu holen, ist doch glasklar." Doch anstatt sich mit der verfassungskonformen gesetzlichen Ausgestaltung von Lebensendberatungsangeboten zu befassen und die Anträge auf ein Medikament zur Selbsttötung zügig zu bearbeiten, spiele die amtierende Bundesregierung weiter auf Zeit. "Derweil versterben die Betroffenen – oftmals auf eine Art, die sie sich eben nicht gewünscht hatten, nur, weil ein selbstbestimmter humaner Abschied verunmöglicht wird", so der Vizepräsident der DGHS.
Die Bundesregierung, die weiter auf Zeit spielt, will nun in aller Ruhe erst die nächste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (zu Fragen des Betäubungsmittelgesetzes) abwarten, wissend, dass eine Entscheidung frühestens erst Anfang nächsten Jahres getroffen werden wird.
Die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) hatte unmittelbar nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gemeinsam mit DIGNITAS Deutschland eine ergebnisoffene Suizidversuchs-Präventionsberatung ins Leben gerufen. Dort werden vor dem Hintergrund der aktuellen Gesetzeslage Perspektiven am Lebensende aufgezeigt. Die Beratungsstelle Schluss.PUNKT ist unter Tel. 0800 / 80 22 400 werktags von 12–14 Uhr gebührenfrei erreichbar.
Bundesdrucksache 19/19411: "Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Katrin Helling-Plahr, Stephan Thomae, Renata Alt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP" – Sachstandsbericht: Anträge auf Erlaubniserteilung zum Erwerb eines letal wirkenden Medikamentes zur Selbsttötung seit August 2019
10 Kommentare
Kommentare
Bernd Kockrick am Permanenter Link
Wenn Minister oder Abgeordnete sich aus religiösen Gründen über höchstrichterlich bestätigte Grundrechte hinwegsetzen und es im Bundestag darüber keinen Aufschrei gibt, dann fühle ich mich in meiner Sorge bestätigt, d
Manfred Kammerer am Permanenter Link
... dem ist leider nichts hinzuzufügen. Schade.
A.S. am Permanenter Link
Der neue Präsident des Bundesverfassungsgerichts ist religionsnah. Da ist in Sachen Sterbehilfe nichts Gutes zu erwarten.
Aus Sicht unser gottgläubigen Regierung macht Zeitschinden Sinn.
Roland Weber am Permanenter Link
Das BVerfG sieht in Art.1 GG die Grundlage seiner weitreichenden Entscheidung. Die Würde des Menschen gibt jedem Menschen das Recht, über sein Leben eigenverantwortlich zu entscheiden.
Entgegen aller Rhetorik wurde zudem klargestellt, dass dieses Recht nicht allein auf Schwerstkranke beschränkt ist, sondern ein allgemeines Grundrecht ist. Dieser Aspekt sollte nicht außer Acht gelassen werden. Schon die beschränkende Einengung auf Schwerstkranke stellt im Kern eine Verkennung oder gar Missachtung der höchstrichterlichen Entscheidung dar.
Nicht umsonst wurde schon vor langer Zeit erkannt, dass nur eine Gewaltenteilung den Missbrauch von Macht beschränken kann. Eine Bundesregierung, Bundeskanzlerin oder gar ein einzelner Minister steht nicht "über" dem Bundesverfassungsgericht. Und wer sich zu demokratischen Grundwerten und der Verfassung bekennt, sollte sich danach richten. Den Staat geht es schlichtweg nichts an, wie ein Mensch seine Menschenwürde bewertet, warum und wie er damit umgeht. Der Staat hat auch über Hintertüren nichts "zu genehmigen", "zu gestatten" oder "zu verantworten", sondern er muss und darf sich aus dem Entscheidungsprozess eines eigenverantwortlichen Menschen und seine Umsetzung "herauszuhalten"!!!!!
Vielen ist gewiss zu empfehlen, sich intensiver mit der gerichtlichen Argumentation auseinander zu setzen!
Axel Stier am Permanenter Link
Mich erinnert das an das Mittelalter: Nach den Werten der Kirche klagen die Herrschenden an, als Ketzer oder Hexe o.ä, Strafe folgt als Gottesurteil, Verbrennen und andere Todesarten.
Respekt für die Kirche, die ihr Geschäftsmodell seit über 1500 Jahre erfolgreich durchführt.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Habe ich nicht schon damals, nach dem Urteil geschrieben, das sich nichts ändern wird, sobald der Vorsitz von Herrn Vosskuhle an den jetzigen Präsidenten des BVerfG übergegangen ist.
Cyril Kern am Permanenter Link
Unfassbar! Diese völlige Kontroverse, die hier statt findet!
G. Hantke am Permanenter Link
Das ist sicher ungeheuerlich – neu aber ist es nicht. Schon als der § 217 in die Welt gesetzt wurde, muß den Insidern die Verfassungswidrigkeit klar gewesen sein.
Wenn sich die Bundesregierung hier im Grunde als Verfassungsfeind präsentiert, käme nur das Volk als Kläger infrage. An der Wahlurne zum Beispiel. Aber so wichtig ist das Thema dann wohl doch nicht, wie schon die letzte Wahl bewiesen hat. Auch die DGHS verbleibt, bei aller Wertschätzung, in ihrem Dornröschenschlaf und sucht den Dialog. Mit den Kirchen. Und sucht und sucht.
Freiheitsrechte sind erkämpft worden und nicht vom Himmel gefallen, also von da schon gar nicht.
Die Menschen hätten längst auf die Straße gehört. Mit dem Rollator an die Grenze und mal anerkennend rüberwinken, nach Holland, Belgien und der Schweiz. Und dann ein kleiner Spaziergang entlang einer Bahnstrecke, in stillem Gedenken an die vielen Opfer dieser Politik.. Auch hätte man (und könnte es noch) zB mal eine Guillotine als demonstrativen Notbehelf zur Selbstbedienung an öffentlichkeitswirksamer Stelle errichten können. Und vieles mehr. Aber das ist wohl zu viel verlangt.
Leute wie Spahn gehörten angeklagt, wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit – vom Volke. Aber eher wird er wohl noch zum Kanzler gewählt – vom Volke, wenn auch indirekt.
Kathi am Permanenter Link
Dann hilft es nur, die christlich religiösen oder religiös infizierten Politiker abzuwählen. Dasselbe gilt für den Kirchenaustritt.
Resnikschek Karin am Permanenter Link
Als Krebspatientin (inoperabel), der die Chemotherapie jeden Elan und alle Kraft zum Leben nimmt) mit vielen anderen bes.
Natriumpentobarbital zu erhalten.
Ich hoffe, das passiert noch rechtzeitig, ehe mich irgendwelche sog. "Christen" ohne sinnvolles Ende endlos leiden lassen.
Karin Resnikschek, Tübingen/Ammerbuch