Kompromiss ohne AfD soll es richten

Suizidhilfe: Abgeordnete ringen um mehrheitsfähiges Gesetz

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Im Bundestag
Abstimmung im Bundestag

Gibt es Handlungsbedarf, dass der Staat Verfahrensregeln für die Hilfe zur Selbsttötung aufstellt? In einer parteiübergreifenden Initiative wollen es Abgeordnete demokratischer Parteien nicht länger beim Status Quo belassen. Anders als vor zwei Jahren soll nur ein einziger Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht werden.

Bei der Abstimmung im Bundestag am 6. Juli 2023 konnte keiner der konkurrierenden – jeweils fraktionsübergreifenden – Gesetzentwürfe eine Mehrheit auf sich vereinen. 2020 hatte das Bundesverfassungsgericht ein Grundrecht auf freiverantwortliche Selbsttötung formuliert. In seinem damaligen Urteil wurde nicht gefordert, aber ausdrücklich die Möglichkeit eingeräumt, dass ein diesbezügliches Prozedere gesetzlich konkretisiert wird. Insbesondere könne der Bundestag Prüfkriterien normieren, ob Suizidenten ihre Entscheidung freiwillensfähig sowie reiflich überlegt gefasst haben und über Alternativen hinreichend aufgeklärt worden sind. Zudem sei ihr Entschluss vor eventueller Fremdbeeinflussung oder Übereilung zu bewahren. Nach dem Scheitern des Gesetzgebungsverfahrens 2023 ist erst einmal nichts weiter passiert.

Zugang zur Suizidhilfe als Problem

Der somit eingetretene gesetzgeberische Stillstand wird unterschiedlich bewertet. Sogar unter Liberalen gibt es unterschiedliche Haltungen: Die einen bewerten das Urteil selbst als ausreichenden Rahmen, die anderen finden die Situation unbefriedigend, und zwar mit folgendem Argument: Ernsthafte Patientenwünsche nach Assistenz zur Selbsttötung seien häufiger und besser als bisher umsetzbar, wenn Ärztinnen und Ärzte in der Behandlungssituation dazu klare gesetzliche Regularien befolgen könnten. Zur Unterstützung sollten zudem staatlich finanzierte sozial-psychologische Beratungsstellen eingerichtet werden, um die selbstbestimmte Entscheidungsfindung von Rat- und Hilfesuchenden zu befördern.

Sterbehilfevereine, die Freitodbegleitung ausschließlich für ihre Mitglieder anbieten, halten eine gesetzliche Regelung für überflüssig oder gar schädlich – sie weisen auf verbandsinterne Sorgfaltskriterien hin. Diese hätten sich in der Praxis bewährt. Eine Grauzone gäbe es nicht, sichere Abläufe hätten sich gut eingespielt.

Die restriktive Gegenposition begründet einen angenommenen Handlungsbedarf genau umgekehrt: Es müssten zusätzliche Hürden eingebaut werden mit rechtlichen Konsequenzen bei Zuwiderhandeln. Vor allem vulnerable Menschen – das heißt besonders Schwache und Hilfsbedürftige – müssten vor geschäftsmäßig organisierter Suizidhilfe geschützt werden. Für sie werde der leichte Zugang zur immer normaler werdenden Möglichkeit, human aus dem Leben zu scheiden, zur Gefahr.

Aktuelle deutsche Rechtslage weitreichender als in anderen Ländern

Anders als in den Niederlanden (und wie in einigen anderen europäischen Ländern jetzt geplant) ist hierzulande die legale Suizidhilfe nicht nur für Menschen mit schwersten körperlichen Leiden und unheilbaren Krankheiten zugänglich. Vielmehr bezieht die deutsche Rechtslage etwa Lebenssattheit, Mehrfacherkrankungen und auch psychische Störungen mit ein – sofern diese die Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit nicht beeinträchtigen.

Die weltanschaulichen Positionierungen stehen sich kontrovers gegenüber. Der Zugang zur bei uns erlaubten Selbsttötungs-Hilfe bleibt jedoch in gewisser Weise privilegiert: Im Bedarfsfall muss man bereitwillige Ärzt:innen kennen oder längere Zeit vorher Mitglied in einem der Vereine geworden sein oder aber 8.000 Euro übrighaben, um die Dienste einer unlängst gegründeten (Sterbehilfe-)Gesellschaft mbH in Anspruch zu nehmen. (Näheres zu den inzwischen vier Organisationen siehe hier)

Plädoyers für ausgewogene Rechtslage

Mehrere Abgeordnete aus unterschiedlichen Fraktionen (außer AfD) haben sich nun in einer neuen Initiativgruppe zusammengefunden, um Anhänger:innen von bislang miteinander streitenden Grundhaltungen zusammenzuführen. So soll eine gesetzliche Regelung der Suizidassistenz diesmal gelingen. Das gab dem Tagesspiegel gegenüber Matthias Mieves bekannt, der stellvertretende gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, welcher der Gruppe angehört (nicht zu verwechseln mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Matthias Miersch).

Aller Voraussicht nach kann es keinen modifizierten Nachfolgetatbestand für den vom Bundesverfassungsgericht gekippten Strafrechtsparagrafen 217 geben. Auch Lars Castellucci (SPD), der 2023 federführend mit Ansgar Heveling (CDU) und Kirsten Kappert-Gonther (Grüne) einen solchen vorgelegt hatte, zeigt sich diesbezüglich belehrbar und einsichtig. In der Rheinischen Post vom 2. Juni hat Castellucci (inzwischen sozialdemokratischer Menschenrechtsbeauftragter) nun kompromissfähige Töne angeschlagen: "Wir müssen die Entscheidung von Menschen respektieren, die ihr Leben selbstbestimmt beenden wollen – aber gleichzeitig verhindern, dass Suizid als etwas Normales erscheint und dadurch verletzliche Menschen unter Druck geraten". Castellucci zeigt sich "überzeugt", dass der Gesetzgeber nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes eine "klare und ausgewogene Regelung" zum assistierten Suizid schaffen müsse.

Auch der Grünen-Abgeordnete Lukas Benner (er zählte in der vorigen Legislatur zu den zehn jüngsten Mitgliedern im Bundestag) gehört der kürzlich formierten Gruppe an und sagte dem Tagesspiegel: "Ich bin zuversichtlich, dass wir in dieser Legislatur zu einer mehrheitsfähigen Regelung kommen". Benner war maßgeblich beteiligt an dem liberal gehaltenen Antrag von Katrin Helling-Plahr (FDP), Renate Künast (Grüne) und Helge Lindh (SPD) in der letzten Legislatur. Er erklärte: "Der Handlungsdruck ist unverändert groß. Wir brauchen eine klare und ausgewogene Rechtsgrundlage, die die individuelle Selbstbestimmung und den Schutz des Lebens gleichermaßen umfasst." Demgegenüber begründet die Grünen-Gesundheitspolitikerin Kirsten Kappert-Gonther an gleicher Stelle ihre Mitwirkung in der Arbeitsgruppe wie folgt: "Wir wollen die Regulierung des assistierten Suizids wieder in Angriff nehmen, denn sie ist ein wichtiger Baustein der Suizidprävention."

Tiefe Gräben und Klärungsbedarfe

Es gehe ihr – Kappert-Gonther ist von Beruf Psychiaterin – vor allem um ein Schutzkonzept, das der missbräuchlichen Durchführung des assistierten Suizids vorbeuge. Sie hatte sich vor zwei Jahren dazu noch zusammen mit Castellucci und anderen für eine moderate Strafrechtsregelung stark gemacht, in der quasi eine psychiatrische Begutachtung als Regelfall vorgeschrieben war.

Der Rechtswissenschaftler Prof. Helmut Frister, der 2023 im Rechtsausschuss ausdrücklich den liberalen Gesetzentwurf unterstützt hatte, ist nichtsdestotrotz von der neuen Abgeordneteninitiative angetan: "Ich finde es grundsätzlich positiv und sinnvoll, dass sich der Bundestag um eine Regelung in der Suizidbeihilfe bemüht", wird er im Beitrag der Rheinischen Post zitiert. Frister zeigt sich überzeugt, dass es diesmal jedenfalls keine neue Regelung im Strafgesetzbuch geben könne und werde. "Diesen Verzicht begrüße ich sowohl in der Sache als auch deshalb, weil sich dadurch die Chancen für die Verabschiedung einer gesetzlichen Regelung erhöhen", sagte der Rechtswissenschaftler, der aktuell Vorsitzender des Deutschen Ethikrats ist.

Diesem Rat gehörte ehemals auch die Medizinethikerin Prof. Bettina Schöne-Seifert an. Wie Frister hatte auch Schöne-Seifert 2023 im Rechtsausschuss heftige Kritik am damaligen Gesetzentwurf der Gruppe um Castellucci und Kappert-Gonther geübt: Der sei "schon deshalb abzulehnen, weil er Suizidhilfe – zu generalpräventiven Zwecken – auch unter der Bedingung von Freiverantwortlichkeit (…) grundsätzlich mit der Keule des Strafrechts bedroht. Insbesondere für Ärzte liegt darin eine ethische Zumutung ersten Grades." Auf einer Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben im Februar dieses Jahres sprach sie sich für eine "sanfte" gesetzliche Regelung aus, um hoffentlich mehr Ärzte zu bewegen, bei Freitodbegleitungen ihrer Patienten mitzuwirken.

Fachliche und parlamentarische Hürden

In der Sache steht zur Debatte, ob und wann ärztliche Suizidhelfer:innen die Zweitmeinung eines Kollegen oder einer Kollegin einzuholen hätten (sogenanntes Vieraugenprinzip – zu dem unter Umständen Haus-, Fach- oder Palliativärzte, die ihren suizidwilligen Patienten gut kennen, nicht verpflichtet wären). Auch stellt sich die Frage, wer bei Hinweisen auf eine psychische Erkrankung die geforderte Freiwillensfähigkeit des Suizidwilligen zu prüfen hätte. Zudem spielt die Qualität der verpflichtenden Dokumentation eine Rolle und bei gegebenenfalls nicht-medizinischen Suizidgründen eine sozial-psychologische Beratung zu lebensorientierten Alternativen. Einige Kritiker:innen des Status Quo bemängeln es, wenn nur ein und derselbe Arzt zuständig ist: Vom Erstgespräch über medizinische Beratung, Begutachtung sowie Durchführung der Suizidhilfe bis zur Ausstellung des Totenscheins.

Das Gesetzgebungsverfahren müsste in dieser Legislaturperiode vollständig neu aufgerollt werden – auch wegen veränderter Mehrheitsverhältnisse im Parlament und der neuen Mitglieder. Abgeordnete müssten einzeln überzeugt werden, da der Fraktionszwang bei dem Gruppenantrag wieder aufgehoben sein wird. Es soll diesmal ein Scheitern wie vor zwei Jahren verhindert werden. Damals hatten von 590 Anwesenden die meisten Abgeordneten demokratischer Parteien (bei nur ganz wenigen Enthaltungen) entweder dem restriktiven oder dem liberalen Entwurf zugestimmt. Beide erhielten allerdings weniger Ja- als Nein-Stimmen und scheiterten somit. Wie das Abstimmungsergebnis zeigte, war es im Grunde die AfD-Fraktion, die letztlich beide Entwürfe zu Fall brachte. Denn sie, die in keine der Beratungen der interfraktionellen Initiativen eingebunden war, verweigerte sich blockartig beiden Gesetzentwürfen mit einem "Nein".

Nun will die neu zusammengekommene Gruppe gemeinsam – schwierig genug – einen einzigen überparteilichen Vorschlag für Regeln zur Suizidhilfe erarbeiten. Doch selbst wenn dies gelänge, blieben viele parlamentarische Unwägbarkeiten. Spekulativ könnte das heißen: Da wiederum wohl keine Fraktion mit der AfD zusammenarbeitet (die jetzt 151 von insgesamt 630 Abgeordneten stellt) und wenn diese sich wieder geschlossen verweigern würde, müssten von den restlichen 479 also mindestens 316 Abgeordnete für den Kompromiss-Entwurf stimmen. Die Annahme wäre nicht unrealistisch – allerdings nur unter der Voraussetzung, dass es keinen Gegenentwurf gibt.

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