Wenige Tage nach seiner Verurteilung in Essen hielt Dr. Johann F. Spittler, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, im oldenburgischen Kulturzentrum PFL vor etwa 90 Zuhörern einen Vortrag über seine Erfahrungen als ärztlicher Sterbehelfer und Gutachter. Organisator dieser Veranstaltung war der Arbeitskreis Selbstbestimmtes Sterben Oldenburg.
Der Vortragende (geb. 1942) war für die Organisationen DIGNITAS Deutschland, Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) wie auch den Verein Sterbehilfe tätig. Er erläuterte dem Publikum die Gründe, die ihn als Oberarzt in einer neurologischen Klinik zur Suizidhilfe bewegten. Es waren vor allem die menschlichen Schicksale, die ihn vor ethische Fragen stellten. Die Zuhörer erfuhren, wie Sterbehelfer vorgehen: von der Kontaktaufnahme des Freitodsuchenden über die Beurteilung der Einsichts- und Urteilsfähigkeit bis hin zur Suizidbegleitung.
2020 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass das 2015 beschlossene Verbot der geschäftsmäßigen (heißt: mehr als einmal durchgeführten) Sterbehilfe (§ 217 StGB) verfassungswidrig ist. Seitdem darf und wird wieder Suizidhilfe geleistet. Das Gericht stellte aber auch dar, dass vor allem die Freiverantwortlichkeit der Sterbehilfe-Suchenden klar ersichtlich sein muss.
Freiverantwortlich bedeutet, dass Einsichts- und Urteilsfähigkeit sowie eine eigene Willensbildung vorhanden sein müssen. Laut dem Urteil von 2020, mit dem der Paragraf 217 Strafgesetzbuch für nichtig erklärt wurde, ist ein Freitodwunsch, der sprunghaft erscheint, kein freier Wille. Gerade bei Symptomen wie Schmerz und Atemnot ist der Wunsch sterben zu wollen schnell gefasst. Wenn dann allerdings die Symptome gelindert werden, ist der Wunsch in den meisten Fällen nicht mehr vorhanden.
Der Sterbewunsch ist nur dann als freier Wille zu betrachten, wenn dieser dauerhaft vorhanden ist und somit innerlich gefestigt erscheint. Auch Druck von außen durch andere Personen, die zum Freitod drängen, kann die Willensfähigkeit negativ beeinflussen. In dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes wird darauf hingewiesen, dass bei akuten und somit vorübergehenden psychischen Störungen ein freiverantwortlicher Wille zu verneinen ist. Somit wird sichergestellt, dass Menschen mit einer depressiven Augenblicksstimmung vor überstürztem Handeln geschützt werden.
Laut Spittler gibt es allerdings psychische Leidenszustände, die seit langer Zeit bestehen und auf Dauer nicht zumutbar sind. Dabei haben diese Menschen mit ihrem Leiden und den therapeutischen Möglichkeiten viel Erfahrung sammeln können. Nicht nur der Vortragende vertritt die Ansicht, dass diesen Menschen das Recht auf Freitodhilfe nicht pauschal versagt werden darf.
Spittler: Lebensbeendigung durch eigenes Handeln bei allen Freitodsuchenden möglich
In Deutschland hat sich der intravenöse Zugang bei der Freitodbegleitung bewährt. Hierbei muss der Sterbewillige die Infusion selbst öffnen können. Würde der ärztliche Sterbehelfer die Infusion aufdrehen, wäre es eine aktive Sterbehilfe, die nach Paragraf 216 Strafgesetzbuch verboten ist und mit Freiheitsstrafe geahndet wird.
Laut Spittler ist bei allen Freitodsuchenden eine Lebensbeendigung durch eigenes Handeln möglich. Auch wenn eine Lähmung der Hände das Öffnen der Infusion unmöglich macht, gibt es andere Verfahren mittels derer der Sterbewillige sein Leben eigenständig beenden kann.
Der Arzt stellte dar, dass die Klienten eines ärztlichen Sterbehelfers sich erst nach reichlicher und eingehender Überlegung und nach Abwägung aller Alternativen für den assistierten Freitod entscheiden. Dieser Personenkreis ist nicht zu vergleichen mit dem Personenkreis der allgemeinen Suizide. Nach der statistischen Auswertung seiner eigenen psychiatrischen Gutachten von 2001 bis 2023 kommt er zu dem Schluss, dass dieser Kreis der Hilfesuchenden im Durchschnitt älter ist und der Frauenanteil mit 65 Prozent überwiegt. Bei den allgemeinen Suiziden überwiegt hingegen deutlich der Männeranteil.
Nach seinen Ergebnissen besteht bei 96 Prozent seiner Klienten eine Urteils- und Entscheidungsfähigkeit. Somit widersprechen seine Ergebnisse der Meinung vieler Kritiker der Freitodhilfe, dass der Wunsch nach Suizid immer Ausdruck einer akuten und somit vorübergehenden psychischen Störung sei.
Ein häufiges Argument der Sterbehilfegegner ist, dass Palliativmedizin und das Hospizwesen ausgebaut werden müssten und die Notwendigkeit der Sterbehilfe dann nicht mehr gegeben sei. Spittler verdeutlichte anhand seiner statistischen Auswertungen, dass bei 70 Prozent derjenigen, die sich an ihn wegen eines Sterbewunsches wendeten, keine medizinische Indikation für palliative Medizin und Hospiz gegeben war. Für den mittelalten Querschnittsgelähmten, der nicht sterbenskrank ist und den chronisch psychisch Leidenden ohne Behandlungserfolg stellen Palliativmedizin und Hospiz bei einem Sterbewunsch keine mögliche Alternative dar. Somit hat auch die Suizidhilfe als weitere Säule neben der Palliativmedizin ihre Berechtigung.
Dass Sterbehilfe in Deutschland praktiziert wird, ist den meisten nicht bewusst
Das Interesse der Zuhörer war sehr groß. Im Anschluss an den Vortrag gab es sehr viele Wortmeldungen. So kam auch zum Ausdruck, dass es den meisten Menschen einfach nicht bewusst ist, dass Freitodhilfe in Deutschland praktiziert wird. Die meisten Bürger meinen, dass man in die Schweiz oder in die Beneluxländer reisen müsse, um Sterbehilfe erhalten zu können. Es ist ersichtlich, dass es noch großen Aufklärungsbedarf für die Bevölkerung gibt. Spittler verwies auf die drei in Deutschland praktizierenden Sterbehilfe- beziehungsweise Patientenschutz-Organisationen. Es wurden Fragen zum Thema Demenz und geistige Einschränkungen bei neurologischen Erkrankungen wie zum Beispiel nach einem Schlaganfall gestellt. Der Vortragende verwies auf die Ausführungen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 2020, dass Freitodhilfe nur möglich ist, wenn ein freiverantwortlicher Wille erkennbar ist. Am Anfang einer Demenz kann noch ein freier Wille ersichtlich sein. Bei fortgeschrittener Demenz ist eine Freitodassistenz nicht mehr möglich.
Während viele in der Sterbehilfe Tätige der Meinung sind, dass Gutachten und Suizidhilfe voneinander getrennt werden müssten, hat Spittler es in seiner Tätigkeit als ärztlicher Freitodhelfer anders gehandhabt. In seiner psychiatrischen Tätigkeit führte er Gutachten durch zur Feststellung der Urteils- und Willensfähigkeit. Es war vor allem das zu den Patienten aufgebaute Vertrauensverhältnis, das ihn veranlasste, diesen Menschen auch zum Schluss bei der Lebensbeendigung beizustehen.
Auf der Veranstaltung wurde auch thematisiert, dass der Neurologe und Psychiater am 1. Februar wegen Totschlags verurteilt wurde, weil er einem psychisch Kranken 2020 beim Freitod geholfen hatte. Spittler hatte mehrere persönliche Gespräche mit dem Hilfesuchenden geführt und kam in seinem psychiatrischen Gutachten zu dem Schluss, dass der Wille des Betroffenen freiverantwortlich sei. Der psychiatrische Gutachter der Staatsanwaltschaft kam in der Beurteilung der Freiverantwortlichkeit des Sterbewilligen zu einem anderen Ergebnis. Dieser Gutachter hat den Verstorbenen jedoch nie kennengelernt und konnte somit nur nach Aktenlage bewerten. Der Verurteilte will in Revision gehen.