Erster NSU-Mord vor 20 Jahren

"Das war eines Rechtsstaates unwürdig"

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Gedenktafel für die Opfer der NSU-Gewalttaten in Nürnberg.

Heute vor 20 Jahren wurde Enver Şimşek ermordet. Er war das erste Opfer einer Mordserie des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU). Die Ermittler versteiften sich so sehr auf die Hypothese, dass hinter der Serie eine "Türken-Mafia" steht, dass sie rechtsradikalen Terror nicht einmal in Erwägung zogen.

Der 9. September 2000 ist ein lauer Spätsommertag, der letzte Feriensamstag in Bayern. Gewöhnlich liefert der 38-jährige türkische Blumengroßhändler Enver Şimşek nur Ware aus. Aber da einer seiner Verkäufer Urlaub hat, betreut Şimşek den mobilen Blumenstand an der Liegnitzer Straße in Nürnberg an diesem Tag selbst. Gegen Mittag ist Şimşek in seinem Transporter, als sich ihm an der stark befahrenen Ausfallstraße zwei junge Männer in Radlerkleidung nähern. Die Männer feuern acht Schüsse auf Enver Şimşek ab. Sie schließen die Tür des Transporters und entfernen sich vom Tatort. Erst nach Stunden wird Şimşek entdeckt. Er stirbt zwei Tage später im Krankenhaus, ohne das Bewusstsein wiederzuerlangen.

Die Kriminalpolizei konzentriert sich schnell auf die Ermittlungshypothese, dass Şimşek von "einem seiner Landsleute" umgebracht wurde, und hält es für wahrscheinlich, dass er mit einer Drogen-Mafia im Bunde war. Außerdem gerät die Familie des Opfers ins Visier der Ermittler. Man vermutet Motive wie Eifersucht oder Habgier.

Acht Monate nach dem Tod von Enver Şimşek geschieht in Nürnberg ein weiterer Mord. In einer Änderungsschneiderei stirbt der 49-jährige Abdurrahim Özüdoğru durch zwei Kopfschüsse. 14 Tage später wird in Hamburg der 31-jährige Obst- und Gemüsehändler Süleyman Taşköprü erschossen. Auffällig ist, dass eine der Waffen, aus der die tödlichen Kugeln abgefeuert wurden, dieselbe ist, mit der auch Enver Şimşek ermordet wurde. Eine Česka, Modell 83, Kaliber 7,65 mm.

Und die deutschlandweite Mordserie mit dieser Česka reißt nicht ab. Die Opfer sind stets Kleinunternehmer mit Migrationshintergrund. Für die Polizei ein eindeutiger Hinweis, dass man es tatsächlich mit einer "Türken-Mafia" zu tun hat. Die Sonderkommissionen tragen Namen, die für sich sprechen: "SOKO Halbmond" und "SOKO Bosporus". Und auch die Presse etikettiert die Verbrechen entsprechend mit dem unsäglichen Begriff "Döner-Morde", da zwei der Mordopfer im Schnellimbiss arbeiteten. An der Aufklärung der Mordserie arbeiten im Jahr 2005 – also fünf Jahre nach dem ersten Mord – bereits über 100 Beamte der Kriminalpolizei in ganz Deutschland. Erfolglos.

Da sich die Ermittler auf die Hypothese versteift haben, dass hinter den Morden eine türkische Drogen-Mafia steckt, sind sie blind für mögliche andere Motive. Und wohl auch dafür, dass an mehreren Tatorten zwei junge Männer mit Fahrrädern beobachtet wurden. Die beiden gehören zum rechtsradikalen "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU), der sich wahrscheinlich Ende der 1990er Jahre in Thüringen gegründet hat. Seine zentralen Mitglieder: Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. Die Untergrundorganisation finanziert sich höchstwahrscheinlich mit Raubüberfällen auf Banken und Supermärkte, die Mundlos und Böhnhardt begehen. Nach den Überfällen flüchten die Täter stets mit Fahrrädern.

Auch am Morgen des 4. November 2011 sind Mundlos und Böhnhardt mit ihren Fahrrädern unterwegs. Sie überfallen eine Bank in Eisenach. Mit den Rädern fliehen sie zu einem Wohnmobil, das sie kurz zuvor angemietet haben. Als sie von der Polizei entdeckt werden, zünden die beiden das Wohnmobil an und erschießen sich. Am Nachmittag desselben Tages gibt es in der Frühlingsstraße 26 in Zwickau eine Explosion. Die Wohnung, in der Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt zusammen gewohnt hatten, geht in Flammen auf. Vier Tage später stellt sich Beate Zschäpe der Polizei. In den verbrannten Überresten von Wohnung und Wohnmobil finden Ermittler die Waffe, mit der Enver Şimşek und die anderen acht Opfer der Mordserie getötet worden waren. Außerdem ein Bekennervideo, in dem das NSU-Trio nicht nur zugibt, die Česka-Mordserie verübt zu haben, sondern auch weitere Verbrechen wie den Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße 2004. Das Motiv: Ausländerhass.

Persönliches Fehlverhalten und strukturelles Versagen der Behörden

Die Politik zeigt sich zerknirscht. Man entschuldigt sich für die fälschliche Kriminalisierung der Opfer und ihrer Angehörigen und richtet umgehend NSU-Untersuchungsausschüsse auf Landes- und Bundesebene ein. Ihre Aufgabe: Die Klärung jener Frage, die sich nun die ganze Welt stellt. Wie konnte es trotz des massiven kriminalistischen Aufgebots bei der Česka-Mordserie und der Überwachung der rechten Szene durch den Verfassungsschutz dazu kommen, dass der NSU über so viele Jahre unentdeckt in Deutschland morden konnte?

"Man hat sich erst die Scheuklappen aufgesetzt, sich versteift auf eine Hypothese, es müsse sich um organisierte Kriminalität handeln, und dann hat man die Ermittlungsarbeit aufgenommen. Das war eines Rechtsstaates unwürdig", so formulierte es der Leiter des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag, Sebastian Edathy. Aber Schuld an dem Debakel sind nicht allein die Scheuklappen der Kriminalpolizei. Der rund 1.000 Seiten starke Abschlussbericht des Ausschusses deckt auf ganzer Linie katastrophale Missstände auf. Neben persönlichem Fehlverhalten vor allem ein strukturelles Versagen der Behörden: Man arbeitete aneinander vorbei, Informationen wurden nicht an relevante Stellen weitergegeben, wichtige Akten wurden geschreddert oder verschwanden und Asservate wurden vernichtet.

Auch der Verfassungsschutz bekleckerte sich nicht gerade mit Ruhm. Man war zwar darüber informiert, dass es in der Neonazi-Szene eine Diskussion über das Errichten von kleinen Zellen oder den Einsatz von Einzeltätern gab, zog aus diesen Informationen jedoch nicht die richtigen Schlüsse. Die Existenz von rechtem Terrorismus wurde verneint. Überhaupt war der Blick der Sicherheitsbehörden zu jener Zeit auf eine ganz andere Bedrohung fokussiert, den Islamismus. Angesichts der Häufung von Ermittlungsfehlern rund um die NSU-Verbrechen wurde deshalb vielfach der Verdacht geäußert, die Ermittlungsbehörden seien nicht neutral gewesen – oder im schlimmsten Fall sogar unterwandert von Sympathisanten der rechten Szene. Konkrete Beweise konnten hierfür jedoch nicht gefunden werden.

Vom Mai 2013 bis Juli 2018 musste sich das letzte noch lebende Mitglied des NSU-Kerntrios, Beate Zschäpe, vor dem Oberlandesgericht München verantworten. Sie erhielt eine lebenslange Freiheitsstrafe. Einige mitangeklagte Unterstützer des NSU wurden zu Freiheitsstrafen zwischen zwei und zehn Jahren verurteilt. Dass mit ihnen sämtliche Unterstützer des rechtsradikalen Netzwerks bestraft werden konnten, wird bezweifelt.

Radikalisierungsbereite Strukturen und Personen im rechten Milieu gibt es in Deutschland auch weiterhin. Auch rechten Terror. 2016 erschoss ein Attentäter in München aus rassistischen Gründen neun Menschen, 2019 wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke erschossen, weil er sich für die Aufnahme von Geflüchteten eingesetzt hatte, kurz darauf tötete ein Rechtsextremist in Halle zwei Menschen bei dem Versuch, in eine Synagoge einzudringen, und in Hanau folgte 2020 schließlich ein Anschlag, der zehn Menschen das Leben kostete.

Ob die Sicherheitsbehörden zukünftig möglichen Anschlägen und Mordserien aus dem rechten Milieu zuvorkommen können, ist fraglich. Umso mehr als weiterhin zu klären ist, inwieweit Sympathisanten aus den eigenen Reihen mit diesen Kreisen in Verbindung stehen. Die Abfrage persönlicher Daten von Polizeicomputern in Zusammenhang mit der jüngsten Serie von mit "NSU 2.0" unterzeichneten Drohbriefen an linke Prominente mit und ohne Migrationshintergrund weist jedenfalls darauf hin, dass die Sicherheitsbehörden auch in den eigenen Reihen noch einiges an Arbeit zu leisten haben.

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