Kommentar

Ein weiterer Schritt zur religiösen Durchweichung der Gesellschaft

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'Heiliges' scheint einigen Universitäten wichtiger zu sein als die Lehre.

Eigentlich sollte die Ruhr-Universität Bochum ein Ort der Wissenschaft sein. Doch momentan scheint man dort eher die Religion wichtig zu nehmen. Laut Beschluss des Senats sollen an Feiertagen der verschiedensten Religionen keine Prüfungen mehr stattfinden. Ein Kommentar von hpd-Redakteurin Daniela Wakonigg.

Wir schreiben das Jahr 2020. Eine Universität mit über 40.000 Studierenden beschließt, Prüfungen nicht mehr an religiösen Feiertagen durchzuführen. Diese Universität steht nicht etwa in einem Scharia-Staat. Auch nicht in einem der besonders christlich-fundamentalistischen Landstriche der USA. Nein, sie steht mitten in Deutschland: Die Ruhr-Universität Bochum (RUB) will künftig Prüfungstermine so festlegen, dass sie "nicht mit religiösem Arbeitsverbot oder hohen Feiertagen kollidieren" – und zwar nicht nur mit christlichen, sondern auch mit jüdischen, muslimischen und so weiter, denn der Beschluss, so eine Pressemitteilung der RUB, gelte für alle Religionsgemeinschaften.

Zur Erinnerung: Seit Jahrzehnten sinkt in Deutschland der Anteil religiöser Menschen an der Gesamtbevölkerung rasant. Betroffen vom Mitgliederschwund sind bekanntlich besonders die beiden christlichen Großkirchen, die im Vorjahr erneut Rekord-Austrittszahlen verzeichneten und deren Mitglieder Ende 2019 nur mehr 52 Prozent der Bevölkerung stellten. Vor 30 Jahren (1990) waren es noch 72,3 Prozent. Dass ein Ende dieses Trends nicht in Sicht ist, machte im vergangenen Jahr eine Prognose von Wissenschaftlern des "Forschungszentrums Generationenverträge" an der Universität Freiburg klar, nach der sich bis zum Jahr 2060 die Mitgliedszahlen beider christlichen Großkirchen in Deutschland voraussichtlich nochmals halbieren werden.

Auch die Anzahl der Mitglieder jüdischer Gemeinden hat sich – nach einem Anstieg kurz nach der Jahrtausendwende – in den vergangenen 15 Jahren in Deutschland um zwölf Prozent verringert. Moderat gestiegen ist lediglich die Zahl der Muslime in Deutschland. 1990 betrug der Anteil von Muslimen an der gesamtdeutschen Bevölkerung 3,7 Prozent, 2018 5,1 Prozent. Nichts jedoch im Vergleich zu der einzigen Bevölkerungsgruppe, die sich wirklich massiver Zuwächse erfreuen kann: die Konfessionslosen. Ihr Anteil an der Bevölkerung erhöhte sich von 22,4 Prozent im Jahr 1990 auf 37,8 Prozent im Jahr 2018.

Doch nicht nur die Mitgliedszahlen sinken. Selbst diejenigen, die in den Statistiken offiziell als Mitglied einer Religionsgemeinschaft geführt werden, haben mit ihrer Religion oft nur wenig am Hut. So besuchen beispielsweise nur knapp 10 Prozent der Katholiken in Deutschland Gottesdienste. In der evangelischen Kirche liegt die Kirchgangquote der Mitglieder noch darunter. Selbst eher religionsfreundliche Untersuchungen sehen den Anteil von praktizierenden Christen an der Gesamtbevölkerung bei nur 13,4 Prozent (2016). Mit anderen Worten: Die meisten Christen sind bloß Taufscheinchristen.

Ein ähnliches Phänomen gibt es bei Muslimen. Schätzungen gehen davon aus, dass rund 20 bis 30 Prozent der in den Statistiken deutschsprachiger Länder geführten Muslime sogenannte "Kultur-Muslime" sind, die im Islam lediglich einen Teil ihrer Herkunfts-Kultur sehen, selbst jedoch nicht oder kaum gläubig sind. Auch unter Juden scheint "Judentum" mehr und mehr zur kulturellen Identität zu werden und immer weniger als Religion Bedeutung zu haben. Jedenfalls in Israel. In dem Land, in dem die Bevölkerung zu drei Vierteln jüdisch ist, betrachten sich 65 Prozent der Menschen als nicht religiös oder als überzeugte Atheisten, nur 30 Prozent beschreiben sich als religiös.

Obwohl die gesellschaftliche Relevanz von Religion also mehr und mehr schwindet, gelingt es ihr gleichzeitig auf erstaunliche Weise, in immer mehr Bereichen einen Sonderstatus zu erlangen. Jüngstes Beispiel hierfür ist die vor Kurzem einstimmig getroffene Entscheidung des Senats der Ruhr-Universität Bochum. Nach eigener Aussage als erste Universität in Deutschland hat die RUB beschlossen, dass keine Prüfungen mehr an religiösen Feiertagen stattfinden sollen.

"Damit verpflichtet sich die RUB, künftig Prüfungstermine so festzulegen, dass sie nicht mit religiösem Arbeitsverbot oder hohen Feiertagen kollidieren. Sollte dies dennoch nicht vermeidbar sein, muss es einen zeitnahen Ersatztermin für die Betroffenen geben", heißt es in einer Pressemitteilung der Universität. Eine Verschiebung um maximal vier Monate ist nach dem Beschluss des Senats zulässig. Bei eng getakteten Studiengängen ein komfortables Zeitgeschenk für religiöse Studierende. Initiatorin der Resolution ist Senatorin Prof. Dr. Isolde Karle, Professorin für evangelische Theologie sowie Universitätspredigerin der RUB.

"Alle Bekenntnisse und Religionsgemeinschaften sind in den Beschluss grundsätzlich einzuschließen", ist in der verabschiedeten Resolution zu lesen, relevant werde er aber wohl vor allem für orthodoxe Jüdinnen und Juden aufgrund des Schreibverbots am Sabbat. Ohne hierauf direkt Bezug zu nehmen, setzt die RUB damit eine Forderung der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschlands um, die sich im vergangenen Jahr darüber beschwert hatte, dass der Termin der jährlichen Prüfung für medizinische Studiengänge jeweils an einem Samstag (Sabbat) stattfindet, was einer Diskriminierung jüdischer Bewerber gleichkäme. Muslime würden zwar keine so strikten Verbote wie Juden kennen, "freuen sich aber natürlich, wenn man auf sie im Hinblick auf das Ramadanfest oder Opferfest Rücksicht nimmt", so Prof. Karle.

Ob diese Regelung tatsächlich für alle Religionen gilt, wie die RUB betont, wird sich spätestens zeigen, wenn prüfungsgestresste Studierende zu exotischen Kulten mit einer Vielzahl von Feiertagen konvertieren. Für humanistische Weltanschauungsgemeinschaften, die nach Recht und Gesetz als Weltanschauungsgemeinschaften den Religionsgemeinschaften gleichzustellen sind, gilt die neue Regelung jedenfalls "eher nicht". Dies erklärte Prof. Karle auf die Nachfrage von humanistisch.net, ob humanistische Studierende an hohen Feiertagen wie etwa dem World Humanist Day am 21. Juni, dem Tag der Menschenrechte am 10. Dezember oder dem Internationalen Frauentag am 8. März eine Prüfungsverschiebung beantragen könnten. Relevant sei lediglich eine verpflichtende unaufschiebbare Ausübung der eigenen Religion, insofern sie im Widerspruch zu universitären Verpflichtungen stehe.

Die RUB begründet ihre Entscheidung mit einer "ungestörten Religionsausübung (Grundgesetz 4 (2)) sowie unserer besonderen historischen Verantwortung dem Judentum und anderen verfolgten Religionsgemeinschaften gegenüber" und "bekennt sich (…) nachdrücklich zu einer durch religiöse Toleranz und Rücksichtnahme auf die religiösen Belange aller Glaubensgemeinschaften geprägten Kultur des universitären Miteinanders".

Das hört sich fantastisch an, ist es jedoch nicht. Vielmehr bereiten Entscheidungen wie diese den Boden für eine fatale religiöse Durchweichung der Gesellschaft. Besonders erschreckend ist hierbei, dass als Maßstab solcher Entscheidungen ausgerechnet die streng gläubigen Angehörigen einer Religion herangezogen werden, nicht die moderaten. Dabei ist – ohne hierzu Statistiken im Ärmel zu haben – stark zu vermuten, dass es mindestens ebenso viele moderne und moderate jüdische Studierende gibt, die am Sabbat mit ihren Kumpels Ausflüge machen, wie es katholische Studierende gibt, die vor der Ehe Sex haben – obwohl beides laut der jeweiligen Religionslehre verboten ist.    

Die Ruhr-Universität Bochum sieht sich mit ihrer Entscheidung als bundesweites Vorbild. Das ist sie sicherlich – allerdings ein negatives Vorbild. Ein solches Anbiedern bei religiösen Hardlinern sollte in einer zunehmend nicht-religiösen Gesellschaft und an einem Ort der Wissenschaft definitiv ein No-Go sein.

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