Vergangenen Donnerstag wurde in München ein neues Missbrauchsgutachten für die dortige Diözese vorgestellt, kritisch begleitet von einer Aktion des Aktionsbündnisses Betroffeneninitiativen gemeinsam mit der Giordano-Bruno-Stiftung und kirchlichen Reformbündnissen.
Der amtierende Erzbischof Kardinal Reinhard Marx hatte es vorgezogen, der Einladung zur Pressekonferenz zur Vorstellung des Missbrauchsgutachtens am Donnerstag nicht zu folgen. Er meldete sich stattdessen mit einem kurzen Statement am Nachmittag aus der ehemaligen Karmeliterkirche zu Wort. Er sei "erschüttert und beschämt". Er fühle sich als Erzbischof "mitverantwortlich für die Institution Kirche in den letzten Jahrzehnten". Im Namen der Erzdiözese bat er um Entschuldigung. Allerdings sprach er nur abstrakt und nicht in der "Ich"-Form, als er das "Wegsehen von Verantwortlichen" thematisierte; Marx selbst werden im Gutachten zwei Fälle von Fehlverhalten vorgeworfen. Die Perspektive der Betroffenen solle jetzt im Mittelpunkt stehen, gab der Kardinal als Ausblick.
David Farago, der während der Vorstellung des Gutachtens zusammen mit Vertretern von Betroffenenorganisationen vor dem "Haus der Bayerischen Wirtschaft" demonstriert hatte, wo die Pressekonferenz stattfand, hatte für den Nachmittag eine Spontandemonstration vor der ehemaligen Karmeliterkirche angemeldet, während drinnen der Münchner Oberhirte seine Stellungnahme verlas. Dem hpd sagte Farago zur Gutachtensvorstellung: "Das waren klare Worte zum Systemversagen hoher Geistlicher. Ratzinger wurde der Lüge überführt und es wurde aufgezeigt, wie ein Bauernopfer genötigt wurde für sein Fehlverhalten die Verantwortung zu übernehmen. Jetzt ist offensichtlich, warum das Erzbistum Köln das Gutachten der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl nicht veröffentlicht hat, weil dort wohl keine so klaren Worte gehört werden wollten."
Jens Windel von der Betroffeneninitiative Hildesheim ist gespannt, wie sich die Politik weiter zum Münchner Gutachten äußern wird, nachdem nun der "Super-GAU" bekannt sei, dass die Vertuschung bis in den Vatikan reichte. Dass auch dort nicht die Wahrheit gesagt wird zeige, dass die katholische Kirche noch immer nicht ehrlich mit dem Missbrauch umgehe. Er hob positiv hervor, dass die Gutachten der Bistümer wichtig für die Betroffenen seien, damit endlich Klarheit herrsche, aber man brauche keine weiteren mehr. Große Zuversicht gegenüber den aktuellen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen habe er nicht. Daher müssten sich die Politiker mehr für die Betroffenen einsetzen. Bisher werde alles ehrenamtlich von den Betroffeneninitiativen geleistet, sie seien die unabhängigen Ansprechpartner, die Hilfe anböten und vermittelten, dies müsse honoriert werden.
Risikofaktor kirchliche Sexualmoral
Am Tag vor der Gutachten-Vorstellung hatte die Demonstration rund um den "Hängemattenbischof" bereits auf dem Marienplatz auf ihre Forderungen hingewiesen. Mit Reden am Nachmittag meldeten sich Vertreter verschiedenster Verbände zu Wort. So etwa Renate Spannig von der Ortsgruppe München der katholischen Frauenreformbewegung Maria 2.0 und eine Vertreterin der Initiative Sauerteig. Diese sagte in ihrem Beitrag: "Es ist wirklich an der Zeit, dass die Kirche sich der Frage stellt: Geht es um Macht der Hierarchie oder um ein missbrauchtes Kind (…)?" Agnes Wich von der Betroffeneninitiative Süddeutschland wurde selbst Opfer sexualisierter Gewalt durch einen Kleriker: "Der Priester, der mich als neunjähriges Kind missbrauchte, wurde niemals rechtskräftig verurteilt. Er wurde geschützt von seinen Vorgesetzten, seiner Institution – wie so viele Täter in dieser Kirche. Ich als Kind wurde nicht geschützt – wie so viele Kinder an diesem Ort, die er sich immer wieder als Beute in sein Haus holte. Das war bekannt und jeder im Ort wusste es – aber niemand wollte es wissen." Und sie stellte klar: "Wer wegsieht, macht sich schuldig. Wer vertuscht, macht sich schuldig. Wer Täter schützt, macht sich schuldig." Sie schloss mit einem Appell: "Nehmt den Kirchen die Aufarbeitung aus der Hand! Schützt die Kinder!"
Dr. Dr. Wolfgang Rothe, Seelsorger im Erzbistum München und Freising ("als Priester bin ich (…) Teil der Täterorganisation"), verlangt eine grundsätzliche Veränderung: "Personen sind austauschbar. Aber das System Kirche muss sich erneuern. Insbesondere die Sexualmoral der Kirche, die immer wieder als Risikofaktor für sexuellen Missbrauch benannt wird." Susanne Schneider von den Ordensfrauen für Menschenwürde erinnerte daran, dass auch viele Ordensfrauen weltweit sexuellen und spirituellen Missbrauch erleben. Christian Meister von Wir sind Kirche forderte Joseph Ratzinger auf, zu seiner Verantwortung als ehemaliger Erzbischof von München und Freising zu stehen. David Farago von der Giordano-Bruno-Stiftung hielt fest: "Wer sich das Monopol von Moral und Ethik auf die Fahnen schreibt (…), dabei aber Unrecht aufrechterhält, der hat den Anspruch auf seine Sonderstellung verloren."
"Querdenker" schwurbelten dazwischen
Am Morgen des ersten Tages hatte die Polizei die Demonstranten aufgefordert, am Abend den Platz zu wechseln, um einem "Querdenker"-Spaziergang Platz zu machen. Nachdem sich der erfahrene Versammlungsleiter David Farago mit anwaltlicher Hilfe erfolgreich dagegen zur Wehr gesetzt hatte, fluteten ab 18 Uhr einige tausend "Spaziergänger", flankiert von 1.000 Polizisten, die Innenstadt und machten eine weitere Demonstration unmöglich, denn "statt mit Passanten ins Gespräch zu kommen, wurden wir angeschwurbelt, von der bevorstehenden Weltherrschaft bis 'habt ihr euch auch schon vergiften lassen?' war alles dabei" (Farago); die Aktivisten entschieden sich daher, früher abzubauen.
Tagespost giftet gegen Zusammenarbeit zwischen kirchlichen Verbänden und der gbs
Dass religionskritische und christliche Gruppen gemeinsam demonstrierten, um sich im Schulterschluss öffentlich für die Betroffenen sexueller Gewalt in der Kirche und gegen die jahrelang vorherrschende Vertuschungspraxis zu positionieren, wurde nicht überall positiv wahrgenommen. Die katholische Tagespost giftete:
"Dass es der Giordano-Bruno-Stiftung bei all dem nicht um ein Prosperieren der Kirche geht, sondern um das Gegenteil, nämlich die Zunahme eines atheistisch-materialistischen Weltbilds, liegt auf der Hand. Doch dadurch, dass sich 'Maria 2.0' und die Initiative 'Wir sind Kirche' mit einer atheistischen Stiftung vereinen, entlarven sie endgültig, wessen Geistes Kind sie sind. Gruppen, die für ihr Anliegen so weit gehen, kann das Wohl der Kirche nicht am Herzen liegen."
Doch so leicht lässt man sich bei Maria 2.0 nicht beeindrucken. Eine Vertreterin der Reformbewegung reagierte gelassen gegenüber gbs-Angehörigen: "Wir lassen uns nicht entzweien – bei dem Thema Missbrauch und Einsatz für soziale Gerechtigkeit stehen wir zusammen ein. (…) Ich mache tausendmal lieber was mit Euch zusammen als mit diesen Vertuschern in der katholischen Amtskirche."