Bei allem anderen: Zumindest die Pandemie scheint für viele vorbei zu sein, es locken Freiheit und Frühling. Doch eine Normalität wie vor Corona ist unrealistisch. Was bedeutet das Leben mit Sars-CoV-2 und seinen Varianten für uns alle? Fragt sich die Kolumnistin und Ärztin Natalie Grams-Nobmann.
Der schreckliche Krieg drängt Corona verständlicherweise an den Rand der Wahrnehmung. Immerhin, in puncto Pandemie gibt es Anlass für ein wenig Hoffnung, obwohl die Infektionszahlen derzeit nach wie vor hoch sind: Die 7-Tages-Inzidenz ist leicht rückläufig, während ich diese Kolumne schreibe (seit einigen Tagen steigt sie mittlerweile wieder, Anm. d. Red.). Bewertet wird das alles sehr unterschiedlich: "Freiheit!" rufen die einen, "Vorsicht!" die anderen.
Ein genauer Blick auf die Lage lohnt sich also gerade jetzt. Die aktuelle Omikron-Welle ist eigentlich zwei Wellen, ausgelöst durch die Untervarianten BA.1 und BA.2, wobei es BA.3 übrigens auch noch gibt. Bei uns rollte die Welle von BA.1 etwas früher los als die von BA.2; Letztere sollte Modellierungen zufolge erst Ende Februar ihren Höhepunkt erreicht haben. Ungefähr fünf Millionen Menschen sind laut Meldedaten seit Beginn der Omikron-Welle an Covid-19 erkrankt.
Und etwa genauso viele werden sich in den nächsten Wochen erst infizieren – selbst wenn wir den Höhepunkt der Welle überschritten haben und die Fallzahlen so schnell sinken, wie sie gestiegen sind. Aktuell legen Daten nahe, dass die BA.2-Variante noch etwas ansteckender sein könnte als BA.1. Ein "Anlass zur Sorge", sagt auch der STIKO-Vorsitzende Thomas Mertens. Denn eine stärker ansteckende BA.2-Variante könnte die Welle verlängern und noch mehr Menschen infizieren. So schnell raus kommen wir da also nicht.
Der weitere Pandemieverlauf lässt sich schwer vorhersagen, auch wegen der neuen Varianten. Wir wissen derzeit nicht, wie stark die "Kreuzimmunität" zwischen BA.1 und BA.2 ist: Kann man sich nach einer Infektion schon bald mit der anderen Variante erneut anstecken? Unberechenbar ist zudem das Verhalten der Bevölkerung: Was tun die Menschen, wenn nun mehr und mehr Öffnungen in Sicht sind? Dabei kommt es gar nicht so sehr darauf an, was genau erlaubt wird oder eingeschränkt bleibt. Entscheidend scheint zu sein, wie das Signal einer Öffnung verstanden wird: Bleiben alle oder zumindest die meisten weiter vorsichtig? Oder meinen viele, vielleicht sogar alle dann "Juhu, Pandemie vorbei! Lass uns wieder alles machen wie früher!"?
Wir haben es weitgehend selbst in der Hand, wir haben die viel beschworene Eigenverantwortung. Dabei sollte klar sein, dass uns das Virus mit seinen Varianten nicht wieder verlassen wird. "Gehen Sie zurück auf Start und ziehen Sie die komplette Covid-Freiheit ein"? Das wird es nicht geben. Klar, alle sehnen sich nach Normalität, doch es wird eine andere Normalität sein als früher, und sie zwingt uns zu schweren Entscheidungen. Wie hoch darf der Preis eines neuen Normals sein? Welchen Einfluss wird der Krieg haben? In der Ukraine sind die Impfquoten aus verschiedenen Gründen bedenklich niedrig, und das nicht nur gegen Corona, sondern zum Beispiel auch gegen die Masern. Politische und militärische Konflikte verschärfen immer die Probleme des Infektionsschutzes!
Vor allem für Ungeimpfte ist ein starkes Infektionsgeschehen gefährlich, es sorgt für mehr schwere Verläufe und Todesfälle. Es wird nicht so schlimm werden wie in den ersten Wellen, weil viele, vor allem Ältere, durch die Impfungen gut geschützt sind. Es werden weiter Menschen erkranken und sterben. Wer also nach Freiheit ruft, darf nicht vergessen, dass die Freiheit der einen von anderen mit dem Leben bezahlt werden wird.
Frühsommer bis Herbst: Die Zukunft der Pandemie
Im Frühling und Sommer wird es Entspannung und Erholung von der Pandemie geben, wir werden eher draußen als drinnen aktiv sein, die Inzidenzen werden mit steigender Temperatur sinken und die Bedrohung wird abnehmen. Eine Ruhepause, die wir unbedingt nutzen sollten. Denn gleichzeitig werden in den nächsten Monaten die Weichen für die Zukunft gestellt, und es kann grundsätzlich in zwei Richtungen gehen. Lassen wir alles sausen, weil es gerade so bequem ist? Oder wappnen wir uns gegen das, was unweigerlich kommen wird, den erneuten Anstieg der Fallzahlen ab Herbst?
Ich bin für das Wappnen. Zunächst gilt es viele Fragen zu klären. Wird es eine Impfkampagne für Kinder geben? Werden Geflüchtete eine angemessene, auf ihre Situation zugeschnittene Aufklärung über den Wert einer Impfung bekommen? Wird die Zahl der Erstimpfungen, möglicherweise durch weniger Druck von außen, steigen – oder kommt doch noch eine allgemeine Impfpflicht? Werden sich vor dem Herbst möglichst viele rechtzeitig boostern lassen? Wird es einen angepassten Impfstoff für die Varianten, eventuell einen Mehr-Varianten-Impfstoff geben? Oder einen nasalen Impfstoff, der nochmal andere Teile des Immunsystems aktivieren könnte?
Mit Blick auf heute bleibe ich skeptisch. Wir haben nun schon lange Impfstoffe, aber noch immer sind zu wenige Menschen geimpft und die Impfquote stagniert. Der "Totimpfstoff" Novavax hat das offenbar nicht ändern können, obwohl einige ihn als vermeintlich grundlegende Alternative zu den mRNA-Impfstoffen herbeigesehnt haben. Und schlimm finde ich: Jene, die am lautesten das Ende der Maßnahmen fordern, rufen nicht genauso laut nach der besten Maßnahme, dieses Ziel zu erreichen, dem Impfen. Kann man "gegen alles" sein, wenn Handeln gefragt ist? Manche können, das ist leider nichts Neues.
Werden wir bis zum Herbst also so tun, als wäre Corona nicht Teil unserer Zukunft? Wie wichtig diese Frage ist, zeigt eine Analyse, die die britische Regierungsbehörde Scientific Advisory Group for Emergencies (SAGE) veröffentlicht hat. Darin sind mögliche und wahrscheinliche Corona-Szenarien der nächsten Monate durchdacht worden: vom Worst Case über ein gedämpft pessimistisches sowie optimistisches Szenario bis zum denkbar besten Verlauf. Deutlich wird dabei zum Beispiel, dass Impfungen und andere bekannte Maßnahmen gegen schwere Verläufe und Todesfälle schützen und zudem gegen die unkontrollierte Weiterverbreitung des Virus. Vielleicht auch gegen weitere Mutationen – wenn wir Glück haben.
Bei sämtlichen realistischen, von SAGE durchgespielten Szenarien gab es im Übrigen eine Übereinstimmung: Corona wird nicht verschwinden, sondern bleiben. Dieser Realität muss sich jeder stellen, finde ich – auch und vor allem die, die so laut nach Normalität rufen. Maßnahmen gegen das Virus werden ab jetzt und für immer Teil unserer Normalität sein. Der Blick auf die Weltlage wird wichtig bleiben, aber die Maßnahmen müssen nicht mehr so drastisch ausfallen. Sie können sogar umso milder sein, je klarer wir die neue Realität ins Auge fassen. Augen zukneifen wird nicht helfen.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung von spektrum.de.