Rezension

Edward O. Wilson: Der Sinn des menschlichen Lebens

OSTERWITZ/AT (hpd) Ein Buchtitel, der Skepsis weckt. Wer kann sich zutrauen, den Sinn des menschlichen Lebens (aus evolutionärer Sicht) umfassend zu beschreiben? Der 86jährige, weltweit sehr bekannte amerikanische Biologe, Insektenkundler, Evolutionstheoretiker und Soziobiologe Edward O. Wilson – Träger zahlreicher hoher und höchster wissenschaftlicher Auszeichnungen sowie auch des Pulitzer-Preises – unternimmt das Wagnis.

Wilson nähert sich dem Thema als Ich-Erzähler, als Führer einer Reise zum Ursprung unserer Art und zu ihrem Platz in der biologischen Welt – mit der Diskussion ausgewählter Schritte (in den Natur- und Geisteswissenschaften) zu den Fragen "Wer sind wir", "Wohin gehen wir" und "Warum". "Sinn" wird nicht als Zweck oder Absicht gedeutet, sondern in der Weltsicht, dass die Zufälle der Geschichte - nach den Gesetzen des Universums in sich überlappenden Netzwerken von Ursachen und Wirkungen - und nicht die Absichten eines Schöpfers unser Dasein ergeben.

Die abwechslungsreiche und mit reichem Wissen garnierte – zuweilen allerdings sprunghafte - Reise führt interessierte Leserinnen und Leser in die phantastischen Welten unserer belebten, aber auch unbelebten Umwelt. Sie führt über die Welt von Mikroorganismen und Insekten sowie von höher entwickelten Tieren zur Spezies Mensch und darüber hinaus zu Sternensystemen und Überlegungen bezüglich außerirdischen Lebens. Die biologischen und sozialen Entwicklungsschritte vom Homo habilis zum Homo sapiens, die komplexe evolutionäre Entwicklung von Eusozialität über Verwandtenselektion (Individual- und Gruppenselektion) zur Multilevel-Selektion und die daraus resultierenden Folgen – positiv und negativ – werden ausführlich erläutert (bis dato konnten 20 Evolutionslinien identifiziert werden, die in altruistischer Arbeitsteilung fortgeschrittenes Sozialverhalten erreichten; dies wird u.a. am Beispiel Ameisen überaus spannend dargestellt).

Von "neuer Aufklärung" über die "Unumgänglichkeit der Geisteswissenschaften", von den Antriebskräften der sozialen Evolution über "andere Welten" (z.B. Pheromon-Welten) bis zu "Idolen des Geistes" (Instinkt, Religion, Freier Wille) und Gedanken zur Zukunft der Menschen spannt sich ein weiter Bogen wissenschaftlicher Erkenntnisse und darauf aufbauender scharfsinniger Gedanken.

Dem Autor ist sehr daran gelegen, "Einheit des Wissens" herzustellen. Natur- und Geisteswissenschaften unterscheiden sich in der Beschreibung der Spezies Mensch radikal, ihr kreatives Denken besitzt aber einen gemeinsamen Ursprung, der die heute oft getrennten Wege wieder zusammenführen sollte. Die Erwartungen der Aufklärung, dass naturwissenschaftliches Wissen zu weiseren Entscheidungen führt, haben sich nicht erfüllt (Emotionen sind stärker als Wissen), auch steht die Menschheit - durch wissenschaftlichen und technischen Fortschritt bedingt - vor dem größten Dilemma ihrer Geschichte: vor der Abschaffung der natürlichen Selektion, vor der Umformung – dem Design – der Natur des Menschen. Nur das Zusammenwirken von Natur- und Geisteswissenschaften kann die daraus erwachsenden Probleme lösen und (auch in kultureller Evolution) negativen Entwicklungen begegnen.

Die menschliche Natur besteht – in den Hirnstrukturen angelegt - in einer Kombination von Vernunft und Emotion; Instinkte (aber auch Phobien) sowie verschiedene Aspekte der Eusozialität - z.B. Stammesbewusstsein (Tribalismus) - und Religiosität spielen im Verhaltensrepertoire eine große Rolle.

Religionen besitzen psychologischen Nutzen, sie sind Quelle von Trost, aber auch – u.a. bedingt durch Gruppenselektion und Tribalismus – von endlosem, unnötigem Leid. Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass es religiöse Instinkte, bzw. Gene gibt, die über neuronale und biochemische Mechanismen religiöse Empfindungen - ähnlich wie musikalische - auslösen. Religiöser Glaube kann als darwinscher Mechanismus, Überleben und zahlreiche Nachkommen zu sichern, definiert werden, kein Stamm hätte überleben können, wenn der Sinn seiner Existenz nicht durch eine Schöpfungsgeschichte begründet worden wäre. Leider manifestiert sich aber in Religionen – als Ausfluss alter tribalischer Instinkte - immer wieder auch Hass und - daraus resultierend - Gewalt: Glaube gegen Glaube!

"Freier Wille" und "Eine Zukunft für den Menschen" bilden die Schlusskapitel von 204 Seiten Wissensvermittlung, gepaart mit zahlreichen Überlegungen:

Der Glaube an einen freien Willen beinhaltet einen biologischen Adaptionsvorteil und die Frage, ob es freien Willen gibt, beantwortet der Autor mit „ja, wenn auch nicht in letztgültiger Realität, so doch zumindest im operationellen Sinn als Notwendigkeit für geistige Gesundheit und damit für das Fortleben des Menschen“.

Der Mensch müsste als sein größtes Ziel verfolgen, zu einer "Einheit der Menschheit" zu gelangen. Dazu der Appell des Autors, die heuristische und analytische Kraft der Naturwissenschaften mit der introspektiven Kreativität der Geisteswissenschaften zu verbinden.

Die Ankündigung im Titel des Buches beantwortet Edward O. Wilson wie folgt: "Was also ist der Sinn des menschlichen Lebens? Meines Erachtens liegt er in der Erzählung unserer Spezies, die mit der biologischen Evolution und der Urgeschichte begann und weiter in die historischen Zeiten vordrang und jetzt, Tag für Tag, immer schneller in die offene Zukunft; zu dieser unserer Erzählung gehört auch das, was wir aus eigener Entscheidung heraus werden wollen".

Eine lohnende Lektüre nicht zuletzt wegen der wunderbaren Geschichten und interessanten neuen Erkenntnisse, die der Autor zu verschiedensten Themenbereichen (besonders zu seinem Spezialgebiet, dem Leben der Ameisen) sehr farbig und auch für Laien gut verständlich, erzählt. Ob ihm damit auch das Wagnis, den Sinn menschlichen Lebens darzustellen, gelungen ist, muss jeder Leser, jede Leserin, selbst entscheiden; aus der Sicht des Rezensenten haben Philosophen über Jahrhunderte - beginnend bei den "alten Griechen" (Epikur et al) - bessere Antworten gefunden und es bleiben – frei nach Brecht – "der Vorhang zu und viele Fragen offen".

Wilson, Edward O., Der Sinn des menschlichen Lebens, C.H. Beck 2015. 208 S., ISBN 978–3–406–68170–7, 19,95 Euro