BERLIN. (hpd) Soll man Terroristen mit Liebe begegnen? Die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Margot Käßmann, hat einiges Aufsehen provoziert mit ihrer Behauptung, Christen dürften nicht mit Gewalt auf den islamischen Terror reagieren, sondern mit Liebe und Gebet.
"Jesus hat eine Herausforderung hinterlassen: Liebet eure Feinde! Betet für die, die euch verfolgen! Er hat sich nicht verführen lassen, auf Gewalt mit Gewalt zu antworten. Für Terroristen, die meinen, dass Menschen im Namen Gottes töten dürfen, ist das die größte Provokation." Ist das wirklich eine christliche Haltung? Würde Jesus heute etwa auf den Anschlag in Lahore so antworten wie Margot Käßmann?
Nun, für diejenigen Christen, die gern die Überlegenheit ihres heiligen Buchs – also des "neuen" Testaments – gegenüber den heiligen Büchern der Juden und Muslime herausstreichen, ist diese Schlussfolgerung zwingend. Gegenüber dem "alttestamentarischen Gesetz der Rache, Aug um Auge, Zahn um Zahn" haben sich Christen oft mit ihrem "Gesetz der Liebe" gebrüstet, und Ähnliches gilt für jene Passagen im Koran, die zur Unterwerfung der Ungläubigen und zum Mord an den Juden aufrufen.
Der Kontext ist entscheidend
Demgegenüber gilt es festzuhalten, dass jedes dieser Bücher im Kontext seiner Entstehung zu lesen ist. Jesus von Nazareth lebte, als Palästina römisches Protektorat war. Jüdische Fundamentalisten, Extremisten und Nationalisten waren mit der Herrschaft Roms und seiner jüdischen Statthalter nicht einverstanden und predigten den bewaffneten Aufstand wie die Zeloten oder den Rückzug ins Reine wie die Essener. Wo der historische Jesus wirklich stand, ist schwer auszumachen. Die Römer kreuzigten ihn – dies immerhin scheint als Faktum festzustehen, allein schon, weil es ein Skandalon ist – als "König der Juden", das heißt, mit der Methode, die sie für Banditen, Räuber und Aufständische reservierten, und mit der Begründung, er habe sich zu einem Führer seines Volkes aufschwingen wollen.
Seine Anhänger, so viel steht fest, leisteten dagegen keinen nennenswerten Widerstand. Erst Jahrzehnte nach seiner Kreuzigung brach der bewaffnete Widerstand aus, mit katastrophalen Folgen für die Juden. Die Evangelien in der uns überlieferten Form wurden nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer verändert, um Hinweise auf diese Ereignisse als Prophezeiungen aus dem Mund des Gekreuzigten aufzunehmen. Möglich auch, dass sie auch sonst redigiert wurden, um Jesus und seine Anhänger friedlicher erscheinen zu lassen, als sie es zu seinen Lebzeiten gewesen waren.
Denn eines war klar, und das zu erkennen war die große Leistung des Gründers der neuen Religion, Saulus aus Tarsus im heutigen Syrien: Mit einem direkten Aufstand gegen Rom war nichts zu gewinnen außer dem Tod. Jedoch bedeutete der Liberalismus des Imperiums – für den die Apostelgeschichte mehrere Beispiele liefert – und die Existenz einer einflussreichen jüdischen Diaspora, dass man den Versuch wagen konnte, den neuen Glauben friedlich zu verbreiten. Zwar gaben sich die frühen Christen gern blutdürstigen Endzeitvisionen hin, wie die Offenbarung des Johannes beweist; in der Praxis waren sie jedoch quietistisch und loyal gegenüber den römischen Behörden, die sie als "von Gott eingesetzt" anerkannten, wie Saulus/Paulus lehrte. Als das Christentum drei Jahrhunderte später zur Staatsreligion avancierte, war es im Inneren mit der Toleranz und nach außen mit der Friedfertigkeit vorbei, und dafür fanden sich denn auch die nötigen theologischen Begründungen, zum Beispiel die Lehre vom gerechten Krieg.
Es ist also völlig absurd, die Lehren des Jesus von Nazareth, etwa das "Liebet eure Feinde" oder "Haltet die andere Wange hin" außerhalb ihres Kontextes zu lesen und auf eine Situation zu übertragen, die Jesus weder kannte noch sich vorzustellen vermocht hätte. Möglich sogar, dass er, wenn man seine Ausführungen gegen Reiche ernst nimmt, und wenn man bedenkt, wie das Christentum seine Lehre inzwischen verfälscht hat, man denke nur an die Lehre von der Dreifaltigkeit, eher mit den heutigen Fundamentalisten des Einen Gottes sympathisieren würde als mit den häretischen Anbetern des Mammon.
Was würde Luther dazu sagen?
Niemand wusste das besser als Martin Luther, und das müsste Margot Käßmann als "Botschafterin für das Lutherjahr" 2017 eigentlich wissen. Ich zitiere Karl F. Grimmer aus dem Sonntagsblatt, der die Positionen des Reformators, wie sie von der Evangelischen Kirche verstanden werden, gut zusammenfasst:
Martin Luther wollte die Bergpredigt nicht als Forderung, sondern als Evangelium verstanden wissen. Die Bergpredigt handelt von den Früchten des Glaubens. Als Anleitung zum Leben in der Welt der Sünde ist sie nicht geeignet. Allenfalls kann man, so neuere Interpretationen Luthers, durch die Bergpredigt sein Scheitern erkennen und auf die Rechtfertigung allein aus Gnade verwiesen werden.
Anders gesagt: Die Forderung nach der Feindesliebe (und so weiter: Armut, Keuschheit, Gottvertrauen) soll uns ein schlechtes Gewissen machen. Da wir so nicht handeln können, sind wir auf die Gnade (und also die Kirche) angewiesen. Toll.
"Allerdings hat Luther die Möglichkeit, den Forderungen der Bergpredigt nachzukommen, nicht völlig ausgeschlossen", so Grimmer weiter. "Aber der Christ steht nur für sich selbst unter dieser Forderung, er kann die andere Backe hinhalten usw. Sobald er Verantwortung für andere hat, in seiner Familie oder einem öffentlichen Amt, wiegt diese Verantwortung schwerer. Dann muss mit allen Mitteln des weltlichen Regiments das Lebensnotwendige getan werden, notfalls mit der Durchsetzung von Gewalt." Genau. Und wenn‘s gegen die Papisten, die Bauern oder die Juden ging, dann schwelgte Luther in Gewaltfantasien, die einem Osama bin Laden in nichts nachstanden. Immerhin war er nicht so verlogen wie seine heutige Botschafterin.
Und Hitler? Und Stalin?
Verlogen hinsichtlich der Botschaft Jesus und Luthers, und realitätsblind gegenüber der Geschichte. "Millionen von Menschen wären gerettet worden, wenn Hitler frühzeitig getötet worden wäre", wendet Miriam Hollstein von der BamS zu Recht ein. Käßmann antwortet: "Sie wären gerettet worden, wenn sich alle Christen dem Holocaust entgegengestellt hätten. Wenn Soldaten sich geweigert hätten, nach Stalingrad zu ziehen. Es braucht keinen Tyrannenmord, wenn es einen Geist des Widerstands gibt." Gewiss doch. Da es aber diesen Geist nicht gab: Was dann?
Und weiter: "Ja, eine solche Haltung wird belacht und sie wird auch viele Menschen überfordern. Weil es der menschliche Instinkt ist, Rache zu üben. Aber auf den Hass nicht mit Hass zu antworten, das ist die Herausforderung. Die größten Persönlichkeiten in der Geschichte sind nicht Stalin, Hitler oder Pol Pot, sondern Martin Luther King, Mahatma Gandhi oder Aung San Suu Kyi, die nicht mit Gewalt reagierten." Ähm, Moment: Hitler, Stalin und Pol Pot wären Rächer gewesen? Leute, die mit "Hass auf Hass antworteten"? Und wer hat sie gestoppt? Bestimmt nicht die Gandhis dieser Welt, sondern im Falle Hitlers ein Winston Churchill – mit Gewalt; im Falle Stalins ein Harry Truman – mit Gewalt; im Falle Pol Pots die vietnamesische Armee und Heng Samrin – mit Gewalt.
Auch Gandhi, Martin Luther King und Aung San Suu Kyi (über die das letzte Wort der Geschichte noch nicht gesprochen ist) müssen – wie Jesus und Paulus – im historischen Kontext gesehen werden. Gandhi etwa kämpfte gegen das Britische Empire, das letztlich unfähig war, ihn zu besiegen, weil es die eigenen Ideale und Grundsätze, die Gandhi übernahm und gegen die Kolonialherrschaft wandte, nicht verraten wollte und konnte. In Großbritannien selbst genoss Gandhi große Sympathien. Martin Luther King klagte die Rechte der schwarzen Bürger der USA ein, die ja in der Verfassung verankert waren; wie Gandhi wusste er, dass seine symbolischen Aktionen in den freien Medien Resonanz finden und die Politiker zum Handeln zwingen würden. Weder Gandhi noch King hätten gegen Stalin oder Hitler etwas ausrichten können, und heute so etwas zu suggerieren ist nicht nur naiv, sondern unverantwortlich und im eigentlichen Sinne unchristlich.
Nachveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.
20 Kommentare
Kommentare
Heinz-J. Ludwig am Permanenter Link
Typisch Käßmann - redet mal wieder Käse!!
Dr Peter Pommer am Permanenter Link
Ein gute und wahre Aussage von Frau Kässmann, deren Mut ich erneut bewundere, eine wahrhaft christliche Position.
Dennoch: die Spirale der Gewalt, die wie Dominosteine in Reihe funktioniert, kann nur unterbrochen werden, wenn man auf Gewalt konsequent verzichtet. Das alte Naturgesetz von actio=reactio kann nur unterbrochen werden, wenn die reactio unterbleibt - sonst läuft die Gewalt weiter bis zur Vernichtung oder zumindest völligen Erschöpfung aller Beteiligten.
Dr. Peter Pommer
Petra Pausch am Permanenter Link
Sie halten diese Aussage für "mutig"? Weshalb?
Mut wäre, wenn Frau Kässmann das in Ländern täte, die nicht ganz so freiheitlich sind. Und, wie Alan Posener darlegt: wenn das nicht im Namen einer Religion geschehen würde, die die Kässmannsche Haltung tagtäglich im Tun widerlegt. Die Ex-Bischöfin kennt nicht einmal die Lehren ihrer eigenen Kirche.
Petra Pausch am Permanenter Link
...er blieb still... das ist bezeichnend
Dr Peter Pommer am Permanenter Link
Schweigen kann auch Stärke sein. Und weil es dazu eigentlich auch nicht mehr zu sagen gibt.
Dr. Franz Reinartz am Permanenter Link
Sehr geehrter Herr Pommer,
Und dieses System nimmt sich dann auch das Recht, die Gesellschaft erforderlichenfalls vor dem Straftäter nach der Strafverbüßung durch Sicherungsverwahrung zu schützen.
Da ich religions- bzw. glaubensfrei bin, wünsche ich mir natürlich genau und nur diesen Schutz.
Die von Ihnen erwähnte Gewaltspirale kann in Anbetracht fanatisierter Islamisten, die sich selbst als überaus rechtgläubig empfinden, m.E. nur durch energische polizeiliche bzw. nachrichtendienstliche, rechtsstaatliche Maßnahmen durchbrochen werden. Und wenn es nicht anders geht als ultima ratio durch Gewalt. Herr Hitler und seine Fanatiker sind auch nicht "weg geliebt" worden.
Frau Kässmann sollte sich im Übrigen mal bewusst machen, dass die Kirchen ca. 1600 bis ungefähr 1945 ausgesprochen gewaltaffin gewesen sind und sich im Zweifel auf die Seite der Mächtigen gestellt haben. Insbesondere der Herr Luther, dessen Reformationsjubiläum auch ich in NRW im kommenden Jahr zu "feiern" haben werde, war ja ein großer Gewaltbefürworter. So empfiehlt er in seinem Traktat "Widder die stürmenden bawren", jeder möge heimlich oder öffentlich die Bauern würgen oder tot schlagen wie tolle Hunde. Und auch sein Leitfaden "Von den Juden und ihren Lügen" (Anfang des Monats bei Alibri neu erschienen) ist nicht gerade ein Musterbeispiel für Friedfertigkeit und verstehender Liebe. Insofern sollte, wer im Glashaus sitzt, nicht mit Steinen schmeissen.
Einen schönen Abend
F.Reinarz
Dieter Bauer am Permanenter Link
Die gebetsauffordernden Bemühungen von Frau Kässman mögen in guter Absicht ergehen, doch sagt mir, wo Gebete Sachverhaltsänderungen in kriegerischen Auseinandersetzungen bewirkt haben.
Kay Krause am Permanenter Link
Dass der Wunsch nach Rache und Vergeltung ein menschlicher solcher ist, soll nicht bestritten werden.
Wolfgang am Permanenter Link
Es war eine Aussage, aber sie war nicht wahr. Typisch christlich, von nichts eine Ahnung und ein verlogener Glaube, vernagelt am Kreuz.
andreas scholz am Permanenter Link
"...kann nur unterbrochen werden, wenn reactio unterbleibt"
der Reagierende auf Gewalt verzichtet oder mangels Potenz verzichten muss.
Derjenige, der auf reactio verzichtet, unterliegt und kommt im schlimmsten Falle um. Dann natürlich, da haben Sie Recht, endet die Gewalt.
Und Sie haben auch recht, das Gewalt nach reactio in der Regel eskaliert.
Irgendwie eine Scheißwelt, die Ihr Gott da so zusammengenagelt hat. Ich jedenfalls, wenn Gott wäre, würde das Projekt "Welterschaffen" abbrechen, ein paar Parameter ändern und nochmal laufen lassen.
Das muss man dann nur genügend oft machen, bis wirklich etwas Gutes rauskommt.
Seit 2000 Jahren ist RKK am Feindesliebe predigen. 2000 Jahre und Ihr habt immer noch nicht gemerkt, dass das nicht funktioniert.
Im übrigen glaube ich nicht eine Millisekunde, das Sie Herr Pommer oder Frau Käsmann oder sonst ein Christ die linke Wange hinhält, wenn ein Schlag auf die Rechte erfolgte. Von in der Anzahl unbedeutenden möglichen Ausnahmen einmal abgesehen.
Ausserdem gibt es in dieser von Ihrem Gott erschaffenen Welt Situationen, die Gewalt sogar initial erzwingen, um zu überleben. Nämlich genau dann, wenn Ressourcen knapp sind.
Ich schlage ein Gedankenexperiment vor:
Es herrscht eine Hungersnot und meine Kinder haben seit drei Tagen nichts gegessen, Sie aber Herr Pommer haben ein Stück Brot.
Was glauben Sie wird passieren? Ich werde Gewalt anwenden, um Ihnen das Brot wegzunehmen und Sie sind jetzt vor die Wahl gestellt, auf reaction zu verzichten und zu verhungern oder ebenfalls Gewalt anzuwenden.
Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mir dieses dummschwülstige Feindesliebegeseiere auf die Nerven geht.
Und natürlich gehts auch diesmal wieder nicht, ohne diese unerträgliche Selbstgerechtigkeit. "... eine wahrhaft christliche Position."
Schaut alle her!!!! Wir sind die wirklich Guten. Wir lieben sogar unsere Feinde.
Dieser Passus allein, führt Ihren ganzen Beitrag ad absurdum.
Dr Peter Pommer am Permanenter Link
Lieber Herr Scholz,
ich kann Ihren Ärger gut nachfühlen, mir geht es ebenso. Ich bin auch kein aktiver Christ, finde die Einlassungen der Kirche, dass Gott seinen Sohn für uns sterben liess, schlicht geschmacklos, und noch vieles mehr falsch oder lächerlich.
Die christliche Ethik ist, zumindest bei der evangelischen Kirche HEUTE so schlecht nicht, wollen wir vom Antisemiten Luther schweigen.
Und auch Franziskus vertritt sehr ehrenwerte Positionen.
Es geht auch nicht darum, dass Sie, Frau Kässmann oder ich die andere Wange hinhalten. Es geht darum, dass Politiker die richtigen Entscheidungen fällen.
Eine ganz wichtige, grundfalsche war z. B. dass Hollande nach dem Massaker von Paris militärisch vergelten lies. Folge ist u. a. Brüssel und damit sicher kein Ende. Religiöse Menschen sind leider oft vernagelt.
Nach dem Massaker hätte man den Islamisten ein Friedensangebot machen müssen, das hätte die kalt erwischt und denen bei Ablehnung viele Sympathien gekostet. Und ein Programm zur WIRKLICHEN gleichwertigen Integration der Araber in Frankreich.
Merkel macht das immerhin etwas besser.
Das Naturgesetz der Gewaltspriale kann man nur aufhalten, dadurch dass der Reifere und Weisere nachgibt und einmal nicht vergilt.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Ach, jetzt prügeln Sie doch nicht so auf die arme Frau Käßmann ein, Herr Posener. Sie hat zur Zeit den Luther am Bein und muss den größten Antisemiten der deutschen Geschichte als visionären Reformator verkaufen.
Dazu hat ihr der Steuerzahler zwar über 100 Mio. Euro geschenkt, aber in Anbetracht der unlösbaren Aufgabe ist das viel zu wenig. Haben Sie Mitleid und seien Sie nächstenlieb zu der Bedauernswerten.
Luther riet der Obrigkeit, nicht ganz so feindeslieb mit den Juden umzugehen und wollte das Judentum in Deutschland ausrotten. 400 Jahre später haben das seine Nacheiferer ganz gut hingekriegt - bis sie mittels Waffengewalt an der Endlösung gehindert wurden.
Aber Frau Käßmann hätte damals sicher den gleichen Effekt erzielt, wenn sie sich vor das Führerhauptquartier gekniet und inbrünstig zu ihrem Gott gebetet hätte - dem lieben Gott, der nie Skrupel hatte, diejenigen auszurotten oder mit Vernichtungsweihe zu überziehen, die ihm nicht in den Kram passten oder bei denen es ihn gereut hatte, sie erschaffen zu haben.
Na ja, trotzige Kinder dürfen ihr Spielzeug schon mal kaputt machen. Aber vernünftige Menschen sollten sie nicht auch noch anbeten...
Roland Fakler am Permanenter Link
Ich möchte keiner Frau mein Land anvertrauen, die glaubt, sie könne Terrorismus weg beten. Das ist Schamanismus!
Matthias Stich am Permanenter Link
Die von bestimmten Kreisen immer wieder beschworene christliche Nächstenliebe halte ich für eine Überforderung, Feindesliebe gar für eine Perversion.
Personen, die einem jedoch nicht so vertraut sind oder so nahe stehen oder die man überhaupt nicht kennt (und das sind 99,99999% aller Menschen), kann man dagegen versuchen zu respektieren, zu achten, auf sie Rücksicht nehmen, sie fair zu behandeln. Aber lieben ? Pauschale Nächstenliebe ist Überforderung.
Und keiner, der seine fünf Sinne einigermaßen beisammen hat, wird seine Feinde lieben. Mit viel gutem Willen kann man evtl. noch versuchen, Erkenntnis, evtl. sogar Verständnis zu erlangen, warum man von bestimmten Personen angefeindet wird. Aber seine Feinde lieben ? Das halte ich für eine glatte Perversion.
Sim am Permanenter Link
Jetzt haben sie schon zweimal das Wort 'Perversion' benutzt. Aber dieses Wort hat in einer seriösen Diskussion nichts verloren. Es stellt nur eine emotional aufgeladene Ablehnung einer Andersartigkeit dar.
Denn wir wissen es doch viel besser. Wir wissen, dass es keinen freien Willen gibt, dass die Menschen nur das Produkt ihrer Gene und ihrer Umwelt sind. Dass sie notwendigerweise so handeln müssen wie sie nunmal handeln. Dieses Wissen sollte zur Empathiesteigerung ausreichen. Es bedeutet im übrigen nicht, wie oftmals fälschlich angenommen, dass damit alles erlaubt wäre. Nein ich hasse auch keinen tollwütigen Hund und kann trotzdem einsehen, dass es für alle beteiligten besser wäre wenn er eingeschläfert wird. Und so folgt auf jeden Akt der Aggression auch vernünftigerweise eine Konsequenz. Aber eben besser nicht begleitet von Wut, Hass und Rache sondern eher Traurigkeit.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Lieber Sim,
Matthias Stich hat an keiner Stelle geschrieben, man solle seine Feinde hassen. Er geht sogar noch weiter als Sie: "Mit viel gutem Willen kann man evtl. noch versuchen, Erkenntnis, evtl. sogar Verständnis zu erlangen, warum man von bestimmten Personen angefeindet wird." Sie hingegen schreiben: "Man soll seine Feinde wenigstens nicht hassen."
Perversion ist ein starkes Wort. Das nehmen z.B. Christen gerne in den Mund, wenn sie unser Zeitalter der sexuellen Selbstbestimmung bezeichnen. Perversion bedeutet eigentlich nur "verdreht". Und das sehe ich schon in der Forderung zur Nächsten- und Feindesliebe.
Letztere sind Begriffe des Angehörigen einer Endzeitsekte, die sowieso davon ausging, dass die Welt in den nächsten paar Jahren untergehen und durch Gottes Reich ersetzt werden würde.
Warum sollte man sich mit Feinden herumärgern, wenn eh bald Schluss ist? Warum der Stress? Also lieben wir alle, verhalten uns ruhig, damit wir die letzten Jährchen entspannt verbringen können.
Wäre Jesus (oder wer auch immer historisch hinter der Gestalt steckt) davon ausgegangen, dass die Erde deutlich länger bestünde, als er plante/dachte, hätte er sich das mit der Nächsten- und vor allem Feindesliebe sicher noch mal überlegt. Aber für ihn ging ja recht bald die Welt unter, seine Existenz erlosch.
Wir heute müssten uns neu positionieren, wie wir mit unserem Nächsten und mit unseren Feinden umgehen. Uns erfüllt (hoffentlich) keine Lethargie, weil wir eh den Untergang der Erde in Bälde wähnen. Und da ist mir das Wort "Liebe" auch zu stark. Liebe hat etwas mit Vertrauen zu tun. Und Vertrauensseligkeit gegenüber einem unberechenbaren Feind kann tödlich enden. Wie gesagt: Für Endzeitmystiker stellt das kein Problem dar, für lebensfrohe Menschen, die Zukunft gestalten wollen, schon...
Sim am Permanenter Link
Lieber Bernd Kammermeier,
Ich habe lediglich versucht darzulegen wieso ich 'Perversion' nicht als Argument gelten lassen kann. Die negative Konnotation des Wortes macht es nämlich schwerer eine sachliche Diskussion zu führen. Obendrein ist es schlicht und ergreifend kein stichhaltiges Argument und zwar egal ob man etwas 'pervers', 'verdreht', 'verkehrt', 'widernatürlich' oder 'anders' nennt.
Ich sehe auch ein, dass man 'Liebe für seine Feinde' nicht fordern kann. Aber ich kann den Angriff auf eine Person der das vorgeblich gelingt nicht nachvollziehen. Wichtig ist, dass wir hier wohlwollend interpretieren, was mit dieser Feindesliebe gemeint ist. Sicher fordert Frau Käßmann nicht, dass wir alle den nächst besten Terroristen heiraten sollen.
Für mich bedeutet es eher Empathie und Mitleid und hat nichts mit Vertrauen zu tun. Ich würde nie auf die Idee kommen jemanden zu raten einen Terroristen blind zu vertrauen. So wie ich einen Löwen in der Savanne mögen kann und es verurteilen kann, wenn ihn jemand ohne guten Grund erschießt - das heißt nicht dass ich dem Löwen vertraue dass er mich nicht verspeist ;) Auch ein Blitz hat eine ganz erhabene Ästhetik die man bewundern kann und trotzdem kann es tödlich sein von einem getroffen zu werden. Wie Sie sehen versuche ich mich durch Analogien verständlich zu machen, bitte begehen sie nicht den Fehler und suchen nach den Unterschieden in den verschiedenen Fällen, denn es sind die Gemeinsamkeiten auf die es in einer Analogie ankommt. Es geht hier darum aufzuzeigen, dass es Fälle gibt wo (fast) niemand auf die Idee kommen würde es als pervers zu bezeichnen nur weil man etwas mag/liebt/schätzt/bewundert wovon eine Gefahr ausgeht. Ich möchte das auch gar nicht mit dem christlichen Hintergrund den Frau Käßmann da hat vermischen. Ich argumentiere hier aus meiner atheistisch humanistischen Position heraus.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Lieber Sim,
das ist ein schwieriges Feld. Selbstverständlich gilt für einen Humanisten der Nächstenrespekt, auch der Fernstenrespekt - was Respekt vor allen Lebewesen inkludiert. Vielleicht könnte man sich auf Respekt statt Liebe verständigen.
Respektieren schließt auch "ernst nehmen" mit ein. In dem ich den Fernsten, der mein Feind sein könnte, ernst nehme, kann ich schon einmal nicht mehr hassen. Aber ich muss ihn auch nicht zwangsläufig lieben. Ich sehe also hin und analysiere, wie dieser Mensch möglicherweise von seinem schädlichen Weg abgebracht werden kann.
Im günstigsten Fall wird der Fernste dieses Angebot annehmen und kooperieren. Dann könnten Gründe für seine Feindseligkeit aufgehoben werden. Im schlimmsten Fall wird er das Angebot ignorieren und eventuell sogar als Beleidigung sehen, weil man ihn nicht als Feind respektiert, sondern genau in dieser Funktion nicht ernst nimmt.
Der Respekt fordert also von beiden Seiten eine Bandbreite von Reaktionsmöglichkeiten und Notwendigkeiten, denn auf einen Kompromissbereiten muss ich anders reagieren als auf einen Kompromisslosen.
Was mich an Frau Käßmanns Äußerungen stört, ist, dass sie offenbar nur eine Form der Reaktion kennt: Beten! Beten hat auf der positiven Seite zu verbuchen, dass es absolut friedlich ist, d.h. die Energie aus dem Konflikt nimmt. Zumindest einseitig. Das kann funktionieren.
Ich habe in der Schule bei den sehr seltenen Schulhofschlägereien, in die ich verwickelt war, stets den ersten Schlag hingenommen und dann zurückgefragt: "Und, geht es dir jetzt besser?" Damit war die "Schlägerei" beendet. Ich war wirklich ein undankbarer Gegner, der gerne gemieden wurde.
Hätte mein Kontrahent ein Messer gezückt, hätte ich ihn nicht den ersten Stich ausführen lassen, sondern hätte auch physisch eingreifen müssen. Das ist für mich die Grenze: Verbal diplomatisch und "feindesrespektierend" kann man vorgehen, solange der andere nicht mit letalen oder körperlich verletzenden Waffen vorgeht. Denn Beten, auch Diplomatie, kann in dieser Phase eines Konflikts nichts mehr ausrichten.
Es bliebe also letztlich die Kapitulation, die jedoch z.B. beim IS keine Wirkung entfaltet, weil es diesem "Feind" um Vernichtung geht, letztlich sogar um die eigene Vernichtung, denn dass der IS niemals militärisch wird siegen können, ist sicher jedem Kommandeur dort klar. Also will man ein möglichst großes Blutbad anrichten, ohne Rücksicht auf eigene Verluste.
Diese Eskalation ist nicht mehr auf dem Wege friedlicher Mittel zu stoppen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Ergreifung der Führungskader und der Versuch einer "Rückholung" zu rechtsstaatlichen Normen einen Effekt hätte. Ich bin sicher, dass Radikalisierung und Hass derart eingebrannt sind, dass hier nur lebenslanges Wegsperren eine Lösung wäre. Bei vereinzelten Kämpfern glaube ich schon, dass die von einer menschlichen Lebensweise überzeugt werden könnten. Verschiedentlich gibt es sogar Selbstaussteiger, nachdem sie den Irrsinn in Syrien hautnah miterlebt haben.
Aber Beten oder ein gänzlicher Verzicht auf Waffengewalt würde das falsche Signal nach Syrien senden. Erst entschlossenes Eingreifen wird gerade den unentschlossenen oder verzagten Kämpfern zeigen, dass ihre Sache aussichtslos ist. Dass sie falsch ist, können sie da noch nicht erkennen. Aber eine aussichtslose Sache mag als Signal ausreichen, dass irgendwann eine Fluchtbewegung von IS-Kämpfern einsetzt, so dass deswegen dieser Krieg beendet werden kann.
Und falls das nichts hilft, wird man bis zum bitteren Ende kämpfen müssen und dafür sorgen, dass keine weiteren jungen Leute in das Kriegsgebiet reisen, um ihr Leben für eine verlorene Sache wegzuschmeißen. Das ist die bitterste aller möglichen Lösungen, aber im Interesse der unschuldigen Opfer dort eine Karte, die wir spielen müssen. Auch wenn mir als Humanist das Herz blutet.
Und nach dem Krieg sollte der Aufbau einer säkularen Gesellschaft unterstützt werden, die solche Auswüchse religiösen Wahns durch Erziehung verhindert.
Harald Stickl am Permanenter Link
„Karte die wir spielen müssen“, „Humanist, dem das Herz blutet“ - reichlich viel Metaphorik, um den Militarismus zu verstecken der hier verbreitet wird.
Pazifismus kann verschieden begründet werden, auch religiös wie wir am Beispiel Käßmann sehen. Krieg und seine Vorstufen Rassismus und Militarismus sind immer unmenschlich. Sorry Herr Kammermeier, meine Definition von Humanismus lässt keinen Raum für Feinde, für mich gibt es nur Menschen. Manche bezeichne ich als meine Lernfelder.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Lieber Herr Stickl,
Ihr Humanismus nach dem Motto "Der Klügere gibt nach!" kann nicht funktionieren, denn er bedeutet in letzter Konsequenz, dass der Klügere ausstirbt. Und wer bleibt dann übrig?
"„Karte die wir spielen müssen“, „Humanist, dem das Herz blutet“ - reichlich viel Metaphorik, um den Militarismus zu verstecken der hier verbreitet wird."
Welcher Militarismus? Ich verstehe unter Militarismus den
Einsatz von Militär als Option bei (staatlichen) Konflikten, also Gewalt als reguläres Reaktionsmittel. Und das lehne ich selbstverständlich entschieden ab.
"Krieg fällt nicht vom Himmel, Krieg wird gemacht. Man(n) muss nicht bis zum bitteren Ende kämpfen, wir können uns jederzeit zwischen die Konfliktparteien stellen."
Und was sollten wir auf der Frontlinie? Als Kanonenfutter dienen oder Zielscheiben für Militärs? Natürlich wird Krieg von Menschen gemacht, doch die hören damit nicht auf, weil wir uns als Opfer anbieten.
"Wir können die Waffen einsammeln, die Deutschland produziert und geliefert hat."
Dann fahren Sie nach Syrien und überreden die IS-Kommandeure, die Waffen herauszugeben. Sie können vielleicht einen Gerichtsvollzieher mitnehmen, der diesem Ansinnen mit einem amtlichen Dokument Nachdruck verleiht. Dann wird der IS sicher ein Einsehen haben.
"Wir können den Deserteuren Asyl gewähren, genauso den Frauen und Kindern, die vor Halsabschneidern und Handabhackern fliehen."
Das tun wir doch schon.
"Wir können von unseren Geschäftspartnern verlangen, die Unterstützung von Terroristen zu beenden."
Ja, das müssen wir auch. Leider haben wir eine Bundeskanzlerin, die, um die Deserteure zu retten, mit einem Despoten in der Türkei paktiert. Hier könnte in der Tat vieles besser gemacht werden. Allerdings macht all das die Terroristen nicht friedlicher.
"Wir können die Jungs von der Bundeswehr daran hindern, ihr tödliches Handwerk auszuüben."
Das heißt, wir ziehen am Besten eine hohe Mauer um den Nahen und Mittleren Osten und warten, bis sich hinter der Mauer nichts mehr bewegt? Oder wollen Sie lieber zusehen, wie die hilflose Zivilbevölkerung von den Terroristen abgeschlachtet wird?
Hier nicht zu helfen - da bin ich ganz deutlich - ist unterlassene Hilfeleistung. Wie ich das mit meinem Selbstverständnis als Humanist in Einklang bringen soll, weiß ich nicht. Leider kann Gewalt oft nur mit Gewalt gestoppt werden. Deshalb müssen die Ursachen der Gewalt bekämpft werden, doch das ist eine Generationenaufgabe.
"Pazifismus kann verschieden begründet werden, auch religiös wie wir am Beispiel Käßmann sehen."
Pazifismus muss gar nicht begründet werden, weil er eine Selbstverständlichkeit ist. Ich möchte aber nicht in einer Welt leben, in der sich alle Pazifisten geopfert haben, weil sie den Militaristen nichts entgegensetzen wollten. Echter Frieden wächst erst von unten nach, wenn Kinder ohne Feindbilder erzogen werden, weder mit kulturellen noch politischen oder religiösen Feindbildern.
"Krieg und seine Vorstufen Rassismus und Militarismus sind immer unmenschlich."
Wer wollte das bestreiten?
"Sorry Herr Kammermeier, meine Definition von Humanismus lässt keinen Raum für Feinde, für mich gibt es nur Menschen. Manche bezeichne ich als meine Lernfelder."
Wenn Ihnen eines Ihrer Lernfelder mit Kalaschnikow im Anschlag gegenübersteht, werden auch Sie sich einen bewaffneten Helfer herbeiwünschen. Dieses Szenario ist in unserem relativ sicheren Europa eher selten. Für Menschen in Kriegsgebieten ist das Alltag. Was wollen Sie denen sagen? Lächelt die Lernfelder an, dann wird alles gut?
Deshalb müssen wir uns um die nachkommende Generation kümmern, dass dort der oft über viele Generationen tradierte Hass endet. Dazu gehört unverzichtbar eine aufrichtige Säkularisierung der Gesellschaften, die Religion zur absoluten Privatsache erklärt. Nur so kann z.B. der Zwist zwischen Schiiten und Sunniten (eine der Hauptquellen des Hasses in den nahöstlichen Kriegsgebieten) beendet werden. Wenn es nicht mehr um die Vorherrschaft spezieller religiöser Überzeugungen geht, entsteht Raum für demokratische und pluralistische Entwicklungen.
Nur so wird der Rassismus aussterben und der Militarismus unnötig. Auf der Ebene der Machtblöcke ist der Krieg sowieso "ausgestorben", weil man erkannt hat, dass Krieg mit modernen Waffen zwangsläufig zum Untergang fast der gesamten Welt führen würde. In Zeiten von Gewehren und Kanonen war Krieg eine Option, weshalb auch Bevölkerungen häufig mit "Hurra-Patriotismus" in die Kriege zogen.
Das ist vorbei, weil die Folgen eines Krieges heute grauenhafter wären, als jemals zuvor. Wenn die letzten Reste ideologischer Radikalisierung auch noch verschwinden würden - wofür ich gewisse Chancen sehe - dann werden auch die militärisch unsinnigen Taten religiöser Fundamentalisten aufhören.
Doch bis das erreicht ist, werden wir der Zivilbevölkerung in den betroffenen Ländern helfen müssen. Durch Aufnahme und Schutz, aber auch durch militärische Intervention, weil eine Kapitulation vor diesen Lernfeldern der Vernichtung eines riesigen Lebensraums gleichkäme.
Oder sollen wir die gesamten betroffenen Bevölkerungen nach Europa übersiedeln? Das darf eigentlich kein Plan eines Humanisten sein.