Politikwissenschaftler Andreas Portugall im Interview

"Wir brauchen eine kritische Debatte über die lokalen Gedenkorte"

So wie auch am heutigen Samstag dient die Remagener Friedenskaplle alljährlich dem größten Naziaufmarsch in Rheinland-Pfalz als Bezugspunkt. Als zentraler Gedenkort erinnert die Kapelle an die sogenannten Rheinwiesenlager, in denen die Alliierten deutsche Kriegsgefangene internierten. Die Nazis sprechen von einer Million Deutschen, die dort ermordet worden seien. Auch in der lokalen Geschichtsschreibung haben sich Mythen verfestigen können, die einen Opfernarrativ bedienen. Einen konkrete Ausdruck findet dieser in der Friedenskapelle. Im hpd-Interview spricht der Politikwissenschaftler Andreas Portugall über die Bedeutung des Aufmarsches für die Szene und über die lokale Erinnerungskultur. Er arbeitet als Jugendbildungsreferent bei der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken im Landesverband Rheinland-Pfalz.

hpd: Herr Portugall, wieso ist der Novemberaufmarsch in der Kleinstadt zwischen Bonn und Koblenz immer noch so attraktiv für die Szene?

Andreas Portugall: Der Aufmarsch ist als festes Event im Terminkalender von Teilen der westdeutschen Neonaziszene eingetragen. Die, teilweise zerstrittenen, drei Parteien NPD, Die Rechte und der III. Weg spielen hier eine Rolle, ebenso Überbleibsel der Kameradschaftsszene. Neonazis haben sich hier, mit Unterbrechung, seit 2005 ganz bewusst einen hauseigenen Aufmarsch geschaffen, der eine regionale Strahlkraft entwickelt hat, die zwischen 100-300 Teilnehmende auf die Straßen Remagens treibt. Zu einem zentralen bundesdeutschen Event hat es dagegen nicht gereicht.

Die geschichtspolitische Ausrichtung orientiert sich klar am Nationalsozialismus und bietet eine Art Kit für die teils zerstrittene Szene. Der stramm organisierte Trauermarsch stärkt eine exklusive Identität der Szene, abseits des alltäglichen Aktivismus. Aus diesem Charakter heraus entsteht die Anziehungskraft dieses Aufmarsches.

Woran wird der Bezug zum Nationalsozialismus deutlich?

Wichtig für ein solches neonazistisches Gedenken ist der Bezug zu einem konkreten historischen Ort. Im konkreten Fall ist dieser durch die ehemaligen Rheinwiesenlager gegeben. Das Heldengedenken ist in seiner fast religiösen Form unmittelbar an den nationalsozialistischen Totenkult angelehnt. Die deutschen Soldaten von Wehrmacht und Waffen-SS werden symbolisch durch Rufe der Versammlung ins Gedächtnis zurück gerufen. Die Teilnehmenden können in eine nationalsozialistische Mystik abtauchen. Damit ist auch der moralische und politische Fixpunkt des Aufmarsches klar. Neben dem öffentlichen Bekenntnis zum Nationalsozialismus legitimiert diese Gedenkform den politischen Auftrag der Gegenwart. Die vermeintlichen Helden von damals stellen für die Neonaziszene eine Orientierungshilfe und eine zeitliche Verbindung zu ihrem gegenwärtigen politischen Handeln dar.

Zugleich werden Deutsche zu Opfern der Alliierten gemacht.

Die deutschen Soldaten werden zu Helden verklärt, die trotz heroischen Kampfes für ihr Volk nach Ende des Krieges ermordet wurden. Sie seien eben nicht im Krieg gefallen, sondern als wehrlose, schutzbedürftige und entwaffnete Gefangene ermordet worden. Mit Hilfe dieser Logik findet eine perfide Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnis des Nationalsozialismus statt. So ein politisches Gedächtnis hat einen starken legitimierenden Charakter für das Innere der Szene, es stützt die kollektive Identität. Insbesondere für eine politische Szene, die von großen Teilen der Gesellschaft abgelehnt wird, ist eine interne Selbstlegitimierung wichtig.

Ist das revisionistische Narrativ der Nazis denn anschlussfähig an die lokale Erinnerungskultur?

Das neonazistische Ehrengedenken kann nicht mit dem bürgerlichen Gedenken gleichgesetzt werden, das unter den Schlagwörtern der Völkerversöhnung und des Friedens steht. Auch die Behauptung es habe eine Million Todesopfer in den Lagern gegeben, ist wissenschaftlich widerlegt und nicht anschlussfähig. In der Wissenschaft herrscht insgesamt weitgehende Einigkeit darüber, dass die Versorgungslage in den Rheinwiesenlagern von den Alliierten rasch und mit einem erheblichen Aufwand an Ressourcen verbessert wurde. Auf den ersten Blick ist die Trennung also klar. Weniger klar fällt die Bewertung jedoch aus, wenn es um die lokal verankerten und immer noch wirksamen Erzählungen über die Rheinwiesenlager geht.

Ab dem Kriegsende festigten sich lokale Mythen und Erzählungen, vor allem im sozialen Umfeld von ehemaligen Insassen, ihren Angehörigen und der lokalen Bevölkerung, die dann schließlich zur subjektiven und kollektiven Wirklichkeit wurden. Dazu zählten vermeintliche Todeszahlen und Grausamkeiten in den Lagern, auf denen auch das rechte Opfernarrativ basiert. Schnell haftete den Rheinwiesenlagern das Bild alliierter "Schreckenslager" an. Es liegt in der Natur subjektiver Erinnerungen den Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus, dem deutschen Vernichtungskrieg und dem industriellen Massenmord auszublenden. Diese individuellen und familiären Gedächtnisse sind nicht notwendigerweise gleichzusetzen mit politischen und gesamtgesellschaftlichen Erinnerungen – auch wenn sie diese natürlich mitprägen. In verschiedenen Gedenk- und Erinnerungsorten wurden sie allerdings konserviert. Zumindest hier steht allein das Opfer der internierten Deutschen im Mittelpunkt der Erinnerung.

Einer dieser Gedenkorte ist die Friedenskapelle der Schwarzen Madonna, wo die Neonazis jährlich ihre Zwischenkundgebung abhalten. Die namensgebende Lehmskulptur stammt vom Künstler Adolf Wamper, der 1933 in die NSDAP eintrat und 1944 in die "Gottbegnadeten-Liste" der wichtigsten NS-Künstler aufgenommen wurde.

Gebaut wurde die Kapelle Mitte der 1980er Jahre auf Bestreben des damaligen Bürgermeisters von Remagen. Den Erzählungen nach entdeckte er die im Remagener Gefangenenlager entstandene Lehmskulptur wieder.

Was mir in den Zusammenhang wichtig erscheint, ist der Eindruck, der durch die Gedenkstätte entsteht und dort weiterlebt. Die Kapelle soll schon in ihrer Architektur die Lebens- und Leidensbedingungen der Insassen wiedergeben. Keine Mauern, nur ein zeltähnliches Dach schützt den Innenraum der Gedenkstätte vor dem Wetter. Diese Leidensliturgie der Kapelle wird durch einen Dornenkranz aus Stacheldraht auf der Kuppel ergänzt. Die Gedenkstätte kombiniert die christliche Mythologie der Auferstehung mit dem Opfernarrativ der Soldaten, die als passive Opfer von Krieg, Hunger und Elend erscheinen.

Zugleich ist die Friedenskapelle der zentrale Erinnerungsort an die Rheinwiesenlager.

An ihrem Beispiel wird konkret deutlich, wie ein Erinnerungsort verschiedene individuelle und kollektive Erinnerungen zusammenbringt und verfestigt. Ehemalige Insassen, also Angehörige der verschiedenen Militärverbände des Dritten Reichs, waren maßgeblich an der Schaffung dieses Gedenkortes beteiligt. Ein Erinnerungsort ist aber auch ein politischer Raum, in dem verschiedene Vergangenheitsbezüge eine Deutung erfahren. Kollektive bzw. politische Erinnerungen bestehen ja nicht nur aus der Vergangenheit. Sie stehen in Zusammenhang mit der Gegenwart, sie legitimieren das eigene Weltbild und das eigene Handeln. Aber auch die Zukunft wird von Erinnerungen geprägt, denn sie weisen auf ein angestrebtes Ideal hin. 

Beim Remagener Bündnis für Frieden und Demokratie heißt es: Auch Deutsche "waren Opfer, aber sie litten als Folge dieses verbrecherischen (deutschen, J.M.G) Angriffs-Krieges. Die Friedenskapelle ‚Schwarze Madonna‘ mahnt daran." Kritik an dem Gedenkort scheint hier in weite Ferne gerückt zu sein.  

Einem kritischen Blick auf Erinnerungskultur geht es nicht darum, Angehörigen und Betroffenen Trauer und Schmerz abzusprechen. Es geht auch nicht darum, von einem richtigen oder einem falschen Gedenken zu sprechen. Wichtig erscheint mir aber, dass sich politische Vorstellungen der Gegenwart ihren Vergangenheitsbezügen stellen müssen. Das heißt: Die Forderung nach Frieden bezieht ihren moralischen Kern aus etwas Vergangenem. Ein Gedenkort, der ausschließlich dem deutschen Leid gedenkt – und das auch noch in so einem prägendem Maße wie in der Region Remagen – begründet seine Forderung nach Frieden mit dem Leid der Täter. Der Gegenbegriff des Krieges wird zum gesichtslosen Täter und somit alle, die unter ihm zu leiden hatten, zu Opfern. Die deutschen Kriegsgefangenen werden zu passiven Opfern von Krieg und Gewalt und erhalten durch die Leidensmythologie, die in der Kapelle zum Ausdruck kommt, einen sakrifizierenden Charakter. Ihr Leid und ihr Tod bekommt nachträglich einen Sinn, sie werden zum ewigen Mahnmal für Frieden. Ein solches Bild des deutschen Soldaten wird dem historischen Kontext und den politischen Konsequenzen, die wir aus dem Nationalsozialismus ziehen sollten, nicht gerecht. Ein plakatives Beispiel, ohne das ernsthaft mit dem Nationalsozialismus vergleichen zu wollen: Die politische Forderung nach schärferen Waffengesetzen in Folge eines Gewaltverbrechens begründen wir ja auch nicht, in dem wir das sakrale Opfer des Täters in seiner anschließenden Inhaftierung betonen, sondern mit dem Schicksal seiner Opfer.

Einerseits stellt sich das Remagener Bündnis dem Neonaziaufmarsch jährlich in den Weg und organisiert Proteste. Andererseits verhüllt es seit 2010 am Tag des Naziaufmarsches die Kapelle. Dafür wurde es 2013 als "vorbildliches und nachahmenswertes zivilgesellschaftliches Engagement für Frieden und Toleranz" vom Bündnis für Demokratie und Toleranz geehrt und mit 4.000€ Preisgeld gewürdigt. Wie schätzen Sie diese Protestform ein? 

Jede zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung mit Naziaufmärschen ist wichtig und begrüßenswert. Gerade in Remagen war es vor einigen Jahren sehr schwer, dass sich abseits vom Herunterlassen der Rollladen überhaupt Gegenprotest formierte. Aus erinnerungspolitischer Perspektive kann man aber auch über den Charakter der verschiedenen Protestformen streiten. Das Abschirmen des Gedenkortes kann auch als ein Abschirmen vor dem politischen Streit um dieses Denkmal, als Entpolitisierung, verstanden werden – je nach Auslegung. Ich denke, wir müssen diese politisch aufgeladenen Erinnerungs- und Gedenkorte, die eben keinen individuellen Ort der Trauer darstellen, dem demokratischen Streit überantworten. Dazu gehört natürlich nicht die neonazistische Vereinnahmung dieses Ortes. Wie aber eine Debatte konkret aussehen kann, ist natürlich Sache der lokalen und regionalen Zivilgesellschaft.

Was muss passieren, damit der Aufmarsch in Remagen für die Nazis an Attraktivität verliert?

Erstens wäre ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis gegen den Aufmarsch wichtig. Bislang ist der Gegenprotest in Remagen geteilt - und das hat auch seine Gründe in der lokalen Erinnerungspolitk. Die Möglichkeit eines breiten Bündnis ist zweitens davon abhängig, ob eine kritische Debatte über die lokalen Gedenkorte und deren gesellschaftliche und politische Bedeutung zustande kommt. Ohne eine Öffnung der Debatte, ohne den Raum zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung auf Augenhöhe, wird es keine Bewegung innerhalb der Zivilgesellschaft geben.

Welche Rolle kommt Ihrem Jugendverband, den Falken, dabei zu?

Wir haben als Kinder- und Jugendverband eine andere Ausgangslage. Abseits der politischen Konflikte können wir in der politischen Jugendbildung zu diesem Thema arbeiten. Natürlich mischen wir uns auch in die politischen Debatten ein, aber uns erscheint es ebenso wichtig, Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus der Region die Möglichkeit zu bieten, sich mit diesem Thema zu beschäftigen und auszutauschen. So haben wir etwa zusammen mit Teilen des Bündnis "Remagen Nazifrei" verschiedene Stationen einer historischen Spurensuche in Remagen vorbereitet. Dazu gehören Stolpersteine, der Jüdische Friedhof und die Friedenskapelle. Ziel ist es, eine kritische Auseinandersetzung und eine (Selbst-)Bildung junger Menschen zu fördern, die über das jährliche Event im November hinaus geht. Der Umgang mit der Neonaziszene, mit menschenfeindlichen und antidemokratischen Bestrebungen im Allgemeinen – und auch die Frage, wie wir mit unserer Vergangenheit umgehen, bedarf mehr als bloß einmal im Jahr Empörung und Flagge zu zeigen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind Begriffe, die wir uns bewusst, aber auch selbstkritisch, im Rahmen unserer politischen Vorstellungen, Werten und Zielen aneignen müssen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Jan Maximilian Gerlach für den hpd.