Horst Herrmann schlägt einen Paradigmenwechsel vor, der nicht nur das Leben von Christen neu ausrichtet, sondern auch das von Nichtgläubigen, die es immer wieder mit Gott- und Kirchengläubigen zu tun haben: Sexualität bedeutet Leben, doch was Millionen Menschen erfahren mussten, war bewusste Zerstörung von Leben. Und er fragt, bei allem agnostischen Vorbehalt, ob ein Gott gewollt hat, was Kirchen und von diesen gelenkte Gesellschaften angerichtet haben.
Typisch für viele Christen und besonders für ihre Führer sind noch immer wirksame Zurichtungen einer Wirklichkeit durch Dichotomien, also durch zur Zweiheit zerschnittene Begriffs-Realitäten: Erotik gegen Sexualität, Gier gegen Eros, wahre Liebe gegen triebhafte Liebe, hohe Minne gegen niedere Sinne, Sittlichkeit gegen Sinnlichkeit, Disziplin gegen Trieb, Wollust gegen Keuschheit, Hure gegen Madonna, Leib gegen Geist.
Doch ich halte demgegenüber fest: Jesus, nach kirchlicher Doktrin der "Sohn Gottes", hat zu einem Thema geschwiegen, das im Vatikan auffallend oft behandelt wird: Sexualität. Obwohl es schon zu seiner Zeit Abtreibung, Geburtenkontrolle, Masturbation, Homosexualität gab, hat er nichts dazu gesagt. Ob eine lustfeindliche und homophobe Vatikanische Konfession, die sich Kirche nennt, daraus nicht lernen sollte?
Es hat jedoch Methode, dass Jesus zu einer männlichen Jungfrau stilisiert ist. Sexualität mit ihm zu verbinden, erscheint einer Kirche, die von Ehelosen gelenkt wird, ziemlich unpassend. Und Millionen von Gläubigen sind noch immer von einer tausendjährigen sexualneurotischen Indoktrination gefesselt. Eine Befreiung wird Zeit benötigen. Aber sie muss kommen: Gott, über den ich hier zu den Gottgläubigen rede, hat keine Sexualverbote favorisiert. Wohl aber hat er allen Menschen Lust anvertraut. Weshalb sollten sie das evolutionäre Ereignis nicht nutzen?
Kleriker, ständige Besserwisser und Nachbesserer, verbieten einen solchen Paradigmenwechsel, der Homosexualität, Masturbation und so fort nicht mehr verteufelt, sondern auf ein Lustangebot für alle stützt. Kleriker wollen Angst machen und Angst fördern, darin sind sie seit Jahrhunderten geübt.
Kleriker haben sich ihren Amtsgott zurechtgebastelt: einen Datenspion, einen Staatsanwalt und Richter, der jedes Detail menschlichen Handelns überwacht und früher oder später sanktioniert. Dieses Gottesbild nützt allein den Kirchenfunktionären, zumal sie Alles regeln und sogar Hoffnung auf Abhilfe anbieten können – wenn die Menschen ihren Vorgaben gehorchen.
Das zutiefst inhumane Vorgehen lässt sich besonders einprägsam am Beispiel der menschlichen Sexualität festmachen. Selbsternannte kirchliche Wertepaten glaubten, Alles regeln zu müssen. Sie schlossen sich ein in Vorschriften, verzettelten sich in den Details ihrer favorisierten Sünde "Sex" und setzten zum Schaden von Abermillionen Menschen das Verbot jedes Lustgewinns außerhalb einer Ehe durch. Schließlich grassierte eine ebenso selbstgerechte wie perverse Haltung: Die Lust am Verbieten des Sex dominierte die Lust am Sex.
Lust, das lautere Wort, fiel Sittenprofis ins Maul. Nun lebte Liebe nach Norm, und Madonna schlug Venus im Bett. Geile Freude der Prediger. Nirgends Schuld, kein Geständnis, kein Pardon. Obszön sind die Reinen.
Noch immer finden sich Priester, die Sündenkataloge abfragen, auffällig oft mit Schwerpunkt Sexualmoral. Sie beabsichtigen, nach Übertretungen zu fahnden. Wollen sie Ängste zementieren? Wer aber ein solches Stasi-Verhalten an den Tag legt, gehört davongejagt. Er handelt übergriffig.
Eine grundsätzliche Feststellung: Wir leben nicht zu viel Sexualität, sondern zu wenig. Die Dimension der Breite ersetzt nicht die der Tiefe. Zwar wird Sex heute in immer häufiger wechselnden Begegnungen "gehabt", statt ihn in geduldigen Beziehungen immer tiefer zu erleben. Die Unausschöpflichkeit des Menschen wird auf diese Weise weder entdeckt noch erprobt. Tiefe ist gefragt, nicht Breite. Intensität und Vertiefung einer Beziehung sind nötig, nicht ständige Flucht in den Wechsel.
Regeln für den Umgang mit unserer Sexualität sind gewiss unumgänglich. Aber sie sollten - auf dem Hintergrund einer übergriffigen Vergangenheit - so zurückhaltend wie möglich sein.
Ein Beispiel: Millionen und Abermillionen von Jugendlichen haben die eigene Sexualität nur als Sünde kennen gelernt. Masturbation war gebrandmarkt. Die Psychen waren entsprechend verformt: Immer wieder dieselbe angebliche Verfehlung. Immer wieder der Gang zur Beichte. Immer wieder die abfertigende Routine. Ein geebneter Weg in die Glaubenswüste. Und keine Entschuldigung der Verantwortlichen. Kein Schuldbekenntnis einer Kirche, die Unzählige unter ihrem irrigen Verständnis von Sünde leiden ließ. Und heute Krokodilstränen vergießt, weil ihr die meisten Jugendlichen nicht mehr trauen.
Sie würde besser über ihre eigene Schuld und ihre Herrenattitüde weinen. Doch dazu war sie noch nicht fähig und bereit. Mit einer solch reuelosen Kirche weiß Gott nichts anzufangen. Gut anzunehmen, dass er sie gar nicht erst gewollt hat.
Was wenig erleuchtete Hirten, die ihren Normenwahn auf Bischofskonferenzen, Synoden und Konzilien befriedigten, den Herden antaten? Es wird vermutlich ungesühnt bleiben wie eh und je. Wir helfen uns besser selbst.
Ein gewechseltes Paradigma kann in einem einzigen Satz eine tragfähige Haltung begründen: Sexuelle Freiheit endet, wo die der Anderen beginnt. Freiheit ist auch in diesem Fall durch Rücksicht beschränkt. Rücksichtnahme ist eines der wichtigsten ethischen Prinzipien. Es ist allgemein einsichtig zu machen.
Es sollte immer wieder gesagt werden: Keuschheit ist nicht eine klerikal auf Unterleibsprobleme eingeengte Tugend. Der Begriff muss entlastet und geweitet werden: Keuschheit meint den Respekt vor der Intimsphäre, vor dem Lebensgeheimnis der anderen. Unkeusch handelt dagegen, wer interessegeleitete Blicke auf die andere Person richtet, Schamgefühl überspringt, Unsicherheiten ausnutzt, eine übergriffige Nähe sucht.
Weiter machen wie gehabt? Dann ändert sich nichts daran, dass eine unbewegliche Kirche mit den Liebeserfahrungen von Menschen hadert. Kirche? Ihre Kernbotschaft soll nach eigenem Bekunden in Gottes Liebe bestehen. Doch sie steht nicht nur im Ruf, mehr unschuldiges Blut vergossen zu haben als alle politischen Kriege zusammen. Sie verfährt auch in ihrer Alltagspraxis lieblos. Und sie leitet ihre Gläubigen zu dieser Haltung an: Eltern verstoßen ihre Tochter, weil sie einen Mann heiratet, dessen erste Ehe gescheitert ist. Paaren wird der Segen verweigert, weil sie schon vor der Ehe zusammenleben und das nicht als Sünde sehen. Schwangere Schülerinnen fliegen von der Schule, erneut verheiratete Geschiedene werden von der Eucharistie ausgeschlossen, kirchliche Mitarbeiter verlieren den Job.
Solche Herzlosigkeiten haben nichts mit Gott zu tun. Und ringsum stirbt der Glaube in diesem Frost, in dieser Wüste.
Barmherzigkeit, die Papst Franziskus medienwirksam anmahnt, löst das Problem nicht. Sie mildert das frostige Klima. Doch sie beseitigt die Ursachen für diesen Frost nicht: die starr dogmatische Härte in der Auslegung biblischer Texte und in einer Tradition, von der es offenbar kein Zurück geben darf. Und warum lässt sich da nichts lockern? Weil angeblich Gottes Geist in Schrift und Tradition am Werk war. Soll eine unflexible Sackgassen-Theologie das letzte Wort behalten? Ist die Kirche selbst gott- und glaubenslos?
Grundsätzlich wird schon Kindern eingetrichtert, was Gott will und was nicht. Und was passiert, wenn wir nicht gehorchen. Immer wieder wird das gesagt. Dann sitzt der Gehorsam genauer. Ich möchte nicht in der Haut derer stecken, die für solche Perversionen verantwortlich sind. Die Verantwortung ist bis heute nicht genommen. Noch immer werden Kinder auf diese Weise pervertiert.
Ich weiß, wovon ich rede. Ich blieb jahrelang ein Verführter. Ich sollte dazu taugen, andere zu verführen. Die Belästigung, mit deren Hilfe Kleriker mich erzogen, bestand darin, mein Denken, Fühlen und Handeln in Besitz zu nehmen. Ich sollte alles für wahr halten, was sie im Voraus definiert hatten, um es mich glauben zu heißen.
Beispiele: Die Liebe eines Menschen durfte nicht dem gehören, was er lieben will und kann. Nicht den Eltern, nicht den Partnern, nicht dem Buch seiner Wahl, nicht dem selbstständigen Denken. Die Liebe, die die Kirche meint, ist vorprogrammiert, damit sie die wahre sei: Liebe zum verordneten Denken, Liebe zu den diesem Denken vorgesetzten Vätern, Liebe zu einer Gottheit, welche die Systemwahrer nach ihrem eigenen Bild und zu ihrem eigenen Profit schufen.
Sind wir nun aber Menschen zweiter Klasse, vergleichsweise leichtgewichtige Denker, wenn wir innerkirchliche Probleme für überholt und menschenfern halten - und unser Leben und Denken beherzt in die eigenen Hände nehmen?
Zig Millionen Menschen haben erkannt, dass ein Leben ohne kirchengeregelte Religion nicht jenes Monster darstellt, als das es Kleriker darstellen. Selbst wenn es in frommen Ohren hart klingt: Auch da draußen leben Menschen. Und immer seltener gelingt es den Kirchen, angebliche Vorzüge des Christlichen zu begründen. Wie lange mag es noch dauern, bis Christen die Historie der Religion als Geschichte der Blut- und Denkopfer begreifen? Bis sie Konsequenzen ziehen?
14 Kommentare
Kommentare
Klarsicht am Permanenter Link
„Glaubens-Infizierte“ werden durch das christliche Glaubenssystem dazu genötigt, zu wahren Liebesjongleuren zu werden.
Christliche „Liebes-Skurrilitäten“:
https://www.youtube.com/watch?v=yZGst2Lx26o
Gruß von
Klarsichtig/Klarsicht
Wolfgang am Permanenter Link
Diese Scheinheiligkeit ist nicht zu toppen, Kinder missbrauchen aber anderen Sex als Sünde zu deklarieren, wie inhuman und hinterhältig ist das denn? Die Kirche hat allerdings
Paul am Permanenter Link
Unser ehemaliger Dorf-Tyrann, in der Erde ist er verfault, hatte es in seiner Blütezeit gerne mit seiner Köchin getrieben.
Edgar Steinbrecher am Permanenter Link
Was diesbezüglich immer wieder todgeschwiegen wird, von Seiten dieser Vereinigung welche sich Kirchen nennen ist der Blickwinkel, das es sich bei dem Sexualtrieb um den wichtigsten Trieb aller Menschen handelt.
Stefan am Permanenter Link
Das wissen die genau. Das ist ja der Grund weshalb die Sexualität kontrollieren wollen.
Hannes am Permanenter Link
Ich finde den Artikel sehr gut. In den allgemeinen Tageszeitung en fehlen derlei Informationen.
Kay Krause am Permanenter Link
Für mein Verständnis geht der Autor davon aus, es gäbe einen Gott.
Das zumindest, ebenso die tatsächliche Existenz eines Jesus, stelle ich mal infrage.
Die Lösung dieses Problemes ist relativ einfach: Ihr gläubigen Christen, verweigert Euch einfach den Dogmen dieser Kirche (was ja viele von Euch sowieso schon tun!). Verweigert Euch den bigotten und scheinheiligen Predigten dieser selbsternannten "Gottesmänner". Wenn Ihr denn schon unbedingt diese Phantasiefigur "Gott" benötigt, um Euer Leben zu meistern, so sei es Euch von Herzen gegönnt. Aber was hat diese Kirche mit irgendeinem möglicherweise existierenden Gott auch nur im Geringsten gemein? Das Leben ist schön, genießt es, soweit dieses möglich ist, Ihr habt nur das eine!
Wolfgang am Permanenter Link
Das Problem bei den scheinheiligen Christen, sie haben weder Ahnung von ihrer Bibel noch haben sie fundierte Kenntnisse über Sex in Theorie und Praxis.
Norbert Schönecker am Permanenter Link
Was der Autor über die Tiefe und die Breite der Sexualität schreibt, gefällt mir sehr gut. Auch der Teil über die Keuschheit. Das ist auch ziemlich genau das, was ich im Studium im Priesterseminar gelernt habe.
Wie Sie die Kirche erlebt haben, muss ich Ihnen glauben. Sie sind ja wahrlich nicht der einzige, der die Kirche so kennengelernt hat. Traurig für die Opfer, beschämend für die Kirche.
Ich habe die Kirche aber anders erlebt. Und damit bin auch ich bei weitem nicht alleine. Millionen Menschen erleben eine Kirche, in der eigenes kritisches Denken, Eigeninitiative und individuelle Lebensführung nicht nur toleriert, sondern als Bereicherung begrüßt wird.
Natürlich gibt es Grenzen dort, wo die Grundlagen des christlichen Glaubens verlassen werden. Aber die Sexualmoral gehört nicht zu den Grundlagen des christlichen Glaubens. Der Autor hat ja sehr treffend geschrieben, dass die Evangelien über die Sexualmoral auffallend wenig sprechen.
Ich kann als katholisch geprägter Mensch ehrlich feststellen, dass ich als Kind und Jugendlicher in der Pfarre, als Schüler im Religionsunterricht, als Student im Priesterseminar und an der Universität herzlich wenig über Sexualmoral gehört habe. Themen wie Nächstenliebe, weltweite Solidarität, Gottvertrauen, Familie, Umweltschutz, Gebet, Friede u.s.w. waren immer wichtiger. Auch im Katechismus der Katholischen Kirche nehmen sie mehr Platz ein.
Ich weiß: Das war nicht immer so. Es ist wahrscheinlich auch heute nicht überall so. Aber die Kirche pauschal als sexualneurotisch darzustellen, geht an der gegenwärtigen Realität vorbei.
Frank Linnhoff am Permanenter Link
Ich bin 7 Jahre jünger als Horst Herrmann, doch immer noch alt genug, um mitterlebt zu haben, welch ungeheuren Druck die katholische und protestantische Geistlichkeit noch in den 1950er und 1960er Jahren in Bezug auf
Ralph Knauf am Permanenter Link
Sehr interessant und aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist eine Vorlesung des Theologen Prof.
Einige Beispiele: In der Geschichte von Onan und Tamar im 38. Kapitel des 1. Buches Mose hat Onan ja gar nicht onaniert; er ließ beim Geschlechtsakt seinen Samen auf den Boden fallen und damit war er verdorben (Coitus Interruptus). Die kleinen Menschlein im Samen waren „ermordet“ und Onan wurde deshalb von Gott nach dem Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ ebenfalls vernichtet. Die „Sünde“ Onanieren, d.h. das lustvolle Spielen an den Geschlechtsorganen, ist später dazu erfunden worden, weil sie zum gleichen Ergebnis führt: Nach der Ejakulation gelangt der Samen nicht in das von Gott bestimmte Gefäß, die Frau, sondern wird vernichtet. Sündhaft und verdammenswert war und ist dann auch der nächtliche unwillkürliche Samenerguss. Aus diesem Grund war die Masturbation jahrhundertelang ein Verbrechen (wie Mord), die Vergewaltigung einer Frau aber nicht. Wenn der Vergewaltiger die vergewaltigte Frau heiratete, war in der Regel alles wieder bereinigt. Bei der Vergewaltigung ist der Samen schließlich nicht verloren, sondern, wie oben bereits beschrieben, im richtigen Gefäß. Vermutlich wurde auch aus diesem Grund im Januar 2013 die vergewaltigte Frau in Kölner katholischen Krankenhäusern nicht behandelt. Nach dieser Vorstellung hätte die Behandlung den Samen des Vergewaltigers ja vernichtet und den behandelnden Arzt damit zum Mörder gemacht. So ist auch das päpstlich Verhütungsverbot leicht verständlich: Bei allen Verhütungsmethoden werden die Menschlein im Samen ja „ermordet“. Aus gleichem Grund wird in 3. Mose 20,13 nur der Vollzug der männlichen Homosexualität als Gräueltat bezeichnet und mit dem Tod bedroht, nicht aber der der weiblichen. Bei der weiblichen besteht schließlich keine Gefahr des Samenverlusts, bei der männlichen aber schon.
Udo Endruscheit am Permanenter Link
Das Ganze hat auch einen schwer pathologischen Aspekt auf Seiten der Hüter der kirchlichen "Moral".
Horst Herrmann am Permanenter Link
Richtig, richtig. Und dazu ein kurzer Bericht aus meiner "Werkstatt". Mein nächstes Buch heißt "Keuschheitswahn. Vom Krieg der Christen gegen den Unterleib".
Andrea Diederich am Permanenter Link
Man kann mit nichts mehr Macht über Menschen ausüben, als mit Religion und die damit verbundene Sexualmoral.