Interview mit Steffen Dobbert

"Putin betreibt Lügendiplomatie"

Russland steht in der Kritik. Dem Kreml werden aktuell Kriegsverbrechen in Syrien, Cyber-Angriffe und eine gezielte Desinformationspolitik vorgeworfen. Der hpd sprach mit Steffen Dobbert über die russische Politik. Er arbeitet als Redakteur im Politikressort von ZEIT ONLINE und hat eine Forschungsarbeit über die sogenannte "hybride Kriegsführung" Russlands erstellt.

hpd: Russland greift seit September letzten Jahres massiv in den Syrien-Krieg ein, um das Regime unter Baschar al-Assad zu stabilisieren. Wie stark ist Russlands Interesse am Machterhalt des syrischen Staatspräsidenten?

Dobbert: Es ist Russlands primäres Interesse. Entgegen anderweitiger Behauptungen, die manchmal vom russischen Außenminister oder auch von Wladimir Putin verlautbart wurden, diente das meiste russische Engagement in Syrien bisher der Stärkung Assads. Das haben wir gerade gesehen, als Aleppo von Assads und Irans Kämpfern eingenommen wurde. Russland hatte mit der Schwächung unterschiedlicher Rebellengruppen durch seine Luftbombardements den entscheidenden Anteil daran.

Welchen Stellenwert nehmen Menschenrechte in der russischen Außenpolitik ein?

Leider keinen hohen. Oftmals werden Tote einfach in Kauf genommen. Es spielt in der machtpolitischen Welt von Putin eine untergeordnete Rolle, ob hundert Menschen mehr oder weniger sterben. Das ist ziemlich brutal, aber wenn man sich die letzten Jahre anschaut, Krieg in Tschetschenien, Krieg in Georgien, anhaltender Krieg in der Ukraine, dann muss man es leider so konstatieren.

Angesichts der Barbarei in Aleppo haben Sie in einem Kommentar auf ZEIT-Online Wirtschaftssanktionen gegen Russland gefordert. Wie wirksam sind solche Sanktionen?

Es gibt einen Präzedenzfall. Als 2014 die Krim von Russland annektiert und der Krieg in der Ost-Ukraine entfacht wurde, war die Weltgemeinschaft und speziell die Europäische Union ziemlich überrascht. Nach einer gewissen Zeit des Zögerns wurden jedoch Wirtschaftssanktionen verhängt. Danach ließ Russland keine weiteren Gebiete der Ukraine besetzen, die Vision von einem Neurussland, das von der Krim bis nach Odessa reicht, wurde nicht umgesetzt. Ich denke, dass Einreiseverbote für bestimmte Personen und vor allem Sanktionen, die Russland am Zugang zum Finanzmarkt hindern, am meisten Wirkung erzielt haben. Denn die russische Wirtschaft leidet darunter, wenn Banken sich nicht am Finanzverkehr beteiligen können. 

Es dauert zwar eine ganze Weile bis die Wirkungen eintreten. Im Fall von Russland ist es aber der einzig gangbare Weg, weil man nur so ein Zeichen setzen kann. Die andauernde Verletzung von Menschenrechten darf nicht einfach so hingenommen werden. Wirtschaftssanktionen sind diesbezüglich die bestmögliche Reaktion.

Haben Wirtschaftssanktionen gegen Russland negative Konsequenzen für Europa?

Natürlich. Wirtschaftlich wird es auch einige Beeinträchtigungen für die europäische Seite mit sich bringen. Putin reagierte ja auch im Ukraine-Fall mit Gegensanktionen. Angesichts der stattfindenden Massaker in Syrien müsste jedoch das Primat der Politik gelten. Menschenrechte sind wichtiger als Wirtschaftsinteressen.

Die Sanktionen werden wahrscheinlich nicht zu einem entspannteren Verhältnis zu Russland beitragen. Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass die Situation irgendwann eskalieren könnte?

Ich schätze sie gegenwärtig geringer ein als noch vor einem Jahr. Wenn man dem glauben kann, was Donald Trump angekündigt hat, will er als neuer Präsident eher auf Putin zugehen. Höchstwahrscheinlich wird die neue US-Regierung keine Waffen in die Ukraine liefern und sich in Syrien auf irgendeine Art von Deal mit Putin einlassen.

Gleichwohl kann niemand einschätzen, wie Wladimir Putin in den nächsten zehn Jahren selbst reagiert. Wenn die Situation in Russland sich weiter verschärft, wenn der wirtschaftliche Aufschwung ausbleibt und die Unzufriedenheit der Leute größer wird, ist es nicht ausgeschlossen, dass er irgendwo einen weiteren Krieg anfängt, um von den Problemen im Land abzulenken. 

Sie werfen der russischen Regierung "Lügendiplomatie" vor. Wieso?

Wenn einer das eine sagt und das andere macht, kann man das eine Lüge nennen. Genau das ist Teil russischer Außenpolitik. Wir haben im Ukraine-Konflikt gesehen, wie mehrmals auf diplomatischer Ebene gesagt wurde, dass die Kämpfe eingestellt werden. Danach wurden beispielsweise die Städte Ilowajsk und Debalzewe und weitere Gebiete in der Region Donezk eingenommen. 

In Syrien ist es grade ähnlich. Im Frühjahr diesen Jahres sagte Putin, dass "die Hauptaufgaben von Russlands Streitkräften in Syrien erfüllt wurden". Daher solle der Abzug des Großteils des Militärkontingents beginnen. Danach fand genau das Gegenteil der Ankündigung statt. Es gab eine Offensive und der Weg für Assads Truppen wurde freigebombt. Vor gut einer Woche endete das OSZE-Treffen in Deutschland. Dort hat der russische Außenminister davon gesprochen, dass in Syrien eine humanitäre Mission laufe, um Zivilisten in Sicherheit zu bringen. In den Tagen danach ist der Sturm auf Aleppo erst richtig in Gang gekommen.

Dieses Spiel hat System in der russischen Außenpolitik. Wann immer Wladimir Putin oder sein Außenminister etwas sagen, kann man sich sicher sein, dass die großen Nachrichtenagenturen das zitieren. Dann steht es erstmal in der Welt und die reagiert natürlich darauf. Daraus schlägt Russland Profit. 

Gilt Ihr Vorwurf der "Lügendiplomatie" nur Russlands? 

Dass diplomatisch gelogen wird, ist selbstverständlich keine Sache, die nur in Russland erfunden wurde. Die Gründe für den Einmarsch der USA in den Irak waren zum Beispiel auch eine Lüge, mit der die Öffentlichkeit getäuscht wurde. Aber wenn man sich die letzten zehn Jahre anschaut, dann tut sich Russland in der Hinsicht schon sehr hervor. Genau in dieser Zeit wurde die hybride Kriegsführung in Russland auf ein neues Level gehoben.

Gegen Russland stehen momentan Vorwürfe im Raum, dass eine gezielte Desinformationspolitik betrieben wird. Wie sieht diese aus und wie kann man ihr begegnen?

Russland nutzt Lügen auf diplomatischer Ebene, darüber haben wir schon gesprochen. Daneben funktioniert Desinformation durch die die Beeinflussung von Medien. Besonders digitale und soziale Medien werden von Russland dafür erschaffen oder missbraucht. Da geht es auch um Phänomene, die momentan als "Fake-News" in aller Munde sind. Ein weiteres Element der russischen hybriden Kriegsführung sind Cyber-Angriffe, bei der Informationen gehackt und dann verbreitet werden. 

Wie man damit umgeht? Der erste notwendige Schritt ist, dass man sich dem gewahr wird und es nicht schön redet. Wenn der russische Präsident oder der Außenminister sich das nächste mal vor die Kameras stellen, sollte man skeptisch zuhören.

Auf professioneller Ebene gibt es mittlerweile im europäischen auswärtigen Dienst eine Abteilung, die sich mit Desinformationspolitik befasst. Und auch in Deutschland und einigen anderen Ländern der EU setzen sich der BND und andere Geheimdienste mit verschiedenen Maßnahmen auseinander, wie man auf die hybride Kriegsführung Russlands reagieren kann.

Zuletzt ein Blick auf ideologische Konfliktlinien: Wie steht die russische Regierung zu den Prinzipien der offenen, liberalen Gesellschaft? 

Die westlichen Demokratien haben sich in den letzten 20-30 Jahren immer weiter liberalisiert. Die Freiheiten und die Gleichberechtigung wurden immer größer und selbstverständlicher. Putin versucht dieser Entwicklung ein konservatives Gegenmodell entgegenzuhalten, bei dem die Familien angeblich intakter sind, traditionelle Geschlechterrollen betont werden und Autoritäten eine große Rolle spielen. Die AfD und andere rechtsorientierte Parteien in Europa treten für ähnliche Werte ein und werden von Russland unterstützt. 

Ob dieser autoritäre Gesellschaftsentwurf bei der jungen Generation in Russland, die in den großen Städten lebt, nur erstrebenswert ist, wage ich zu bezweifeln. Die digitale Revolution führt auch dort zu Veränderungen, und auch die russische Gesellschaft entwickelt sich. Junge Leute, die sich nicht nur über russische Staatsmedien informieren, wissen, dass im Westen nicht alles schlecht ist. Viele haben Interesse daran, vielleicht häufiger mal nach London, Berlin oder Paris zu fahren. Solch ein Austausch ist wichtig, weswegen ich eine Visa-Liberalisierung oder Erasmus-Projekte für Russland befürworte.

Offene Gesellschaften zeichnen sich auch durch ihr Verhältnis zur Säkularität aus. Wie stark ist die Verbindung zwischen Religion und Staat in Russland?

Ich war vor wenigen Jahren in Moskau und habe den ehemaligen Sprecher der russischen Kirche getroffen. Dort habe ich live erlebt, wie die Kirche für die Politik genutzt wird. Viele Russen sind gläubig und unterstützen Putin, der sich regelmäßig mit dem obersten Kirchenvertreter austauscht. Gerade vor wenigen Tagen sagte der Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche Kyrill, der Krieg in Syrien sei gerecht, heilig, und es sei ein Verteidigungskrieg. Ähnlich absurd, aber pro-putin hat sich die Kirche in Russland auch während des Ukraine-Krieges verhalten. Eine wirkliche Säkularisierung, wie sie in Europa stattfindet, ist so in Russland nicht erkennbar. Aber auch das kann sich noch ändern.


Steffen Dobbert arbeitet seit 1999 als Redakteur und Autor, u.a. für ZEIT ONLINE, Die ZEIT, die SZ, die FAZ, das Fußballmagazin RUND, die Schweriner Volkszeitung und Spiegel Online.

Für ZEIT ONLINE konzipierte er das Sportressort und leitete dieses von 2008 bis 2014. Danach arbeitete er in der Hamburg-Redaktion der ZEIT, bevor er als Redakteur in das Politik/Gesellschaftsressort von ZEIT ONLINE wechselte.