Kontroverse Diskussion im Humanistischen Salon Nürnberg über die Bedeutung christlicher Moral in der pluralistischen Gesellschaft

Säkulare Denker uneins über christliche Werte

Wer neu in der säkularen Szene ist, könnte auf die Idee kommen, weltliche Humanisten müssten sich weitgehend einig sein in ihrer Bewertung christlicher Moral. Doch das ist natürlich mitnichten der Fall. Wie weit die Sichtweisen auseinandergehen können, bewies am letzten Wochenende eine Debatte zwischen Andreas Edmüller und Gerhard Engel mit dem Titel "Christliche Werte? Streit um ein schwieriges Erbe"

Etwa 80 Besucher waren am Sonntag vormittag ins Nürnberger Café PARKS gekommen. Zwischen Brunch-Gemütlichkeit und Klavierimprovisationen von Mitorganisator Claus Gebert lauschten sie einem Streitgespräch, in dem es ordentlich zur Sache ging. Denn während Edmüller christliche Werte für widersprüchlich und beliebig hält, meint Engel, wir verdankten ihnen die Entstehung von Freiheit und Individualismus.

Den Anlass für die Diskussion lieferte das 2015 erschienene Buch von Andreas Edmüller "Die Legende von der christlichen Moral: Warum das Christentum moralisch orientierungslos ist". Darin vertritt der Philosoph und Unternehmensberater Edmüller die These, dass es so etwas wie eindeutige, christliche Werte gar nicht gibt. Denn "für jede nur denkbare moralische Position gibt es Christen, die sie vertreten."

Und das seien auch nicht irgendwelche Christen, so Edmüller, sondern bestens ausgebildete, prominente Vertreter ihrer Religion, die dafür sowohl ihr Gewissen wie die heilige Schrift intensiv studiert hätten. Die Ergebnisse seien Argumentationen für und gegen die Sklaverei, für und gegen die Gleichberechtigung der Frau, für und gegen Homosexualität und genauso auch für und gegen Demokratie und Toleranz. Was sei das anderes als völlige moralische Orientierungslosigkeit?

Für seinen Kontrahenten in der Debatte, den Philosophen und Sozialwissenschaftler Gerhard Engel, stimmt etwas an dieser Argumentation nicht. "Es gibt keine einheitliche christliche Moral? Aber es gibt doch auch keine einheitliche säkulare Moral!" Für ihn stellt Edmüller Forderungen an die christliche Moral, die die säkulare Moral auch nicht erfüllt. Er ordnete das Buch daher als eine Kampfschrift ein, die vor allem dazu diene politische Ziele zu erreichen.

Statt solcher Polarisierung mahnte Engel bei der Einschätzung christlicher Werte eine historische Perspektive an. Warum gebe es im Ländervergleich eine so starke Korrelation zwischen westlich-christlicher Tradition und Demokratie? Für ihn ist klar: "Das hat theologische Gründe!"

Claus Gebert, Foto: © Adam-Radmanic Brynja

Claus Gebert, Foto: © Adam-Radmanic Brynja

Der Individualismus und damit auch die Idee von Freiheitsrechten für Einzelne ist laut Engel nicht nur zufällig als Sonderweg des Westens entstanden, sondern als Konsequenz christlicher Ideen und dem Prozess ihrer Institutionalisierung in Europa. Historisch sei auch entscheidend gewesen, dass und wie das Moralsystem implementiert wurde. "Es nützt nichts, Werte zu proklamieren, wenn Sie niemanden finden, der ihnen folgt!"

Diese Darstellung wiederum wies Edmüller entschieden zurück. Die Demokratie folge nicht aus christlicher Moral. Im Gegenteil. "Unsere Werte, unsere Freiheit und Demokratie sind Produkte der Aufklärung und die knüpfte an antike Philosophen an," erklärte er. "Dazwischen liegen 800 Jahre christliche Barbarei."

Wenn Christen am "Tisch der Moralphilosophie" mitreden dürften, dann nach Edmüllers Auffassung nur, wenn sie daran arbeiteten die Minimalbedingungen für ein Moralsystem zu erfüllen. Dazu zählt er: eine endliche Menge an moralischen Grundannahmen sowie ein Entscheidungsverfahren, wann sie anzuwenden sind und dazu eine gute Begründung, warum die eigene Moral berechtigt ist. Nichts davon kann das Christentum aus seiner Sicht vorweisen.

Engel hielt mit dem Rat dagegen, dass Moralphilosophen sich schon deshalb mit Christen zusammensetzen sollten, weil diese etwas verstünden von nachhaltigem, praktischen Wirken von Moral in Gemeinschaften. Denn es gelte ja nicht nur diejenigen am grünen Tisch zu überzeugen. Das Christentum habe eine gemeinschaftsbildende Kraft.

Edmüller widersprach: "In einer pluralistischen Gesellschaft hat die Begründung der Moral als christlich keine gemeinschaftsbildende, sondern eine zersetzende Kraft." Das zeige das Beispiel Menschenwürde: Nicht-Religiöse seien oft davon abgestoßen, dass die Idee der Menschenwürde mit problematischen Konzepten wie etwa von Seele und Erbsünde verknüpft sei. Daran hänge ja ein ganzes Paralleluniversum bis zur Erlösung am Kreuz. Solche Konzepte gelte es zu säkularisieren.

"Aber wofür?", fragte Engel. "Was gewinnen wir, wenn wir etwas säkular definieren, was eigentlich aus dem Theologischen übernommen wurde?" Ihn störe die Selbstgewissheit, dass irgendwas dadurch besser würde. Er warb für die Einsicht, dass Religion zumindest mal für was gut gewesen sei. Und er gab zu, dass er nicht sicher sei: Ist sie es vielleicht immer noch?

Historisch hätten Religionen den Vorteil gebracht, dass sie Loyalität und Vertrauen über Familien- und Stammesgrenzen hinweg begründeten. "Wer will denn in eine Clangesellschaft zurück, in der jeder nur seinen Familienangehörigen vertraut?", fragte Engel. Das würden wir heute doch als einen großen zivilisatorischen Rückschritt empfinden.

Edmüller stimmte zu, dass eine Gesellschaft eine gemeinsame Entscheidungsbasis brauche, um normative Fragen überhaupt klären zu können, einen Minimalkonsens als Voraussetzung für ein Zusammenleben in der pluralistischen Gesellschaft. Für ihn jedoch ist der Frieden zwischen verschiedenen Christen, anderen Religiösen oder gar Atheisten eben gerade erst möglich, wenn diese Basis säkular ist.

"Wir können uns nicht darauf einigen, ob es einen Gott mit bestimmten Eigenschaften gibt, aber ich glaube, wir können uns auf sowas einigen wie Freiheit und Sicherheit," sagte Edmüller. Niemand würde doch sagen: Nein, ich möchte nicht in Sicherheit leben und nicht nach meiner Facon. Und gerade religiöse Menschen hätten doch ein großes Bedürfnis, nach ihrer Facon leben zu können.

Näherten sich die beiden Redner im Laufe der Diskussion aneinander an? Nicht wirklich. Einig waren sich beide zwar in ihrem Bekenntnis zum Liberalismus. Darin, dass Freiheit und Sicherheit die höchste Priorität hat, Privateigentum wichtig ist und die EU auseinanderbricht, weil Verträge nicht eingehalten werden. Aber über die Rolle, die die christliche Moral in unserer Gesellschaft spielen soll, nein, darüber wurden sie sich nicht einig.

Das liegt nicht etwa daran, dass Engel ausblenden würde, welche Scheußlichkeiten im Namen christlicher Moral begangen wurden, ihm ging es vielmehr darum, auf die Ambivalenz jeder menschlichen Idee und Organisation aufmerksam zu machen. "Die Werte der französischen Revolution sind ganz toll. Aber waren sie das auch noch als Napoleon sie gewaltsam nach Ägypten und in den Irak brachte?" Warum sollte Säkularisierung jeder Moral die Lösung sein, wenn doch säkulare Ideologien genauso Blutspuren hinterlassen haben und wenn Vereine, Firmen und selbst humanistische Verbände in der Lage sind genau die gleichen Probleme hervorzubringen wie sie in Kirchen kritisiert werden?

Edmüller dagegen bekräftigte seinen Appell zum Zurückdrängen christlicher Moral zum Abschluss, indem er über seine persönlichen Gründe zum Schreiben des Buches redete. Seine Kindheit in den 60ern sei noch geprägt gewesen von den Gräben zwischen Katholiken und Protestanten. Es sei verbreitet gewesen, dass Eltern ihren Töchtern und Söhnen verboten mit Kindern der anderen Konfession zu spielen. "Heute weiß ich von kaum jemandem mehr, was er glaubt oder nicht. Und das ist gut. Das ist Fortschritt."

Der "Humanistischen Salon Nürnberg" lockt jetzt monatlich mit dem, was Moderator und Mitorganisator Helmut Fink "seriöse Geisteskost am Sonntagmorgen" nannte. Am 22. Januar stellt in dieser Veranstaltungsreihe Physiker Gerd Ganteför sein neues Buch vor: "Heute Science Fiction, morgen Realität?" Mehr über diesen und weitere Termine sind auf der Website zu finden.