Interview

Linken-Politiker kritisiert geplante Verschärfungen im Abschieberecht

Der  jüngste Gesetzesvorstoß der Bundesregierung zur Verschärfung des Abschieberechts in Deutschland stößt beim stellvertretenden Vorsitzenden der Linken-Fraktion im Bundestag, Frank Tempel, auf deutliche Kritik. Die Regierungskoalition glaube, "ständig auf eine Stimmungslage in der Bevölkerung reagieren zu müssen, die sie selbst damit weiter anfacht", sagte Tempel in einem Gespräch mit der Wochenzeitung "Das Parlament". Wenn es ein Gesetz nach dem anderen zu beschleunigten Abschiebemöglichkeiten gebe, entstehe "in der Öffentlichkeit natürlich das Bild, dass die meisten Flüchtlinge kein Recht haben, hier zu sein".

Herr Tempel, seit 2015 hat die Koalition mehrfach das Abschiebungsrecht verschärft. Jetzt liegt ihr nächster Gesetzentwurf vor. Hat sie jetzt geplante Maßnahmen vorher übersehen?

Frank Tempel, MdB: Nein, sie glaubt, ständig auf eine Stimmungslage in der Bevölkerung reagieren zu müssen, die sie selbst damit weiter anfacht. Wenn es ein Gesetz nach dem anderen zu beschleunigten Abschiebemöglichkeiten gibt, entsteht in der Öffentlichkeit natürlich das Bild, dass die meisten Flüchtlinge kein Recht haben, hier zu sein. Die Fakten sagen das Gegenteil: Wir haben die höchste Anerkennungsquote von Flüchtlingen seit langem, wenn nicht überhaupt die höchste - mehr als 60 Prozent. Und obwohl die Zahl der Flüchtlinge insgesamt deutlich gestiegen ist, hat die der Ausreisepflichtigen nur marginal zugenommen. Ein Handlungsbedarf für immer leichtere Abschiebungen ist gar nicht da.

Ende Januar gab es mehr als 210.000 Ausreisepflichtige bei gut 25.000 Abschiebungen in 2016. Muss da die Ausreisepflicht nicht besser durchgesetzt werden?

Man muss sehen, warum das so ist. Es ist ein Problem, erkrankte Menschen in Länder mit sehr schlechter medizinischen Versorgung zurückzuschicken. Auch macht uns die UN-Kinderrechtscharta bestimmte Vorgaben. Und es ist Bestandteil des Völkerrechts, dass die Identität von Flüchtlingen geklärt werden muss. Dabei ist es nicht immer kriminelle Energie, wenn Flüchtlinge ihre Identität verschleiern, sondern sehr häufig Angst vor einer Abschiebung. Das ist auch eine Art Notanker, zu sagen: Solange ich meine Identität nicht offenbare, kann ich nicht abgeschoben werden. Insofern muss man sich Gedanken machen über Möglichkeiten für Menschen, die nach dem Asylrecht keine Perspektive haben, aber sich doch eine neue Existenz aufbauen wollen. Ich wäre etwa offen für ein Einwanderungsgesetz.

Zur Klärung der Identität soll das Bundesamt für Flüchtlinge und Migration Handys von Asylsuchenden auslesen…

Das finde ich eine schwierige Diskussion. Es geht ja nicht um Straftäter, und nach dem Rechtsstaatsprinzip dürfte man bei einem Flüchtling auch nicht mehr machen als bei einem normalen deutschen Bürger. Bei mir kann auch niemand einfach alle meine Daten auslesen. Insofern ist es eine Ungleichbehandlung, die rechtsstaatlich nicht zulässig wäre. Man darf einen Flüchtling nicht mit denselben Maßnahmen behandeln wie einen Kriminellen.

Laut Regierungsentwurf können ausreisepflichtige Gefährder auch in Abschiebehaft kommen, wenn es bis zur Abschiebung länger als drei Monate dauert.

Da werden Sicherheits- und Asylpolitik vermischt, indem wir bei Gefährdern sofort über Abschiebehaft reden. Dabei können fast zwei Drittel gar nicht in Abschiebehaft genommen werden, weil sie deutsche Staatsbürger sind. Wir vergessen darüber, über die tatsächliche Aufgabenstellung zu reden, nämlich über eine Modernisierung des Gefahrenabwehrrechts. Dabei würden Nationalität und Herkunft des Gefährders gar keine Rolle spielen. Wir brauchen Regularien, die für alle Gefährder gelten. Aber man führt eine Ersatzdiskussion, um wieder ins Asylrecht einzugreifen.

Der Attentäter vom Berliner Weihnachtsmarkt kam nicht in Abschiebehaft, weil er nicht binnen drei Monate hätte abgeschoben werden können. Wird da nicht eine Sicherheitslücke geschlossen?

Das sehe ich nicht. Das Asylrecht ist nicht zur Gefahrenabwehr da. Wenn jemand wie Anis Amri selbst mehrfach sagt, sich Waffen zu besorgen und Anschläge verüben zu wollen, und das nicht reicht, um den Straftatbestand der Vorbereitung einer schweren Straftat zu erfüllen, muss man sehen, ob das Gefahrenabwehrrecht reicht - auch wenn das eine schwierige Debatte ist.  

Eine Regelung zur elektronischen Fußfessel speziell für ausreisepflichtige Gefährder lehnen Sie dann auch ab?

Eine Fußfessel wäre im Allgemeinen ein zwar erheblicher, aber geringerer Eingriff als eine Haft - egal nach welcher Rechtsgrundlage. Das Problem ist, dass uns eine Fußfessel bei sogenannten Gefährdern nicht hilft. Man wüsste dann zwar, wo er ist, aber nicht, was er vorbereitet. Und wenn er abtauchen will, lässt sich die Fußfessel abmachen, und er ist weg. Wir wissen ja aus dem Bereich des Rechtsextremismus, wie viele nicht vollstreckbare Haftbefehle wir haben. Für die Gefahrenabwehr ist die Fußfessel also absolut ungeeignet.

Abschiebungen sind Ländersache. Denen wird oft vorgehalten, zu lax zu sein.

Das ist Demokratie. Die Länder haben gewählte Landesregierungen mit einer bestimmten Programmatik. Ich komme aus Thüringen, wo ein Linker zum Ministerpräsidenten gewählt worden ist. Von dessen Wählern würde niemand verstehen, wenn der plötzlich Abschiebungen nach Afghanistan gutheißt. Unsere Wähler haben bestimmte Erwartungen an uns, und wer einen Linken als Ministerpräsidenten wählt, weiß, welche Schwerpunkte damit in der Flüchtlingspolitik gesetzt werden.

Seitens der Länder sind erhöhte Mittel für die freiwillige Rückkehr Ausreisepflichtiger vorgesehen, auch der Bund will dafür zusätzlich Geld ausgeben. Ist das ein erfolgversprechender Weg?

Zum Teil. Wenn man Menschen in wirtschaftlichen Notlagen sagt, ihnen in ihrem Land eine Perspektive zu eröffnen, kann man diesen Weg gehen - wenn die Menschen das wollen. Wird aber jungen Afghanen gesagt, dass sie hier sowieso abgeschoben würden, aber noch etwas Handgeld bekommen, wenn sie vorher freiwillig ausreisen, dann werden sie mit Druck und Versprechungen zu dieser Ausreise praktisch genötigt - in ein Land, das von der UN als eines der gefährlichsten Länder der Welt deklariert wurde, mit hohen Opferzahlen bei den Zivilisten.    

Sind Hilfen, freiwillig auszureisen, nicht ein Anreiz, hierher zu kommen?

Nicht, wenn wir parallel dazu Fluchtursachen bekämpfen. Das kann etwa die wirtschaftliche Not und Diskriminierung von Roma in verschiedensten Staaten sein. Niemand verlässt ohne Not seine Heimat, um irgendwo Sozialhilfe zu bekommen. Wer eine Perspektive im eigenen Land hat, wird die in erster Linie auch wählen. Also: Nicht erst den Menschen helfen, wenn sie hierhergekommen sind.

Ist nicht auch Deutschland, wenn wir an 2015 denken, irgendwann bei der Aufnahme von Flüchtlingen überfordert?

Wir benutzen den Begriff der Überforderung verfrüht. Der öffentliche Dienst war überfordert, nicht unser Land. Der öffentliche Dienst war auf ein Niveau geschrumpft, auf dem die Bewältigung dieser Aufgabe stellenweise tatsächlich nicht mehr machbar war. Daraus müssen wir lernen, ihn so aufzustellen, dass er sich flexibler auf solche Belastungssituationen einstellen kann. Was die reinen Zahlen angeht: eine Million Flüchtlinge in einem Land, das mit erheblichem Bevölkerungsschwund zu rechnen hat - jedes Unternehmen, das ich besuche, sagt mir, dass es Menschen brauche, die sich ansiedeln. Wir vergessen über den ganzen Problemen, auch über die Chancen der Zuwanderung zu reden. Auch für Deutschland könnte sie ein erheblicher Gewinn sein.

Gibt es noch die Willkommenskultur?

Die hat es nie in der gesamten Gesellschaft gegeben - siehe Thügida, siehe Pegida. Aber in breiten Teilen der Gesellschaft ist sie tatsächlich vorhanden. Grundsätzlich hat die Hilfsbereitschaft nicht nachgelassen, und auch Ängste gehen zurück. Wenn wir nun aus früheren Fehlern bei der Integration lernen, wird auch der Gewinn für die Gesellschaft sichtbar. Dann wird auch die Willkommenskultur erhalten bleiben. 

Das Interview erschien zuerst in der Wochenzeitschrift "Das Parlament" vom 27. März 2017.