Staatliche Neutralität vs. Religiöse Bekleidungsvorschriften

Religion über Alles?

Die Grenzen der Religionsfreiheit werden seit vielen Jahren mit gläubiger Regelmäßigkeit anhand der weiblichen Kopfbedeckung diskutiert. Vor allem die Verschleierung führt immer wieder zum Streit; im Windschatten dieses Friseur-Boykotts geht es dann auch mal um das Häubchen der Diakonisse oder andere religiöse Deko-Artikel.

Irrungen und Wirrungen auf dem Kopf und darunter

In Berlin wird gegenwärtig heftig über das sog. "Neutralitätsgesetz" aus dem Jahre 2005 gestritten. Diese säkular geprägte Schöpfung zeichnet sich durch ein klares Bekenntnis zu staatlichen Neutralität und klare allgemein gültige Regelungen aus, die sich nicht gegen eine bestimmte Religion richten. In der Regierungskoalition herrscht über das Gesetz Streit, der auch durch die Parteien geht. Der grüne Justizsenator, auch für Antidiskriminierung zuständig, will das Neutralitätsgesetz weich spülen. Er übersieht aber bei so viel Ehrfurcht vor den Interessen frommer Landesdiener und ihrer Verbände, dass auch Menschen vor religiöser Beeinflussung zu schützen sind. Auch hier ist Grundrechtsschutz angesagt, lieber Herr Senator! Als Lektüre zur Fortbildung empfehle ich die Ausführungen von Czermak.

Vom Kollateralschaden der Rechtsprechung

Was darf nun sein und was nicht? Das bei der Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirchen notorisch unglückliche Händchen des Bundesverfassungsgerichts hat zuverlässig das schon vorhandene Chaos überall im Lande noch weiter verschärft. In seinem Beschluss von 2015 verlangt der Erste Senat - in Abkehr von einer früheren Entscheidung des Zweiten Senats aus dem Jahre 2003 -, dass für ein Verbot des Kopftuchs im Unterricht konkrete Gefahren für den Schulfrieden benannt werden müssen. Eine nicht nachvollziehbare Entscheidung. Ein krakeelender AFD-Papa beschwört nach dieser Rechtsprechung genügend Konfliktpotential, um das Grundrecht der Kopftuchträgerin zu beschränken. Die Jesiden-Mama hingegen läuft von vornherein unter der Rubrik "harmlos." Ihre Kinder dürfen dann im Unterricht genau die Verschleierung besichtigen, vor der sie zuvor nach Deutschland geflüchtet sind.

Kein Nachgeben gegenüber religiösem Fundamentalismus!

Gelten nicht einmal im Kernbereich der exekutiven Staatsgewalt Grenzen für religiöse Symbolik, müssen wir uns auf Kuriositäten einstellen, die auch von der Heute-Show nicht mehr zu toppen wäre. Dann haben wir nicht nur Kruzifixe in Klassenzimmern und Gerichtssälen. Auch religiöse Bekleidung aller Art bei Lehrkräften und Behördenpersonal wären dann zulässig. Wer hier die staatliche Neutralität mit Kompromissen und Halbheiten retten will, erlebt eine böse Überraschung. Ist der undifferenzierte Grundrechtsabsolutismus erst einmal bis zum Platzen überbläht, kann er ohne logische Brüche auch nicht zwischen Kopftuch und Nicab unterscheiden.

Wenn das Zauberwort "Religion" alles erlaubt, kann die Behörde den Beschäftigten "grundrechtskonform" wohl kaum verbieten, die religiösen Symbole auch im Dienst zu "erläutern". Wo ist da die Grenze zur grenzüberschreitenden Beeinflussung?

Der öffentliche Dienst als Heute-Show?

Lassen wir einmal unserer Phantasie freien Lauf und stellen uns nach dem Fall der letzten gesetzlichen Hüllen eine multireligiöse Gerichtszene vor. Da thront die Vorsitzende mit einem streng evangelikalen Beton-Dutt in Übertopf-Größe auf dem Haupt und einem handtellergroßen Kreuz vor der Brust. Die Beisitzerin wiederum ziert die Richterbank mit einem frisch geschwärzten und gelüfteten Tschador. Der Herr fürs Protokoll macht auch religiöse Gründe geltend. Er waltet gänzlich unbekleidet seines Amtes; nicht mal eine textile Schranke soll zwischen ihm und seinem Schöpfer stehen. Der Gerichtsvollzieher aus der Bhagvan-Gemeinschaft wiederum versieht seinen Dienst im leuchtenden Orange ihrer Mönche. Pfändung und Abtransport der Flachbildschirme erfolgt dann leicht tänzelnd mit einem optimistisch getrimmten Hare-Krishna-Mantra.

Mag diese Szene überspitzt erscheinen. Aber Menschen mit fanatischen Glaubensvorstellungen und ihre meist gut organisierten Sponsoren werden jedes Entgegenkommen nutzen und so lange nicht locker lassen, bis sie Stück für Stück die religiöse Neutralität des Staates entsorgt haben.

Wollen wir das wirklich? Kann das die Antwort seine auf die wachsende religiöse und kulturelle Vielfalt? Ich sage Nein! Dies wäre das Ende der staatlichen Neutralität in Religionsfragen und das Ende einer Vielfalt, in der sich die unterschiedlichen Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaften zu Hause fühlen können. Beschädigt wäre das Gemeinwesen, in dem niemand wegen religiöser Überzeugungen ausgegrenzt oder in eine Ecke gestellt wird und als Bürgerin oder Bürger zweiter Klasse behandelt werden darf.

Säkularität verteidigen: Es lohnt sich

Warum sind der säkulare Staat und dessen weltanschauliche Neutralitätspflicht so wichtig? Jedem Amtsträger oder Amtsträgerin in religiöser Tracht stehen immer auch Menschen mit anderen Überzeugungen gegenüber. Die stehen aber gegenüber der Behörde in einen Abhängigkeitsverhältnis. Das gilt für Menschen die dringend Hilfe brauchen und deshalb ihr Unbehagen für sich behalten. Das gilt auch für Eltern, die sich nicht wehren, weil sie keine schlechten Noten für ihre Kinder riskieren wollen.

Dem Autor wird in Diskussionen oft entgegen gehalten, es sei doch Ausdruck der grundrechtlich garantierten Religionsfreiheit - auch im Amt - diese Symbole auch offen zu tragen. Niemand könne verlangen, vom Anblick dieser Symbole "verschont" zu werden.

Das klingt auf den ersten Blick plausibel, unterliegt aber einem grundlegenden Denkfehler. Es geht nicht um das Tragen von Kopftuch und Co in der Öffentlichkeit. Es darf nicht darum gehen, verschleierte Frauen am Strand öffentlich zu entkleiden. Die Verletzung der Würde anderer kann niemals ein legitimes Mittel sein. Die Kopftuch-Lobby verengt den Blick gezielt und ausschließlich auf die Bewahrung der religiösen Utensilien der Beschäftigten selbst. Sie lässt aber diejenigen unbeachtet am Rande stehen, die - vielfach höchst schmerzlich - der staatlichen Hoheitsgewalt und ihrem Gewaltmonopol unterliegen. Diese Menschen haben einen Anspruch darauf, dass ihre Grundrechte beachtet werden, gerade weil sie in einer schwächeren Stellung sind:

  • Der Schwarzfahrer vor Gericht
  • Das Mädchen in der 2. Grundschulklasse
  • Die Familie, die gegenüber der Arbeitsagentur Grundsicherung beantragen muss.

Sie alle sind doch nicht ganz freiwillig dabei. Sie müssen sich

  • strafrechtlich verantworten, wenn sie einer Straftat beschuldigt werden
  • bis 18 Jahre zur Schule gehen, auch wenn der Frust groß ist
  • oder öffentliche Transferleistungen brauchen, um halbwegs über die Runden zu kommen

Der Staat darf gerade an diesen sensiblen Stellen seine starke Stellung nicht missbrauchen, sich hoheitlich mit dieser oder jenen religiösen oder auch weltanschaulichen Überzeugung zu verbrüdern und damit andere abzuwerten. Keine Religion - welche auch immer - darf sich ihrerseits öffentlicher Ämter bedienen, um mit staatlichen Instrumenten Macht über Menschen auszuüben.

Lassen wir nicht zu, dass junge Mädchen bedrängt werden, sich religiös zu kleiden wie ihre Lehrerin. Lassen wir es auch nicht zu, dass diese Mädchen von Jungen aus ihrer Schule angemacht werden, wenn sie sich diesen Zwängen widersetzen.

Bieten wir konsequent denen die Stirn, die penetrant versuchen, ihren Glauben anderen aufzunötigen. Greifen wir denen in die Lenkung, die aus falscher Nachsicht die Augen schließen und erlösen wir uns von den Gefahren überbordender religiöser Dominanz.