Überall in den USA stehen die Zehn Gebote herum - Relikte einer Filmkampagne aus den 50ern

Granit gegen die Aufklärung

Es ist der 27. Juni 2017, es ist sehr früh am Morgen in Little Rock, Arkansas, eigentlich fast noch Nacht. Vor dem State Capitol, dem Regierungssitz des Bundesstaates, bleibt ein dunkles Auto aus dem dünnen Verkehr heraus plötzlich stehen, genau auf der Höhe der Zehn Gebote, einer steinernen Gesetzestafel nach biblischem Vorbild, die man gestern erst aufgestellt hat. Vom Auto aus ist es nur ein kurzes Stück über den Rasen bis zu dem tonnenschweren Monument. Ein diensthabender Polizist sieht sofort, dass etwas nicht in Ordnung ist. Aber er kann nichts mehr tun.

Per Livestream dokumentiert der Fahrer des Wagens auf Facebook, was nun passiert. Das Auto setzt sich wieder in Bewegung, zielgerichtet, im Scheinwerferlicht tauchen die Zehn Gebote auf, "Freedom!", ruft der Mann im Auto mit heiserer Stimme - Freiheit! Dann kracht sein Wagen in Gottes Wort. Die Übertragung endet im selben Moment. Die Sicherheitskräfte kommen rasch hinzu, um den Fahrer des Wagens, Michael Reed, festzunehmen. Für die Steintafel kommt jede Hilfe zu spät. Zerbrochen liegt sie am Boden.

In einem akuten Zustand von geistiger Umnachtung hat Reed also getan, was auch Moses tat - die vom Himmel gefallenen Steintafeln zerschmettert. Wo Moses allerdings das göttliche Gesetz noch aus einem einmaligen Impuls heraus zerschmiss, hat Michael Reed schon Vorerfahrung in dieser speziellen Disziplin. Bereits im Oktober 2014 hat er eine solche Gesetzestafel umgenietet. Die stand damals auf ebenso öffentlichem Grund, vor dem Oklahoma City Capitol. Auch hier kam Reed mit seinem Wagen angebrummt, auch damals traf er den Granit mit der vollen Wucht aller ihm zur Verfügung stehenden PS, und keine göttliche Macht verhütete die Zerstörung des Steins.

Seither ist Michael Reed in den Archiven und im Internet greifbar, und man weiß auch, dass er kein sehr glücklicher Mann ist. Er ist abwechselnd als Christ, Satanist und überzeugter Säkularist aktenkundig geworden, und selbst seine Mutter musste schon gegenüber den Medien bekennen, dass er eine schizoide Persönlichkeitsstörung hat. Also könnte man die Sache als einen von tausend täglichen Fällen von sinnloser Aggression gegen arglose Materie abhaken.

Aber man bleibt doch an den Bildern hängen. Nicht nur, dass diese Steintafeln so hässlich sind. Sie sehen in beiden Fällen auch genau gleich aus: Schlecht imitiertes 19. Jahrhundert, autoritätsheischend in den Granit gemeißelt. Wieso stehen baugleiche Monumente an zwei verschiedenen Orten? Wieso sagt der Mann von der Mahnmalfirma, er habe jetzt schon um die zwanzig von diesen Dingern hingestellt? Und wenn man als Nachrichtenleser in sich geht: Hat man nicht denselben Klotz auch schon in anderen Gegenden fotografiert gesehen?

Sie sind nämlich tatsächlich über die gesamten USA verteilt, richtig durchgezählt hat sie bislang nur Gott der Herr, sie stehen vor Regierungsgebäuden, auf Schulgeländen und in Parks, gerne würde man sagen: Ein Monument hässlicher als das andere. Aber genau das stimmt eben nicht, sie sind alle gleich furchtbar, und sie verkünden mit der Sturheit eines Bots, was sie halt zu verkünden haben. Wo kommen die alle her, hat der Herr sie vom Himmel geworfen, nachdem ihm klar wurde, dass es immer noch nur einen Augenzeugen für die Übergabe seiner Zehn Gebote gibt?

Die Geschichte dieser Gesetzestafeln ist eine uramerikanische: Sie verbindet schlechtes Pathos, patriarchale Religiosität und Hollywood-PR mit dem absoluten Willen zur Größe. Denn was wäre grandiosere Werbung für einen Film als eine Propagandakampagne, die flächendeckend und unter viel pompösem Getue mit staatlichem wie kirchlichem Segen den öffentlichen Raum erobert?

Genau das geschah 1956 mit dem Paramount-Film "Die zehn Gebote", dem opulenten Höhepunkt des Technicolorkinos - sozusagen eine filmische Fortsetzung des religiösen Überwältigungsprunks, mit dem man seit dem Mittelalter in den Kirchen auf die Hirne der Gläubigen einwirkte. Gedreht wurde der Kulissenschinken inklusive Teilung des Roten Meeres von Cecil DeMille, als Remake seines eigenen Stummfilmklassikers von 1923. Dem Regisseur war nicht nur der Erfolg des Films ein Anliegen, er nahm auch den religiösen Inhalt sehr viel ernster als man es von einem Menschen im flatterhaften Showbusiness erwarten sollte. Er plante einen religiös grundierten Werbefeldzug, und er plante ihn nicht allein.

Ihm zur Hilfe eilte ein obskurer Herrenbund namens "The Fraternal Order of Eagles", die Bruderschaft der Adler also, eine wohltätige Vereinigung, die bezeichnenderweise als Schutzbund mächtiger Theaterbesitzer gegen einen Musikerstreik ins Leben gerufen wurde und sich danach zu einer weltumspannenden Organisation auswuchs. Die drehte nun aktiv mit am konservativ-christlichen geistigen Rollback der 50er Jahre. "Die Zehn Gebote", der Film, war für sie weit mehr als nur der nächste Blockbuster. Gerade war man dabei, das freiheitlichste Land der Erde neu zu erfinden als "Land Gottes", ganz gegen die Intention seiner Gründerväter, und da kam der Film gerade recht.

DeMille und die "Eagles" initiierten eine beispiellose Kampagne: Schon seit 1951 wurden in zigtausende Reproduktionen der Zehn Gebote als Wandschmuck verbreitet - in ebenjener kruden Optik, die sich dann auch dem unschuldigen Granit einklopfen sollte. Präsident Truman gab seinen Segen dazu. Und als wäre das noch nicht genug der frommen Tat, begann man nun, da der Filmstart kam, die Zehn Gebote in Stein aufzurichten, hier und dort und everywhere. Selbst als der Film alle Rekorde gesprengt hatte und allmählich ins Fernsehen übersiedelte, hörte man nicht mehr auf mit der Aufstellerei. Die Werbekampagne war so erfolgreich, dass sie ihr eigenes Produkt überlebte. Bis heute stehen die Gesetzestafeln vor Regierungssitzen und auf Schulgeländen und in Parks, für viele Menschen sind sie geradezu Ausdruck der amerikanischen Seele, und viele wissen wahrscheinlich gar nicht, dass der liebe Gott hier einen Film beworben hat, der noch nicht mal gar zu nah an der biblischen Überlieferung ist.

Es ist dabei auch kein Zufall, dass der erfolgreichste aller Christenfilme alles mögliche Kolossale enthält, Landschaften und Gebäude, schöne Männer und Frauen, mächtige Farben und betäubende Musik – eins aber auf gar keinen Fall: Christus. Oder seine Botschaft. Die Patriarchen, die die USA mit Hilfe der Religion auf ihre Vorstellungen zuzuschneiden versuchen, haben noch stets mit dem Gott des Alten Testaments sympathisiert, dem Tyrannen, und mit Moses, seiner rechten Hand. Christus und seine Hippiekommune, in der sich alle lieb hatten, wird in diesen Kreisen eher selten zur Kenntnis genommen.

Kein Wunder. Jesus ist es ja, dessen Botschaft, klug ausgedeutet, die Gottesdiktatur des Alten Testaments beendet. Vor ihm sind alle gleich, ob arm ob reich, und wenn die moderne Welt etwas aus Jesus abgeleitet hat, dann dies: Dass es ohne Toleranz nicht geht. Dass folglich keine Religion sich über die anderen oder über den Staat erheben sollte, so wie es auch den Gründervatern der USA noch ganz klar war. Ein bisschen haben wir es also auch dem Erlöser zu verdanken, dass die klotzigen Monumente dann und wann ins Wanken geraten.

Jetzt gibt es also erst mal eines weniger, aber Nachschub ist bereits geordert, und nächstes Mal kommt dann ein Zaun oder sonstwie gearteter Schutzwall drumherum. Ob der Gottesstein dann allerdings auf ewig stehen bleiben kann, ist fraglich. Denn seit Jahren gehen überall in den USA immer wieder aufgeklärtere Menschen gerichtlich dagegen vor, dass religiöse Symbole auf öffentlichem Boden herumstehen. Oft bekommen sie recht. Möglicherweise geht es also dem Little-Rock-Stein ebenso wie dem Monument von Oklahoma City, Michael Reeds erstem Opfer. Das ist nämlich mittlerweile von seinem Standort verschwunden. Ein Gericht hatte 2015 im Sinne einer etwas zeitgemäßeren Gesetzgebung geurteilt: Die Zehn Gebote des Alten Testaments haben auf öffentlichem Grund nichts zu suchen.