Welche Feiertage braucht eine aufgeklärte Demokratie?

Gottes Nordkorea

Unsere freiheitliche, aufgeklärte Demokratie kennt fast ausschließlich Feiertage, die sich aus der antiken bis mittelalterlichen Gedankenwelt des Christentums speisen. Sollten wir nicht ganz andere haben?

Der Mensch braucht das Fest, um Mensch sein zu können. Erst ein global komplett umgesetzter Kapitalismus wird ohne Feste auskommen. Er wird die Menschen vielleicht noch dazu anleiten, aus Effizienzgründen ab und zu eine Auszeit zu nehmen. Aber zufrieden wird er eh erst sein, wenn alle Arbeit von Robotern verrichtet wird und die wenigen verblieben Menschen auf ein paar Karibikinseln sitzen, die ihnen selber "gehören".

Bis da hin gilt: Das Fest bestätigt dem Menschen, dass er ein Mensch ist. Dass er Bedürfnisse hat, die über die pure Sicherung der Existenz hinausgehen. Tiere haben keine Feste. Sie haben keine Transzendenz vom Einfach-so-Weiterleben, sie haben keine Philosophie und keinen Glauben, denen sie im Fest einen Ausdruck verleihen, und seien es nur der Spaß und die Liebe.

Der Feiertag ist das Fest, in dem die Gesellschaftsordnung den Menschen zu sich ins Boot holt. Der Feiertag wird nicht, wie das gewöhnliche Fest, von den Menschen selbst organisiert. Er wird verordnet. Er verbindet die Bedürfnisse des Menschen mit denen der Gesellschaft: Der Mensch, in seinem Feierwillen, wird abgeholt. Und in einen Sinnzusammenmhang gestellt. Genügt es dem Staat, an einem Feiertag einfach nur Spaß zu haben? Eher selten. Der Feiertag ist immer weltanschaulich aufgeladen, er muss es auch sein. Feiertage definieren die Arbeitsgrundlage einer Gemeinschaft, ihre Werte, und bringen sie nicht so einen Zusammenhalt auf die Welt?

Ja, vielleicht. Allerdings: Die Berufung auf eng gefasste weltanschauliche Grundlagen, die Menschheitsgeschichte lehrt dies, konstituiert eine Gruppe – und also auch Außenstehende. Die müssen draußen bleiben. Habe ich einen Feiertag, der sich auf islamische Traditionen beruft, schließe ich, ob willentlich oder unwillentlich, alle Nicht- oder Andersgläubigen aus. Dito christlich. Dito jüdisch. Dito alles. Nun mag man über das Gebot der Mehrheit argumentieren: Wo überwiegend Katholiken leben, zum Beispiel, müssen die anderen sich halt fügen.

Das ist auf mehreren Ebenen Unsinn. Denn erstens können sich Mehrheiten ja jederzeit ändern. Menschen treten, wie es derzeit massenhaft geschieht, aus ihren Kirchen aus oder sterben weg, Menschen orientieren sich um. Zweitens ist das Argument der Mehrheit immer noch ein Ausschlussargument, das in sich patriarchale Struktur aufweist: Lauft dem dicksten Fisch hinterher oder packts euch! Kommt zu dieser Seite der Macht! Drittens und auffälligstens: Sind wir geistesgeschichtlich ja glücklicherweise viel weiter. Wir haben keine Religionen als Weltdeuter nötig, die sich immer, wenn es hart auf hart kommt, in ihren Obskurantismus und in ihre Wolkigkeit flüchten müssen, und die, wenn es gut läuft, halt dazu aufrufen, lieb zueinander zu sein – wofür man ja aber gar keine Kirche braucht.

Religionen bieten Wellness für die Seele, ein wohliges Sichfallenlassen in eine unsichtbare, imaginierte Macht. Das soll jeder, der möchte, gerne genießen. Als Grundlage einer freiheitlichen Gemeinschaft taugen all die Gottesmärchen natürlich überhaupt nicht. Aus ihnen staatliche Feiertage abzuleiten, ist ein klassisches Verfehlen des Themas. Hilft Religion uns weiter, zu einer aufgeklärten Gesellschaft zu werden? Hmja, denken wir an Galilei, denken wir an den Dreißigjährigen Krieg, denken wir an den Katholiken Hitler und seine kruden Gottesideen, mit denen er sich selber zum Messias und die Deutschen zum auserwählten Volk hochbrüllte. Auch die Millionen Toten unter Stalin und Mao gingen letztlich darauf zurück, dass die Menschen quasireligiösen Vorstellungen folgten: Es gebe allwissende Anführer, es gebe eine große Sache, für die es sich zu sterben und zu morden lohne, und die es unhinterfragt hinzunehmen gelte. Die Religionen haben das Prinzip über Jahrtausende vorgelebt: Man müsse jeden noch so absurden Unsinn unhinterfragt hinnehmen, man müsse glauben statt zu wissen. Auf diesem Verdummungsfundament aufbauend, konnten die großen Diktaturen gedeihen.

Verdummung kann als Gesellschaft nicht unser Anliegen sein. Herrschaft und Dominanz können nicht unser Anliegen sein. Wir haben einen Staat, die Bundesrepublik, gegründet aus der Erfahrung des Weltkriegs, auf den Vorerfahrungen eines anderen Weltkriegs und Jahrhunderten furchtbarer Mordbrände, Foltern und Gemetzel, deren Wut oft genug mit Hilfe religiöser Vorstellungen angefacht wurde. Aus diesen Jahrhunderten des Grauens sind einige Ideen entstanden, für die es sich einzustehen lohnt: Etwa die Idee, dass kein Mensch aufgrund seiner "Rasse", seiner sexuellen Orientierung, wegen seines Geschlechts oder seiner Religion schlecht behandelt werden darf. Dass jeder Mensch grundlegende Freiheitsrechte hat: Zu glauben, zu sagen und zu lieben, was oder wen er halt möchte. Und dass Gewalt einfach mal scheiße ist.

Die grundlegende und doch so überwältigende Idee lässt sich, wenn man es nicht zu weit führen will, in der Goldenen Regel zusammenfassen: "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem and'ren zu." Man kann das mit Kant sagen, oder mit Jesus, oder mit anderen Phiosophen quer durch die Weltgeschichte, aber es spielt ja keine Rolle, wie man es ausdrückt: Die Idee vom toleranten, friedlichen, respektvollen, vielleicht sogar inspirierenden Zusammenleben der Menschen, man darf es zu behaupten wagen, wird von der Mehrheit der Menschen geteilt. Man muss schon einen hohen Verdummungs-, Vernachlässigungs-, Verrohungs- und Indoktrinationsaufwand betreiben, um Menschen dazu zu bekommen, andere Menschengruppen zu hassen und zu verachten.

Man braucht dafür Menschen, die sich zurückgesetzt fühlen, und denen muss man das Gefühl geben, dass ihre Ausgegrenztheit sie eigentlich zum Mitglied einer Elite mache - Sekten und Religionen sind sehr versiert darin, das zu nutzen. Ihr Geschäftsmodell ist es, die Härten der Echtwelt durch das Glitzern einer Fantasiewelt zu ersetzen, sie sind prädestiniert, Keile zwischen die Menschen zu treiben, und wenn sie, wider ihrer eigenen Natur, noch so ökumenisch tun. Es ist ja kein Zufall, dass auch die Religionszugehörigkeit zu Diskriminierung führen kann – das ist in den Religionen so angelegt. Sie unterteilen Menschen in solche, die gesegnet und erlöst werden – weil sie sich einem höheren Wesen unterwerfen – und solche, die das nicht tun, somit also nicht zur In-Group gehören und ihre gerechte Strafe erhalten werden.

Jeder Gott ist ein Erpresser. Statt auch nur einen winzigen, nachvollziehbaren Beweis seiner Existenz zu liefern, fordert er stets: Sich zwischen dem Denken und dem willenlosen Hinnehmen zu entscheiden. Es ist wohl kein Zufall, dass bei den Christen ein Angenagelter vorneweg getragen wird. Viel deutlicher kann man die Unterwerfung, die hier gefordert wird, ja kaum markieren.

Was also feiern wir? Worauf ist er stolz, der freiheitliche, fortschrittliche Staat?

Insgesamt 18 Feiertage hat man in Deutschland, die von Bundesland zu Bundesland verschieden verteilt sind, manche kommen auf dreizehn, andere auf neun. Neun Gelegenheiten, in denen unser Land sich, feierfreudig, stolz auf seine Errungenschaften zeigen darf, ohne dabei ins Fundamentalistische und ins Predigen abzugleiten. Der Glaube ans Menschenrecht ist ja auch der Glaube an die freie Entfaltung des Menschen – eine Sache, die man beim schockstarren Erdulden von Sonntagspredigten eher weniger lernt.

Neun- bis dreizehn Mal im Jahr feiert diese Gesellschaft sich selbst und ihre Arbeitsgrundlage. Das mag einem etwas übertrieben, fast schon zwanghaft, vorkommen. Das erreicht schon nahezu die Dimension von Nordkorea, das 16 nationale Feiertage kennt, darunter den "Gründungstag der Kindervereinigung von Joseon", den "Gründungstag der Partei" und den "Tag der Verfassung", den "Geburtstag des Kim Jong Il" und den "Geburtstag des Kim Il Sung".

Ob neun bis dreizehn Besinnungstage wirklich nötig sind? Sollte man nicht einfach den Menschen mehr frei geben und ihnen vielleicht ein paar staatlich gestützte Bildungs-, Kultur- oder Wellnessangebote machen, so wie ein fortschrittlich denkender Staat sie seinen Bürgern ermöglichen sollte? Gut, das ist vielleicht noch zu viel erwartet. Ein bisschen Feierei, ein bisschen staatstragende Worthuberei muss wohl sein.

Was aber zelebriert dieser Staat, womit definiert er sich selbst? Einen Tag der Verfassung, so wie Nordkorea, haben wir jedenfalls nicht. Bei uns ist alles Gott.

Selbst wenn alle Menschen in Deutschland Mitglied in derselben Glaubensgemeinschaft wären: Wieso müssten dann die Grenzen zwischen Staat und Kirche verschwimmen?

Dass unsere religiöse Wirklichkeit ein bunter Flickenteppich ist, dafür gibt es ja Zahlen: Es gibt Dutzende von Glaubensbekenntnissen in diversen mehr oder minder großen Gruppen, Sunniten leben hier viele, dann gehört je ein gutes Viertel der Deutschen der evangelischen beziehungsweise der katholischen Kirche an. Und selbst wenn man auf die Frage verzichtet, wie ernst es diesen Vierteln mit ihrem Glauben ist – selbst dann ist die größte Gruppe in diesem Land, was das Glaubensbekenntnis angeht, die der Konfessionslosen. Über ein Drittel aller Deutschen. Klarer Regierungsauftrag, sollte man meinen. Und da es hier nicht ums Regieren, also nicht ums Übertrumpfen und Minorisieren geht, sondern um die gemeinsamen Grundlagen aller hoffentlich friedlich zusammenlebenden Menschen hier - was feiern wir?

Reißen wir es mal kurz an.

Beispiel 1: Am 6. Januar feiern Bayern und Baden-Württemberg die legendäre Ankunft dreier nicht demokratisch gewählter männlicher Herrscher, die einem Baby huldigen, in dem sie einen Abgesandten einer unsichtbaren Macht zu erkennen meinen, die uns allen Verhaltensregeln vorgibt, manche mehr, manche weniger bizarr, und die irgendwann übrigens, wenn es ihr passt, die ganze Welt vernichten wird. Das Datum der Feier ist dabei willkürlich gewählt, der Beruf der drei Herren auch. In der Bibel sind sie  noch "Sterndeuter" - also auch nicht gerade Herolde der Aufklärung.

Beispiel 2: An einem Freitag im März oder April, wenn draußen die Hasen hoppeln und die Krokusse sprießen, feiert die Bundesrepublik Deutschland was? Vor ungefähr zweitausend Jahren sei im Nahen Osten ein Mann hingerichtet worden, welcher gleichzeitig eine unsichtbare Macht gewesen sei, welche die ganze Welt erschaffen habe, und ans Kreuz habe sie sich nageln lassen, weil viele tausend Jahre zuvor zwei Menschen verbotenerweise eine Frucht gegessen hätten, worauf die unsichtbare, allmächtige Gottheit, also er selber, der gerade am Kreuz hängt, diese Menschen verflucht und ihnen die furchtbarsten Starfen auferlegt habe. Botschaft: Widersetze dich nicht der Obrigkeit, sonst wird es dir schlimm ergehen, und allen deinen Nachkommen auch. Weitere Botschaft: Wer allmächtig ist, ist auch komplett unberechenbar, und auch sein Jähzorn wie sein theatralisches Selbstmitleid kennen keine Grenzen. Leg dich also lieber nicht mit dem an. Demokratisches Empowerment: Null.

Wir wollen jetzt nicht alle diese Feiern aufzählen. Mal fliegt der ermordete, dann tote, dann wieder lebendige Gott in den Himmel – wo sich seine Spur verliert. Mal soll man den ganzen Tag büßen und beten. Und so weiter. Es mag ja sein, dass das alles denjenigen, die daran glauben, irgend eine Freude bereitet. Und niemand will ihnen die nehmen. Aber die Frage muss doch gestellt werden: Warum hat unser demokratisch verfasstes Gemeinwesen, das sich auf die Idee der Menschenrechte als eine der großen Errungenschaften der Geschichte beruft, warum hat es Stücker 15 Feiertage, die auf märchenhafte christliche Glaubensvorstellungen zurückgehen, Glaubensvorstellungen, die den Menschen klein machen, ihn dem gläubigen Abnicken verpflichten statt dem kritischen Denken, ausgedacht von einer Organisation, die seit Jahrtausenden von der künstlichen Erzeugung eines schlechten Gewissens lebt? Die mit immenser physischer und seelischer Gewalt eine Ideologie durchgeboxt hat, die den Menschen klein – und die Frau wertloser als den Mann macht? Warum macht unser Land sich damit gemein?

Die Kirchen sind mit die größten Arbeitgeber und mit die stärksten Lobbyisten im Land. Wie sehr Kirche und Staat miteinander verfilzt sind, lässt sich am Vorhandensein all dieser Feiertage ablesen. Es gibt, schaut man hin, genau drei Feiertage, die nicht kirchlich sind: Einmal den Neujahrstag, der weitgehend ohne geistigen Überbau auskommt und einfach nur den biochemischen Folgen der Alkoholisierung geschuldet ist, ein Feiertag also, der immerhin schon mal zugesteht: He Leute, es ist okay, ab und zu Spaß zu haben.

Dann gibt es den Ersten Mai, der in Deutschland von der NSDAP eingeführt wurde: Er propagiert die Stärke und die Rechte einer bestimmten, immer vager werdenden Gesellschaftsschicht, die der Arbeiter.

Schließlich ist da der 3. Oktober, das Pflaster auf einer verhältnismäßig frischen Wunde: Ein paar Jahrzehnte währte die selbstverschuldete deutsche Nachkriegsteilung, keine große Sache angesichts einer mehrtausendjährigen Geschichte, in der Deutschland oft genug in diverse Teilstaaten untergliedert war. Immerhin, ein Hauch von Demokratieverständnis weht am 3. Oktober, denn die Wiedervereinigung lässt sich als Sieg des Freiheitsgedankens über die Diktatur interpretieren.

Wann und wo aber besinnt sich das aufgeklärte Deutschland auf seine Grundlagen, wann feiern wir die Ideen, denen wir Tag für Tag nachstreben sollten: Freiheit, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde, Bildung?

Es gäbe so viel zu feiern. Es gäbe so vieles in der Geschichte und im täglichen Zusammenleben, an das man stolz erinnern dürfte, das jeden und jede ermutigen könnte, unsere Werte zu verteidigen. Wenn die Kirchen qua umfassender Verfilzung mit dem Staat 15 fast konkurrenzlose Feiertage besetzen dürfen, warum haben wir nicht wenigstens, mal aus dem Blauen gesprochen, einen Tag des Ehrenamts, oder einen Tag der Sportvereine, einen Tag der Toleranz?

Gesellschaftliches Engagement zu würdigen scheint doch angemessener als die Selbstunterwerfung unter einen unsichtbaren Märchenmann, der sich angeblich um die Welt und um jeden Einzelnen kümmert, woran man aber, entgegen aller Empirie, ganz fest glauben muss, um es zu erkennen? Der unsichtbare Märchenmann ist von weltlichen und von Kirchenfürsten aus leicht erkennbaren Gründen blutig durchgesetzt worden, sicher hat der Glaube an ihn vielen Menschen geholfen, ihre Armut und ihr Leid auf dieser Welt zu ertragen – aber sollte man nicht lieber daran gehen, es abzuschaffen?

Es gäbe, wenn man denn mal drüber nachdenkt, erstaunlich viele historische Daten, an denen sich unsere Werte feiern, unsere Kinder ermutigen ließen, eines Tages für sich selbst einzustehen. Wie wäre es etwa mit dem 30. Oktober? An diesem Tag 1918 weigerten sich Besatzungen der Kriegsmarine in Wilhelmshaven, sich zu einer letzten mörderischen Schlacht hinausschicken zu lassen und legten damit, nach dem sinnlosen Tod von Millionen Menschen, endlich den Grundstein für die Abdankung des parasitären deutschen Feudalismus.

Warum feiern wir nicht den 27. Februar? 1848 forderte die Mannheimer Volksversammlung da die Menschenrechte, die Pressefreiheit, einen Nationalstaaat und eine Verfassung, weiß das heute noch jemand?

Was ist mit den Zwölf Artikeln von Memmingen, in denen ausgebeutete Bauern 1525 zum ersten Mal in Europa Freiheitsrechte formulierten – 20. März?

Je länger man darüber nachdenkt, desto bitterer fühlt sich an, wie in Deutschland die Geschichte von den Siegern geschrieben worden ist, wie die Menschenrechtler, die Protodemokraten aus dem historischen Gedächtnis getilgt werden, während unsere Straßen und Parks und Hotels gerne weiterhin nach irgendwelchen aristokratischen Großgangstern benannt sind, die zu allen Zeiten die Nutznießer von Gottesvorstellungen waren. Wir sollten aufwachen. Und wir sollten uns feiern.