Kirchliches Arbeitsrecht

Europäisches Rechtsgutachten stellt Einstellungspolitik religiöser Arbeitgeber in Frage

Die Einstellungspolitik im Rahmen des kirchlichen Arbeitsrecht in Deutschland widerspricht teilweise europäischen Vorgaben – so ein Rechtsgutachten des Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof vom 9. November 2017. Trotz des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts ist demnach ein möglicherweise diskriminierender Umgang religiöser Arbeitgeber mit Bewerbern, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, gerichtlich voll überprüfbar.

Jacqueline Neumann (ifw) bewertet anhand des Rechtsgutachtens zum kirchlichen Arbeitsrecht die Positionen der Parteien aus den Jamaika-Sondierungsgesprächen (CDU/CSU, FDP und Grüne). Das europäische Rechtsgutachten lässt erwarten, dass der Gesetzgeber in Deutschland den Rechtsrahmen anpassen wird. Die ifw-Kommentare zu den Standpunkten der Parteien befinden sich am Ende dieses Beitrags.

Das europäische Rechtsgutachten  

Grundlage der Schlussanträge des Generalanwalts Evgeni Tanchev  (Az.: C-414/16, Pressemitteilung des EuGH Nr. 117 v. 9. November 2017) war eine Vorlage des Bundesarbeitsgerichts (BAG) an den EuGH, der folgender Sachverhalt zugrunde lag: Die konfessionsfreie Klägerin hatte sich auf eine Stelle als Referentin beworben, die vom Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung, einem privatrechtlichen Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland, ausgeschrieben worden war. Der Aufgabenbereich umfasste u.a. die Erarbeitung eines Berichts über die Einhaltung des Übereinkommens der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung durch Deutschland. In der Stellenanzeige benannte das Evangelische Werk die Mitgliedschaft in einer evangelischen oder einer der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland angehörigen Kirche als zwingende Voraussetzung für eine Einstellung. Da sie die Stelle nicht bekam, klagte die Frau auf Zahlung einer Entschädigung in Höhe von etwa 10.000 Euro, weil sie aus Gründen der Religion diskriminiert worden sei.

Das Arbeitsgericht Berlin sprach der Klägerin mit Urteil vom 18. Dezember 2013 eine Entschädigung zu (Az.: 54 Ca 6322/13). Vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg unterlag sie dann jedoch auf die Berufung der Beklagten hin. In seinem Urteil vom 28. Mai 2014 (Az.: 4 Sa 238/14) entschied das Gericht, dass die Ungleichbehandlung der Klägerin gerechtfertigt sei und Europäisches Recht dem nicht entgegenstünde.

Weniger leicht machte es sich das BAG. Um zu klären, ob die Klägerin aus der Sicht des Unionsrechts rechtswidrig diskriminiert wurde oder ob ihre Ungleichbehandlung gerechtfertigt war, legte das BAG dem EuGH eine Reihe von Fragen betreffend die Auslegung von Art. 4 Abs. 2 der EU-Richtlinie zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf 2000/78/EG vor (Az.: 8 AZR 501/14 (A)), u.a.:

  • Inwieweit können berufliche Anforderungen, die von religiösen Organisationen unter Berufung auf das Privileg der kirchlichen Selbstbestimmung gestellt werden, gerichtlich überprüft werden?
  • Wie sind die widerstreitenden Interessen - die Freiheit der Weltanschauung und das Recht, nicht wegen der Religion oder der Weltanschauung diskriminiert zu werden, auf der einen Seite sowie das Recht der religiösen Organisationen auf Selbstbestimmung und Autonomie auf der anderen Seite - gegeneinander abzuwägen.

Entsprechend dem nationalen kirchlichen Arbeitsrecht gilt das Erfordernis einer Kirchenmitgliedschaft ausnahmslos für alle Beschäftigten: "katholisch operieren – evangelisch Fenster putzen". Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann ein kirchlicher Arbeitgeber für jede Stelle die Kirchenzugehörigkeit verlangen.  

Damit könnte nun Schluss sein. Denn der Generalanwalt Evgeni Tanchev erkennt in seinen Schlussanträgen vom 9. November 2017 (Az.: C-414/16) zwar das auch im Unionsrecht (Art. 4 Abs. 2 Richtlinie 2000/78/EG und Art. 17 Abs. 1 AEUV) verankerte Recht religiöser Organisationen auf Autonomie und Selbstbestimmung an.

Gleichzeitig betont er jedoch, dass ein kirchlicher Arbeitgeber nach der EU-Richtlinie nicht verbindlich selbst bestimmen könne, ob eine bestimmte Religion eines Bewerbers nach der Art der fraglichen Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts seines/ihres Ethos darstelle. Zwar müsse die gerichtliche Überprüfung des Ethos der Kirche begrenzt sein, doch heiße dies nicht, dass das Gericht eines Mitgliedstaats der Verpflichtung enthoben wäre, die fraglichen Tätigkeiten zu würdigen, um zu klären, ob die Religion oder Weltanschauung einer Person eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstelle. Erforderlich sei eine Analyse der Nähe der fraglichen Tätigkeiten zum Verkündigungsauftrag des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung. Die Auswirkungen ‒ im Sinne der Verhältnismäßigkeit ‒ auf das rechtmäßige Ziel, die praktische Wirksamkeit des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Religion oder der Weltanschauung sicherzustellen, müssten gegen das Recht des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung auf Autonomie und Selbstbestimmung abgewogen werden.

Zutreffend weist Tanchev ferner darauf hin – und stärkt damit seine Argumentation prominent –, dass auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) eine Beschränkung der gerichtlichen Überprüfung nicht stützt. Im Fall Fernández Martinez/Spanien (Az.: 56030/07) führte der EGMR in einem mit "Grenzen der Autonomie (von Religionsgemeinschaften)" überschriebenen Abschnitt aus:

"Die bloße Behauptung einer Religionsgemeinschaft, dass ihre Autonomie tatsächlich oder potenziell bedroht ist, (reicht) nicht aus, um jeden Eingriff in das Recht ihrer Mitglieder auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens als mit Art. 8 der Konvention vereinbar anzusehen. Die Religionsgemeinschaft muss überdies darlegen, dass im Licht der Umstände des Einzelfalls die behauptete Gefahr wahrscheinlich und erheblich ist und dass der angefochtene Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens nicht über das hinausgeht, was zur Beseitigung dieser Gefahr erforderlich ist, und keinem anderen, nicht mit der Ausübung der Autonomie der Religionsgemeinschaft im Zusammenhang stehenden Zweck dient. Das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens darf auch nicht in seinem Kernbestand berührt werden. Die nationalen Gerichte müssen sicherstellen, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind, indem sie eine eingehende Prüfung der Umstände des Falles und eine sorgfältige Abwägung der widerstreitenden Interessen vornehmen."

Im Urteil Schüth/Deutschland (Az.: 1620/03), in dem sowohl § 9 Abs. 1 AGG als auch Art. 137 WRV für den zu beurteilenden Rechtsstreit einschlägig waren, hat der EGMR festgestellt, dass Deutschland seinen positiven Verpflichtungen in Bezug auf das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK gegenüber einem Organisten und Chorleiter der katholischen Kirche St. Lambertus in Essen nicht nachgekommen war, der wegen einer außerehelichen Beziehung, aus der ein Kind hervorging, entlassen worden war.

Damit plädiert der Generalanwalt im Ergebnis für eine Annäherung religiöser Arbeitgeber an die übrigen Arbeitgeber und für eine Einschränkung des Anwendungsbereichs des kirchlichen Arbeitsrechts. Bisher sind es nach dem nationalen Recht die Kirchen selbst, die festlegen, wo und für wen das kirchliche Arbeitsrecht gilt. Das Betriebsverfassungsgesetz enthält hierzu keine Aussage. Dort ist lediglich geregelt: "Dieses Gesetz findet keine Anwendung auf Religionsgemeinschaften und ihre karitativen und erzieherischen Einrichtungen unbeschadet deren Rechtsform." (§ 118 Abs. 2 BetrVG).

Reaktionen

Ingrid Matthäus-Maier, ifw-Beirätin und Sprecherin der Kampagne GerDiA (Gegen religiöse Diskriminierung am Arbeitsplatz) erläutert: "Die Kirchen vertreten die Auffassung, dass sämtliche kirchliche Einrichtungen vom Ausnahmetatbestand erfasst werden. Ihr unternehmerisches Engagement im sozialen Bereich bewerten sie als 'Verkündigung durch die helfende Tat am Nächsten', obwohl sich die jeweilige Trägerschaft im Arbeitsalltag einer Sozialeinrichtung in der überwiegenden Anzahl der Fälle nicht auswirkt."

Rainer Ponitka, Landessprecher NRW des Internationalen Bundes der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) und ebenfalls Sprecher der Kampagne GerDiA sagt: "Ein kommunales Krankenhaus oder ein Krankenhaus der Arbeiterwohlfahrt funktioniert ebenso wie ein Krankenhaus in kirchlicher Trägerschaft. Dennoch gelangen zum Nachteil der Beschäftigten unterschiedliche arbeitsrechtliche Regelungen zur Anwendung."  

Auf LTO schreibt Steffen Klumpp, die Annahme des Generalanwaltes einer uneingeschränkten gerichtlichen Überprüfbarkeit der Einordnung einer Tätigkeit als Beitrag zum Verkündigungsauftrag sei verfassungsrechtlich bedenklich. Nach Einschätzung des ifw ist dies jedoch nicht der Fall: Weder unter dem Gesichtspunkt der Trennung von Staat und Kirche noch mit Blick auf das Gebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates. Denn eine inhaltliche Einflussnahme auf den "Verkündigungsauftrag" der Kirchen ist mit einer solchen gerichtlichen Überprüfung nicht verbunden. Notfalls können in schwierigen Abgrenzungsfragen, wie in der Praxis allgemein üblich, Sachverständigengutachten hierzu eingeholt werden.

Das europäische Rechtsgutachten hat so manchen deutschen Kirchenrechtler überrascht. Manfred Baldus, Professor am Institut für Kirchenrecht an der Universität Köln, ging im Vorfeld der Entscheidung beispielsweise fest davon aus, dass die Klägerin "keine Chance haben dürfte". Er begründete dies insbesondere damit, dass die Union den Status, den die Kirchen in den Mitgliedsstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, achte und ihn nicht beeinträchtige: "Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität einen offenen und transparenten und regelmäßigen Dialog." Der "Dialog" zeigt sich auch in intensiver Lobbyarbeit der Kirchen in Brüssel. Das Ergebnis kann man beispielsweise in Art. 91 der EU-Datenschutzgrundverordnung aus dem Jahr 2016 nachlesen, welcher die Kirchen neuerdings vom Anwendungsbereich ausnimmt.

Nach einem EuGH-Urteil auf der Linie des Generalanwaltes wird die Fortsetzung der bisherigen kirchlichen Einstellungspolitik, wie sie beispielsweise Jörg Kruttschnitt, zuständig für Organisations-  und Rechtsfragen bei der Diakonie, verfolgen möchte, nicht möglich sein. Kruttschnitt wird im Deutschlandfunk zitiert mit der Aussage, dass, selbst wenn der EuGH gegen das uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen im Rahmen der Einstellungspolitik entscheiden sollte, die Diakonie kaum Anlass sähe, ihre Regeln zu ändern: "Wenn sie uns fragen, warum wir irgendetwas so oder so tun, dann erklären wir das und da sind wir recht gut drin, da sehe ich kein Problem." Die Folge dieser Haltung wären Klagewellen Betroffener gegenüber kirchlichen Einrichtungen.

Bewertung und nächste Schritte

In wenigen Monaten wird der EuGH in dieser Angelegenheit ein Grundsatzurteil fällen, welches zu einer umfassenden Neujustierung des kirchlichen Arbeitsrechts führen könnte. Erstmalig wird der EuGH über die Ausnahmeregelung zugunsten der Kirchen in Art. 4 Abs. 2 der EU-Richtlinie zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (2000/78/EG) entscheiden. Nach Auffassung von im Arbeitsrecht spezialisierten Rechtsanwälten würde sich für die kirchlichen Arbeitgeber einiges ändern. Sie müssten künftig nicht nur Bewerber unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit im Auswahlverfahren zulassen, sondern im Einzelnen auch begründen können, aus welchen Gründen sie sich gegen eine Einstellung zum Beispiel eines konfessionsfreien Bewerbers entschieden haben. Es müsste gerichtsfest nachgewiesen werden, dass die Konfession des Bewerbers einen konkreten Tätigkeitsbezug hat. Für den Religionslehrer könnte eine entsprechende Religions- oder Konfessionsvorgabe gemacht werden, für den Koch in der Schulkantine nicht. Je näher der einzustellende Bewerber am Verkündigungsauftrag beteiligt ist, desto eher besteht die Möglichkeit, nach der Religion des Bewerbers zu unterscheiden. Abgelehnte Bewerber könnten ihre Konfession beziehungsweise Konfessionsfreiheit in einem Entschädigungsprozess als Indiz ihrer Benachteiligung werten. Arbeitgeber, die solchen Anti-Diskriminierungsklagen ausgesetzt sind, dürften dann vor erheblichen Beweisproblemen stehen, da das BAG in seiner Rechtsprechung zu Anti-Diskriminierungsklagen hohe Rechtfertigungshürden aufgestellt hat.

Ein positives Urteil des EuGH wäre ein weiterer Schritt hin zur Geltung von Antidiskriminierungsbestimmungen im kirchlichen Arbeitsrecht, welches gegenwärtig ja auch schon an einigen anderen Ecken leicht bröckelt. Erst im Oktober hatte die Gewerkschaft ver.di erstmalig in Deutschland zum Warnstreik in einer katholischen Klinik aufgerufen und damit einen Tabubruch begangen, denn das kirchliche Arbeitsrecht sieht kein Streikrecht vor. 

Im Anschluss an ein Urteil des EuGH wäre es sodann Aufgabe des BAG, zu prüfen, ob § 9 Abs. 1 erste Alternative des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), der eine unmittelbare Diskriminierung Konfessionsfreier bei der Einstellung unabhängig von der Art der Betätigung zulässt, in Einklang mit Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 ausgelegt werden kann. Der Generalanwalt merkt insofern zu Recht an, dass § 9 Abs. 1 erste Alternative des AGG eine höchst problematische Vorschrift ist. Sie ist vor dem zuständigen Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen im Hinblick auf die Einhaltung des Übereinkommens der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung kritisiert worden. Sie war schon Gegenstand eines von der Kommission gegen Deutschland eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens und ist von einer deutschen Regierungsbehörde, die die Einhaltung von Antidiskriminierungsvorschriften in diesem Mitgliedstaat überwacht, in Frage gestellt worden. Sollte das BAG im Ausgangsverfahren zu dem Ergebnis kommen, dass die Regelung des AGG nicht im Einklang mit dem Unionsrecht ausgelegt werden kann, stünde der Klägerin nach dem Unionsrecht die Möglichkeit offen, gegen Deutschland eine Klage auf Schadensersatz aus Staatshaftung zu erheben. 

Erstveröffentlichung: Institut für Weltanschauungsrecht am 17.11.2017