Kommentar

Musste das wirklich so sein? - Zum Fall Dr. Hänel

Bedauern, Schulterzucken, so ist nun mal die Rechtslage? Ablehnung, Wut, "die da oben"? Versuchen wir, beides beiseite zu lassen und uns dem Auge des Sturms ein wenig analytisch zu nähern.

Wie Rechtsanwalt Udo Vetter auf seinem Blog richtig erwähnt, handelt es sich bei dem Urteil aus Gießen um eine sogenannte "Isso-Entscheidung". Ist eben so – steht da so drin. Ja, tut es, im Strafgesetzbuch. Aber… es gibt schon einiges einzuwenden und abzuwägen.

Das verbreitete Unbehagen über die Anklage und das Urteil stammt natürlich daher, dass hier irgendwo ein Bruch gespürt wird zwischen den Regelungen zur Straffreiheit von Schwangerschaftsabbrüchen einerseits und einer Vorschrift wie dem § 219a StGB andererseits, der im Kontext der Neuregelung des Rechts des Schwangerschaftsabbruchs aus heutiger Sicht wie ein "Nachtreten" des Gesetzgebers anmutet, dem ein Rest Widerwillen gegen seine eigenen Reformen damals noch in den Kleidern steckte. Gut, man könnte sagen, wenn der Gesetzgeber diese Diskrepanz bei der damaligen Reform sogar ausdrücklich geregelt hat, dann wollte er das eben so. Aber seitdem ist einiges an Zeit vergangen und auch das ist juristisch nicht irrelevant. (Man muss dazu wissen, dass im § 219a bis 1976 etwas ganz anderes geregelt war, nämlich die Folgen für einen Arzt bei einer Falschberatung nach altem Recht – also beispielsweise für den Fall, dass er eine zu erwartende Missbildung aus Gefälligkeit bescheinigte).

Also – wie ist das mit der Diskrepanz? Dazu hat das Gießener Gericht wohl ausgeführt, dass der Gesetzgeber "Werbung für Schwanageschaftsabbrüche" für unerwünscht bis fragwürdig hielt. Bitte erinnern – von wann ist das "Werbeverbot"? Vom Ende der 1970er Jahre, als die Reform des Rechts des Schwangerschaftsabbruchs sowohl beim Gesetzgeber selbst als auch in der allgemeinen Vorstellung noch einen ganz anderen Stellenwert hatte. Wenn der Gesetzgeber damals noch keinerlei Werbung oder werbeähnliche Aussagen im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüchen sehen wollte, ist das nachvollziehbar. Aber ist das noch heute nötig, angemessen und vertretbar? Wo ganz offensichtlich große Teile der Öffentlichkeit einen Bruch zwischen den Paragrafen 217 und 219a empfinden statt einer Korrespondenz? Ich zweifle daran. Und dann? Immerhin ist es laut Bundesverfassungsgericht Aufgabe der Gerichte, "angesichts des beschleunigten Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse und der begrenzten Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers sowie der offenen Formulierung zahlreicher Normen das geltende Recht an veränderte Verhältnisse anzupassen" (so in der Entscheidung des Ersten Senats vom 25. Januar 2011 - 1 BvR 918/10 -).

Nun – diesen Fragestellungen hat das Gericht sich offensichtlich nicht geöffnet. Das ist bedauerlich, auch angesichts des Umstandes, dass die Literatur nicht einen einzigen durch Urteil abgeschlossenen Fall eines Verstoßes gegen 219a StGB kennt – insofern betrat das Gießener Gericht ja durchaus "Neuland".

Wir wollen die so grundsätzliche Kritik nicht zu weit treiben, zumal die schriftliche Urteilsbegründung noch nicht vorliegt. Wenden wir uns der "schlichten Rechtsanwendung" zu.

Allgemeine Begriffe in Rechtsvorschriften sind nach der allgemeinen Verkehrsanschauung auszulegen. Ist danach der Hinweis auf der Webseite von Frau Dr. Hänel "Werbung"?

Nach der Definition des Gabler-Wirtschaftslexikons ist Werbung "die Beeinflussung von verhaltensrelevanten Einstellungen mittels spezifischer Kommunikationsmittel, die über Kommunikationsmedien verbreitet werden". Also die Schaffung eines Werturteils, das für eine spätere Entscheidung bedeutungsvoll sein soll. Ist ein Hinweis auf einer ärztlichen Homepage, dass Schwangerschaftsabbrüche zum Leistungsbild der Praxis gehören, in diesem Sinne Werbung?

Man darf dies mit Blick auf den Teilaspekt der "Beeinflussung verhaltensrelevanter Einstellungen" in Frage stellen. Folgt man der vom Gericht unterstellten gesetzgeberischen Intention, durch ein Werbeverbot keinen Entscheidungsprozess aktiv zu befördern, so wird man der Anwendung des § 219a auf ärztliche Informationsangebote entgegenhalten müssen, dass ja gar keine "Beeinflussung verhaltensrelevanter Einstellungen" durch eine Information wie die auf Dr. Hänels Webseite möglich ist – denn dem hat der Gesetzgeber in diesem Fall ja selbst einen Riegel vorgeschoben. Er hat den Entscheidungsprozess der Betroffenen von einem förmlichen Beratungsverfahren abhängig gemacht und damit bereits im Vorfeld der ärztlichen Tätigkeit einem eigenen, von ihm gewählten Regime unterworfen. Wo soll da noch Raum für eine beeinflussende "Werbung" durch den später hinzutretenden Arzt sein. Unter diesem Aspekt reduziert sich der Paragraf 219a gegen "Werbung für Schwangerschaftsabbruch" im Falle Hänel auf ein rechtlich gehaltloses Moralisieren. Was allerdings dem Gericht nicht weiterhilft, da der Wortlaut des Gesetzes eindeutig ist: Er hebt klar – einigermaßen sinnbefreit – auch auf die ärztliche Leistung des Schwangerschaftsabbruchs selbst ab. Damit aber ist das Problem der Beschränkung der Informationsfreiheit tangiert.

Von weit größerem praktischen Interesse und mehr der Sphäre der "normalen Rechtsanwendung" zuzuordnen ist aber die weitere Tatbestandsvoraussetzung "seines Vermögensvorteils wegen" und vor allem die Frage, ob diese gegeben war. Dabei kommt es vor allem darauf an, ob mit der Formulierung der Vermögensvorteil als ausschließlicher Beweggrund für die strafbewehrte Handlung zu gewichten ist. Eine enge Auslegung zu Lasten des Beschuldigten – schon bei einem geringen Einnahmen-Ausgaben-Überschuss – kommt, da wir uns hier im Strafrecht bewegen, nicht in Frage. Auch der Wortlaut lässt ohne Weiteres die Auslegung zu, ja legt nahe, dass der Gesetzgeber daran dachte, dass die Gewinnung eines persönlichen Vermögensvorteils nur dann strafbewehrt sein soll, wenn er alleinige Motivation ist ("Gewinnsucht"). Ansonsten hätte die woanders im Recht vielfach verwendete Formulierung "Erlangung eines Vermögensvorteils" besser gepasst, denn dies lässt weitere Motivationen durchaus zu. Aber nicht "seines Vermögensvorteils wegen" – das "nur" springt uns ins Auge, auch wenn es nicht gedruckt dort steht.

Ein weiterer für diese Auslegung schwerwiegender Aspekt kommt dazu: In der Fassung des § 219a, die vor dem 16. Juni 1993 galt, kam die Einschränkung des "eigenen Vermögensvorteils" gar nicht vor! Die ursprüngliche Vorschrift ist also 1993 entschärft, unter die besondere einschränkende Voraussetzung "seines Vermögensvorteils wegen" gestellt worden, sollte also keineswegs verschärft werden. Was eine restriktive Rechtsanwendung zu Lasten des Beschuldigten für alle Fälle ausschließen dürfte, in denen nicht eindeutig Gewinnsucht als alleiniges Motiv nachgewiesen werden kann. Es bewahrheitet sich der alte Rat, dass ein Blick ins Gesetz – und seine Historie, mag man hier hinzufügen – die Rechtsfindung erleichtert.

Man darf wohl ohne näheres Wissen zur Beweiserhebung davon ausgehen, dass eine so verstandene Rechtsauslegung bei einer verständigen Beweisaufnahme nicht zu einer Verurteilung von Frau Hänel hätte führen sollen.

Um es recht zu verstehen – ich bin ein Gegner von Richterbashing und möchte diese Ausführungen auch nicht so verstanden wissen. In diesem Fall geht es darum, aufzuzeigen, dass andere Wege der Urteilsfindung denkbar und möglich gewesen wären. Wenn das Gericht sie nicht gegangen ist, liegt das in seiner Befugnis und in der Hand der Berufungsinstanz. Es erstaunt aber doch, dass in diesem Fall die rechts- und gesellschaftspolitische Dimension des Falles so wenig den Blick geklärt hat, dass nicht nur die erste Verurteilung überhaupt nach dieser Vorschrift zustande kam, sondern auch gleich noch mit einer wirklich nicht als "milde" anzusehenden Strafzumessung. All das selbstverständlich immer unter dem Vorbehalt, dass die Gedankengänge des Gerichts mangels schriftlicher Begründung uns ja noch nicht bekannt sind und die vorstehenden Ausführungen obsolet machen könnten. Und ob der gesamte § 219a gestrichen gehört – das ist eine ganz andere Frage, die gesondert betrachtet werden muss, denn er regelt ja nicht nur diesen Sachverhalt. Und zu den Anzeigestellern erspare ich mir jeden Kommentar.