Leid ist nicht gleich Leid: Ex-Bundespräsident Gauck unterscheidet nach Religionen

Im Unterdrückungswettbewerb

Das Christentum sei die am stärksten verfolgte Religion der Welt. Diese Pseudoinformation aus der religiösen Lobby verbreitet jetzt auch Ex-Bundespräsident Joachim Gauck.

Wir sehen es an allen Ecken und Enden: Zahlen werden geschaffen, um Anliegen durchzusetzen. Wirtschaftsverbände und Konzerne beauftragen "unabhängige" Institute, die mit den gewünschten Ergebnissen daherkommen, Politiker gehen mit diesen Zahlen in Talkshows, "Meinungsforscher" beliefern die Medien mit einem zuverlässigen, jederzeit staunenswert ausdeutbaren Auf und Ab an Prozentanteilen. Hinter jeder Zahl, die in den Medien auftaucht, steht ein Lobbyinteresse, das sie durchgepaukt hat – ausgenommen vielleicht das Wetter und die Fußballergebnisse. Der Umgang mit den Zahlen schwankt dabei irgendwo zwischen vorsätzlicher Täuschung, gedankenloser Nutzung und Unfähigkeit zu mathematischer Erkenntnis.

Kürzlich etwa trat mal wieder der bekannte Verfolgtheitsexperte Joachim Gauck auf, Pastor und ehemaliger Bundespräsident, der sich im Nachgang der DDR auch einen Ruf als Regimegegner zu schaffen verstand, wohingegen er in der Bundesrepublik jederzeit bereitwilligst in den Dienst der Obrigkeit tritt und jede Gelegenheit nutzt, salbungsvolle Worte vor Publikum zu sprechen. Ob Dummheit, Ungeschick oder der liebe Gott ihn bei seiner Ansprache in Hamburg leiteten, wird sich nicht klären lassen und ist auch egal, jedenfalls schlug Bundesgauck fest: Das Christentum sei die am stärksten verfolgte Religion auf der Welt.

Und das ist auf so vielen Ebenen dämlich, dass man sich erst mal setzen  und schauen muss, ob Gott nicht vielleicht doch im letzten Moment ein bisschen Heiligen Geist vom Himmel wirft, um den Gauck da wieder rauszuhauen. Aber nichts geschieht. Gesagt ist gesagt. Und also muss man diesen Quatsch also tatsächlich aufdröseln.

Dass Christen die am meisten verfolgte Religionsgruppe der Welt seien, ist eine Zeitungsschlagzeile, die einmal im Jahr die Runde macht, nämlich dann, wenn die evangelikale Organisation "Open Doors" im Städtchen Kelkheim ihren Weltverfolgungsindex raushaut. 100 Millionen verfolgte Christen werden dann heraustrompetet, oder, schwupps, von einem Jahr aufs nächste, verdoppelt man dann auch gern mal den Jackpot: Dann doch 200 Millionen. Wie diese Zahlen entstehen? Was überhaupt "Verfolgung" bedeutet? Muss einem dazu das Haus angezündet werden, oder genügt es, wenn die eigene bevorzugte Gottesmixtur vor Ort nicht im Religionsunterricht erhältlich ist?

Telepolis hat es dankenswerterweise einmal genauer aufgeschrieben, die Lektüre sei hiermit empfohlen, und sie lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Zahlen werden sich in Kelkheim, von den sechzig Mitarbeitern, ohne allzu große Skrupel, aus den Fingern gesogen. Ihre Maßstäbe sind nicht nachvollziehbar. Die "Open Doors" tragen nicht das unabhängige "Deutsche Spendensiegel". Überprüft werden sie von einer anderen Organisation aus demselben evangelikalen Umfeld. Kurz gesagt: Hier riecht es sehr streng nach ziemlich plumpem religiösem Lobbyismus mit einer besonders unangenehmen Note. Denn Verfolgung von Menschen entsteht häufig in einer komplexen sozialen Gemengelage, in der die Religionszugehörigkeit nur ein Aspekt ist. Wer das auf eine besonders starke Verfolgung einer bestimmten Religion runterkocht, macht im Subtext natürlich andere Religionen zu Tätern.

Rein mathematisch ist es ja ohnehin Unfug, nun aus angeblich 200 Millionen verfolgten Christen die größte Verfolgtheit der Welt machen zu wollen. Es gibt eben verdammt viele Christen, die neuesten Zahlen, die uns gerade ein Engel des Herrn geflötet hat, liegen bei zirka zwei Milliarden, mögen sie jederzeit gesund und glücklich sein. Dass es hingegen viel kleinere Glaubensgemeinschaften gibt, die vielleicht sogar in ihrer Gesamtheit Repressionen ausgesetzt sind, rückt dabei aus dem Blick. Denn man begeistert sich eben an der gigantischen Summe von Opfern, und von der Kanzel herunter macht man sich gern zum Herold dieser Heerscharen, ehe man sich dann wieder in einer Luxuslimousine nach Hause fahren lässt.

Das aber ist noch gar nicht das wirklich Ärgerliche an Gaucks Propagandaeinsatz. Zahlen hin oder her, da lasse man mal die Kirche im Dorf und alle Fünfe gerade sein, da haut halt jeder Interessenvertreter irgendwas raus, das man nicht gar zu ernst zu nehmen braucht. Viel entscheidender ist doch aber der Vorsatz: Aus dem Elend auf der Welt sich eine Gruppe herauszusuchen. Deren Elend im Subtext mit dem anderer Opfer zu vergleichen. Und dann zum abschließenden Prüfungsergebnis zu kommen: Die hier sind die Allerverfolgtesten!

Hätte Jesus das getan? Die PR-Logik, auf deren Grundlage Gauck argumentiert, müsste dem Christen fremd sein: Ist denn die Unterdrücktheit ein Wettbewerb? Wieso ist das Leid auf der Welt anhand der Religion der es Erleidenden aufzusplitten? Ist das Leiden eines Christen mehr wert als das eines Muslims, Juden oder Jediritters? Seit dem frühen Christentum hat man sich die Verfolgtheit ja immer gern - und gern auch in unfassbar grausamen Martyriumsgeschichten - zum Ausweis der eigenen Erhabenheit gemacht.

Jesus Christus hat, nach heutiger Lesart, nicht unterschieden. Ihn hat es nicht gekümmert, woher wer kam, wenn er sich, mühselig und beladen, an ihn wandte. Jesus sah in jedem Menschen nur den Menschen. Das war das Tolle an ihm. So zumindest wird er heute verkündet, auch wenn die Bibel Zornesausbrüche von ihm kennt, die so gar nicht ins Bild passen wollen. Aber gut, Nehmen wir Konsensjesus, wie ihn gerade die braven Protestanten immer wieder gern unters Volk bringen: Hätte der unterschieden nach Religionen? Hätte er sich zum Lobbyisten seiner Klubmitglieder gemacht?

Schauen wir hin. Überall auf der Welt werden sich – aus religiösen Gründen oder mit religiösem Vorwand – die Köpfe eingeschlagen. Nur ein ganz winziger Moment des Nachdenkens ist nötig, um etwas Grundlegendes zu verkünden statt neuer ausgedachter Rekordzahlen: Dass, egal welche beteiligt ist, die Religionen zu Intoleranz und Segregation führen, zur Unterscheidung und Überhebung – wie sie in Gaucks Christen-Sondergepussel angelegt ist. Man sollte, wie es seriösere Organisationen als "Open Doors" und seriösere Experten als Joachim Gauck tun, sich für jeden Menschen einsetzen, dem die Menschenrechte verwehrt werden – ob er nun Christ sei, Vishnuist, Pastafari, oder ob er nun gar ganz auskomme ohne irgendeine der Tausenden Glaubensrichtungen, die im Angebot sind, ohne einander dadurch glaubwürdiger erscheinen zu lassen.