Religion im Licht der Ethologie

Die Rituale der Affen und die Riten der Menschen

BERLIN. (hpd) Rituale besänftigen. Im Tierreich und unter den Menschen. Religiöse Riten entstanden aus Verhaltensmustern, wie sie in Auseinandersetzung um Territorien, in der Klärung von Situationen von Stärke und Schwäche längst vor Aufkommen des Menschen existierten. Das ist die These von Ina Wunn.

Wenn ein Pavianmännchen einem Weibchen sein Kind abluchsen will, um sich mit ihm im Arm vor ihren Geschlechtsgenossen interessant zu machen, dann machen sie sich zu Füßen der beiden ganz klein, drücken den Vorderleib platt gegen den Boden. Ebenso eine Wölfin, wenn sie mit ihren Jungtieren spielen will. Ein Paradiesvogel hängt sich geradezu kopfüber an den Füssen auf, wenn er federspreizend dem Weibchen imponieren will, oder dreht sich kreisend in rasendem Derwischtanz. Dem röhrenden Hirsch erspart das Röhren den wirklichen Konkurrenzkampf mit dem Artgenossen genauso wie dem Amselmännchen auf dem Schornstein das Singen den Kampf. Eisvögel und Falken buhlen um ihre Liebste mit Futtergaben.

Ritualisiertes Verhalten hilft in der Tierwelt, Konflikte zu vermeiden, oder es befriedet. Genau das tun, so die These der Religionswissenschaftlerin Ina Wunn und ihrer Co-Autoren, des Biologen Patrick Urban und des Theologen Constantin Klein, die Riten der Religionen. Und sie entstanden in genau den Situationen, in denen sie im Tierreich ebenfalls vorkommen, im Konflikt um Territorien. Häufig zunächst mit einer Droh- und Abschreckfunktion.

Innerhalb einer Gemeinschaft besänftigen Rituale andererseits nicht nur, sie wirken auch gegen die Angst. Auf ganz elementare Emotionen. So entstanden sie am Anfang der kulturellen Evolution und konnten sich halten, ja differenzierten sich immer weiter, denselben Prinzipien von Zufall und Bewährungsprobe durch die Umwelt unterworfen wie die Gene der biologischen Evolution. Die Religionen verdanken ihre lange Geschichte nicht der Wirksamkeit ihrer Erkenntnismodelle über die Welt, sondern dem Funktionieren innerhalb der menschlichen Gemeinschaft. In der Frühzeit der Menschheit vor allem, in nicht stratifizierten Gemeinschaften, wo der Ritus selbst Begründungsfunktion hatte, da es Institutionen noch nicht gab. So die Hauptthese der drei Wissenschaftler in ihrem Buch "Götter Gene Genesis. Die Biologie der Religionsentstehung".

Sie wollen das Phänomen Religion nicht neurophysiologisch orten, nicht fragen, ob Religion heute glücklich oder unglücklich macht. Sie fragen, wie Religion entstand, und erklären sie erstmals aus der Perspektive der Verhaltensforschung. Dazu werfen sie einen Blick auf das, was davon aus den Anfängen der Menschheit übrig blieb, die archäologischen Überreste. In den Höhlenmalereien anerkennen die drei noch kein mythisches Denken, allein visualisierte Territoriumsansprüche. Erste Begräbnisse verweisen, so halten sie fest, aber schon viel früher auf einen rituellen Umgang mit dem Tod. Solche Zeremonien halfen ebenso beim Umgang mit der Angst vor dem eigenen Tod und machten territoriale Ansprüche sichtbar. Steingräber zeigen deshalb phallische Symbole oder eine mehr oder weniger stilisierte weibliche Scham.

Aus den Toten wurden irgendwann Ahnen, aus den Grabhöhlen der Schoß der großen Erdmutter. All das noch ohne Jenseits. Ein Totenreich gab es erst später. Aus Ahnen wurden Heroen. Götter siedelten – man denke an die antiken Götter im Olymp – noch bis in historische Zeiten eher auf Bergen als im Himmel.

Götter waren lange lokale Götter. Zum einzigen Gott wurde Jahwe bei den Judäern erst, als sie zwangsumgesiedelt nach Babylonien kein Land mehr ihr eigen nennen konnten.

Die Religionswissenschaftlerin Ina Wunn und ihr Team gehen an das Thema mit fast naturwissenschaftlicher Methodik heran. Mit möglichst einfachen Erklärungen, mit so wenig Erklärungen wie möglich. Warum den Höhlenmalern von Lascaux, wie André Lerhoi-Gurhan es macht, eine ganze Totem-Tier-Theorie unterstellen, wenn schon die Lust am Malen ausreicht und der Wusch, die Höhlen durch Malereien als die eigenen zu kennzeichnen? In der Tat muss es eine durchgängige Methodik des Erklärens geben, wenn man über eine Entwicklung ohne Brüche redet, nicht Natur hier, Geist dort. Andererseits gilt sicher auch, dass man nicht annehmen darf, dass dort nichts war, wo wir nichts wissen.

Aber warum sollte es nicht eine genauso große Lust am Erzählen wie am Malen gegeben haben? Wohl niemals nachweisen ließe sich wohl folgender etwas spekulativer aber ausbaufähiger Alternativgedanke, der außerdem allen Feministinnen gefallen sollte: Vielleicht stand am Anfang des Erzählens die Not der Mütter, die ewigen Warum-Fragen ihrer Kinder zu beantworten – etwa "Mama, warum hat das Mammut einen Rüssel?" - um ihre Kinder zum Einschlafen zu bringen. Märchen eben, die vielleicht deshalb so langlebig sind, weil sie schon am Anfang der Entwicklung standen, ehe aus ihnen Mythen und Religionen wurden.

Ach, und das sei noch gesagt: Wenn man die Entstehung eines Erklärungsmodells – der Religionen – erklärt, ist natürlich nichts darüber entschieden, ob dieses selbst richtig oder falsch ist. Nicht deshalb richtig, weil so tief in die Struktur des menschlichen Handeln eingebunden, nicht deshalb falsch, weil aus biologischen Wurzeln erklärbar. Die Religionen kommen vor wie Regen, Schnee und Hagel, die Tagesschau und die Smartphones.

 


Ina Wunn, Patrick Urban, Constantin Klein: "Gotter Gene Genesis. Die Biologie der Religionsentstehung", Springer Spectrum Verlag, Berlin Heidelberg 2015, 279 S. 24,99 Euro