Kurz vor den letzten Präsidentschaftswahlen drehte Claus Drexel seine Dokumentation "America". Es ist eine Interview-Collage über die Stimmung und Mentalität in den USA bei den Menschen einer ärmeren Kleinstadt in Arizona, die der zu diesem Zeitpunkt üblichen Wahlkampf-Propaganda ausgesetzt war.
Im Hintergrund hört man zu Beginn eine Ansprache Donald Trumps, der die USA als "Müllplatz für die Probleme dieser Welt"1 bezeichnet; er wolle Amerika wieder "stolz und groß machen". Hauptgesprächsthemen sind die liberalen Waffengesetze in den USA – das "Second Amendment"2 und das Gesundheitswesen, "Obama-Care".
Drexel wählte den Ort "Seligman" in Arizona wegen seines unverwechselbaren, viel versprechenden Ortsnamens und weil er groß genug für einen repräsentativen Ausschnitt der ländlichen Gegenden schien. Er legte sich selbst einige Bedingungen auf; beispielsweise wollte er unbedingt eine schwangere Frau als Interviewpartnerin in seinem Film haben. Der Staat Arizona wurde gewählt wegen der symbolhaften Landschaft des überwältigenden Grand Canyon, der eine starke Bedeutung in den USA, aber auch weltweit habe; außerdem gibt es eine direkte Grenze zu Mexiko – dem Wahlkampfthema von Donald Trump. Zudem ist Arizona ein Staat, in dem es etwa 21 indianische Stämme gebe; einer der größten sind die Hopi, denen er in seiner Präsentation durch einen Interviewpartner eine Stimme geben wollte (dieser lebt allerdings nicht direkt im Ort "Seligman"; seine Einarmigkeit wird in der Dokumentation nicht erklärt3).
Sowohl der Ort als auch die Interviewpartner sind unspektakulär, aber kontrastreich: Nichts Pompöses oder Luxuriöses zeichnet sie aus. Überwiegend sind es arme Leute, die man hier vor der Kamera sieht: Cowboys, Servicepersonal aus der Gastronomie, Mechaniker, Handwerker. Dazu ein früherer Beamter eines Ministeriums der US-Verwaltung, Motelbesitzer, Pferdezüchter, pensionierte Veteranen, ehemalige Krankenschwestern. Durchschnittsmenschen, weder Banker noch Manager noch Politiker. Drexel hat sich bewusst dafür entschieden, diese Menschen in den Blick zu nehmen. Die Kulisse bilden ihre einfachen Häuschen, Hütten, Wohnmobile; davor stehen ausgeschlachtete Autos, Anhänger, Traktoren, Gruschtelgaragen. Der erste Gesprächspartner lobt Donald Trump vor seiner Hütte als "a very caring person". Einer der Einwohner in "Seligman" lebt vom Verkauf gesammelten verwertbaren Abfalls oder Gruschts, wie man in Süddeutschland sagt. Er wolle Trump wählen, seine Frau ist Afro-Amerikanerin. Seine Begründung: Trump als "businessman" habe möglicherweise Ahnung von Geschäften, die andere nicht haben. Wenn er das Land geschäftsmäßig erfolgreich führen würde, sei es ihm recht; anderen zuvor sei dies nicht mehr gelungen. Ein jüngerer Interviewpartner lebt allein in einer kleinen Bude, arbeitet tagsüber, trinkt abends zuhause sein Bier, "that's it". Sein Chef verstehe das nicht, aber er sei zufrieden, und diese Zufriedenheit will er sich von niemandem streitig machen lassen: Er habe weder Fernseher noch Radio, gehe tagsüber arbeiten und leiste sich abends sein Bier. Wenn irgendjemand käme, um ihm diese Lebensweise streitig zu machen, habe jener Mensch wenig zu lachen. Dieses Land sei aufgebaut worden auf einem Handschlag und einem Lächeln, und das gelte heute nicht mehr viel.
Die selbstverständliche Freizügigkeit im Umgang mit Waffenbesitz durchzieht die gesamte Dokumentation. Damit beginnt sie: Die erste Interviewpartnerin ist stolz auf ihre "Black Beauty", ein Revolver, den sie hütet wie ihren Augapfel und den ihr niemand wegnehmen wird. Wer es versuche, sei ein toter Mann. Ihr Mann sei an einer Kugel davon gestorben, die er lange im Hirn hatte, weil sie dort herumwandere; so wisse sie, was dies bedeutet. Vielleicht gebe sie sich selbst eines Tages damit die Kugel, auf dieselbe Weise. Sie schaltet den Radioknopf aus, als eine Ansprache Trumps gesendet wird, die mit "God bless you" endet, während sie die Wohnung staubsaugt. Es wirkt, als ob sie dieses Gerede nicht mehr ertragen könne.
Eine junge hochschwangere Frau ist stolz auf ihre hauseigene Waffensammlung. Ihr Erstgeborener habe mit fünf Jahren die erste eigene Waffe als Geschenk erhalten. Das werde sie mit dem nächsten ebenfalls so halten; die beiden heißen Wyatt und Jesse, benannt nach den berühmten Westernhelden. Andere Interviewpartner zeigen ebenfalls ihre Waffensammlung, einer hat eine ganze Garage voll. Überwiegend seien es jedoch Jagdgewehre; das brauche man hier, schließlich hätten Amerikaner immer gejagt. Man lebe teilweise genau davon: Vom Jagen (das Ergebnis einer Jagdszene – die Teilung eines gehäuteten Rehs – steht relativ am Anfang). Eine Notwendigkeit des Überlebens. Seiner Ansicht nach liege das Problem nicht bei den Waffen an sich, sondern bei der dahinter stehenden Mentalität der Leute. Außerdem müsse man bedenken, dass es hier keine Polizei gebe; die nächste Polizeistation ist 2,5 Stunden entfernt. Wenn etwas passieren würde, wüsste man nicht einmal, ob man jemanden dort erreichen könne, und es würde garantiert zu lange dauern, bis ein Sheriff oder Polizist hier eintreffen würde. Folglich sei man auf die persönliche Bewaffnung zur Selbstverteidigung angewiesen. Selbst Interviewpartner, die keine Waffen bei sich zuhause haben, freuen sich, wenn andere bewaffnete Personen beispielsweise in den Coffee-Shop kämen, weil ihnen dies ein Gefühl der Sicherheit geben würde: Wenn etwas passiere, gebe es jemanden, der sich und andere verteidigen könne. Genau dieser Interviewpartner, ein Weißer, äußert sich in einem Punkt drastisch klar: Es wäre gut gewesen, man hätte gleich zu Beginn des Entstehens der USA die "Pilgrim Fathers" umgehend wieder hinausgeworfen aus diesem Land. Er präsentiert stolz sein blendendes Gebiss; dies habe er den Russen zu verdanken. Er habe eine Position im Verteidigungsministerium gehabt; daher wisse er, dass die Russen als Gegner für die USA zur Zeit des "Kalten Krieges" besser waren als heute, wo man ihre Partnerschaft suche. Selbst habe er keine Waffe im Haus.
Eine Veteranin der US-Armee4 indigener Herkunft (erkennbar an der Innendekoration ihres Heims mit Traumfängern, ihr Schmuck und ähnlichem, neben dem Äußeren), mit einer Vergangenheit als Krankenschwester im Vietnam-Krieg, sieht die Gewalt differenzierter: Sie erinnere sich daran, dass sie jeden im Krieg behandelt habe, egal, ob er Amerikaner oder Vietnamese war. Sie behandelte einen schwer verletzten vietnamesischen Soldaten im Dreck liegend, der vor ihren Augen starb; als sie seine Uniform zur Behandlung öffnen musste, quoll sein gesamtes Gedärm heraus. Sie konnte ihm nicht mehr helfen. Ein Junge näherte sich ihr, stach ihr ein Messer in den Rücken und in die Nieren.5 Sie schnellte herum und erschoss ihn. Das werde sie nie vergessen, sie erinnere sich bis heute daran, und es täte ihr leid. Man habe immer davor gewarnt, sich fremden Kindern und Jugendlichen zu nähern, da sie häufig als Kuriere tätig waren – eine Grundregel, die man als Soldat lerne. Heute lebt sie als Pensionärin allein. Ein weiterer Mann im Film, mit Cowboy-Hut und -Stiefeln, hat ebenfalls Waffen im Haus, allerdings nur für die Jagd. Dafür seien sie nötig, das ließe sich hier niemand verbieten. Allerdings sollte der Gebrauch derselben sich darauf beschränken; er wolle niemanden erschießen. Ein weiterer Gesprächspartner ist ein ehemaliger Beamter eines Ministeriums, der aufgrund eines schweren Herzinfarktes im Jahr zuvor vorzeitig pensioniert wurde. Er sieht die Waffenliberalität in den USA sehr kritisch und plädiere für ein Verbot von allen Waffen, die über reine Jagdwaffen hinausgehen. Aufgrund seines Gesundheitszustandes und der dafür verantwortlichen Ursache habe er das Privileg, in die Kategorie der "disabled people" zu gehören, dafür nach US-Gesundheitsgesetzen "qualifiziert" zu sein, das sichere ihm eine Pension, die zum Leben ausreiche. Das gezeigte Innere seiner Wohnung wirkt ordentlich, weder geschmacklos noch protzig. Er ist ein Befürworter von "Obama-Care", das sich nicht auf "disabled persons" beschränken, sondern alle Jugendlichen bis einschließlich 18 Jahren mit der Gesundheitsversicherung versorgen sollte und wollte.6 Er kann sich nicht verkneifen zu hinterfragen, weshalb man Hillary Clinton wegen einer privat verschickten E-Mail vom Arbeitsplatz aus so viel Ärger und Anschwärzerei angedeihen lassen kann, während Donald Trump inzwischen einen Katalog von über 30 massiven Fehltritten aufweisen kann, für den ihn viele sogar noch zu bewundern scheinen. Eine andere Gesprächpartnerin, ebenfalls indigener Herkunft, sieht Trump sehr kritisch, die Waffengesetze ebenso. Sie werde Trump nicht wählen, verstehe auch die Begeisterung für ihn nicht. Ein interviewter alter Cowboy bringt es mit bodenständigem, robustem Witz auf den Punkt: Es gebe weltweit nur zwei Kategorien von Menschen – die einen seien Führer, die anderen seien Gefolgsleute. Das würde bedeuten, dass die Gefolgsleute wie eine Schafherde die Nase im Hintern ihres Führers hätten, um ihm zu folgen; so sei das eben, so funktioniere das. Als US-Amerikaner habe er seinem Präsidenten Respekt zu zollen, ob er ihn mag oder nicht; das gelte auch für Trump. Aber falls er das Volk verraten werde und zu große Schweinereien herauskommen sollten, würde er ihm garantiert einen Tritt in den Hintern geben.
Drexel – dessen Dokumentation mit einer Rede Trumps im Hintergrund beginnt, die dieser einleitet mit den Worten "The American Dream is dead …" – hat die Gespräche seiner Partner und die eingeblendeten Ausschnitte aus Reden Donald Trumps teilweise mit beklemmenden Aufnahmen von Soldatenfriedhöfen kontrastiert. Gegen Ende rollt im Hintergrund ein Zug voller Panzerwagen vorbei. Die Andeutung der Gewilltheit, US-amerikanische Werte zu verteidigen – koste es, was es wolle – wird sublim verdeutlicht. Es scheint die US-amerikanische Politik unterschwellig mehr zu beherrschen, als vielen klar ist. Man scheint eher bereit zu sein, lieber Steuergelder fürs Militär auszugeben, als für das Gesundheitswesen, Bildung und Soziales. Dennoch sind erstaunliche Nuancen erkennbar: Als Veteran der US-Armee genießt man hohes Ansehen, und eben auch eine Pension, die das Leben etwas absichern kann. Daher erscheinen trotz allem die kriegs- und militärerfahrenen Gesprächspartner reflektierter und kritischer als die anderen. Aber auch unter diesen scheinen US-amerikanische Grundwerte durch: Meinungs- und Religionsfreiheit, Patriotismus, große Freiheitsliebe und das Recht darauf, das eigene kleine Glück zu erstreben, zu verwirklichen und, falls nötig, mit Waffengewalt zu verteidigen. Folglich zeigt diese Dokumentation nichts anderes als die Übereinstimmung mit diesen Grundwerten, unabhängig von der jeweiligen Regierung, die diese vertreten soll. Eine von Drexels Interviewpartnerinnen weist darauf hin, dass kein US-Präsident sich gegen die Jurisdiktion stellen und einfach die Gesetze ändern könne, auch ein Donald Trump nicht. Das "Second Amendment" sei kein Verhandlungsgegenstand in Zusammenhang mit einer Präsidentschaft.
Die Dokumentation wurde während der 35. Französischen Filmtage 2018 in Tübingen gezeigt. Sie ist ein aktuelles Beispiel für konkrete absolute Umsetzung der Meinungsfreiheit, einem grundlegenden Menschenrecht, das die Partei der Demokraten in den USA möglicherweise zu lange für bestimmte Bevölkerungsgruppen ignoriert haben. Auch wenn manche der Interviewten auf Außenstehende vielleicht beinahe wie lebende Karikaturen wirken mögen, könnte dies ein Baustein sein, der dazu beiträgt zu verstehen, weshalb ausgerechnet jemand wie Donald Trump den unerwarteten Wahlsieg 2016 davon trug. Drexels Dokumentation wurde beim renommierten Sundance-Festival abgelehnt; letzteres wird stark von den Demokraten gesponsert und dominiert.7 Drexel sagte dazu nur, die Sundance-Organisatoren hätten das Recht, seine Dokumentation abzulehnen, wenn sie sie für schlecht hielten. Auch unter den Zuschauern und Organisatoren der Französischen Filmtage gab es geteilte Ansichten; Einige hielten seine Produktion für ein Beispiel für "White Trash" – was weder der Arbeit Drexels noch den facettenreichen Stellungnahmen seiner nicht durchgängig weißen Interviewpartner gerecht wird. Unter seinen Gesprächspartnern finden sich US-amerikanische Natives, ein erfolgreiches, einst aus Indien eingewandertes Ehepaar, ein einst aus Mexiko eingewandertes solches, das sich sehr loyal gegenüber den USA äußert, und weitere, neben den interviewten Partner der einstigen angelsächsischen Herkunft. Wer den Müll – sei er menschlich oder konkret – langfristig ignoriert, wird darin eines Tages vermutlich zugrunde gehen. Claus Drexel ist eine ausgezeichnete nuancierte Dokumentation über die – vermutlich durchschnittliche – Mentalität der US-Amerikaner in ländlichen Gebieten gelungen, die man kaum besser machen könnte. Er hat wenig vorgegeben, sondern höchstens angestoßen und lässt die Menschen zu Wort kommen, die mit der Politik und dem Demokratie-Verständnis ihres eigenen Landes konfrontiert werden und beidem ausgeliefert sind. Dennoch spürt man: Sie gestalten es auf ihre uramerikanische Weise selbst mit, und man kann ihnen kaum den Vorwurf machen, einfach nur dumm zu sein.
Claus Drexel, "America" (Frankreich, 2017), Dokumentation
- "This country has become a dumping-ground for all the problems of the world." ↩︎
- Der zweite Artikel des Zusatzes der US-amerikanischen Verfassung – der "Bill of Rights" – der das Recht auf Waffenbesitz festlegt (aus dem Jahr 1791). ↩︎
- Es könnte auf einer Verletzung im militärischen Dienst der US-Armee beruhen; dies ist aber nur eine mögliche Erklärung. ↩︎
- Armee-Veteranen sind in den USA genießen in den USA allgemein viel Respekt. Viele Indigene unter den US-Amerikanern treten in die Armee ein, teilweise aus Patriotismus, teilweise aus Armut und den Möglichkeiten, die ihnen dort geboten werden (die sie außerhalb kaum haben können), teilweise aus dem Grund, weil das Soldaten-Dasein näher an der früheren Geschichte ihrer eigenen Gemeinschaftsverbände zu sein scheint. ↩︎
- Hier ist anzumerken, dass Menschen mit Nierenkrankheiten in den USA zu den wenigen gesellschaftlichen Gruppen gehören, die relativ einfach und schnell in den Genuss einer guten medizinischen Versorgung kommen; sie stellen damit eine Ausnahme im ansonsten eher nachlässig (im Sinne von: Viele ausschließenden) organisierten Gesundheitssystem der USA dar. ↩︎
- In der Dokumentation wurde von einigen Interviewpartnern die Frage aufgeworfen, wer denn dies bezahlen solle in diesem Land, das so viele Probleme – nicht zuletzt finanzieller Art – habe. ↩︎
- Der charismatische Schauspieler und Drehbuchautor Robert Redford ist einer der Initiatoren dieses für die Verhältnisse in den USA "alternativen" Film-Festivals in dem Sinne, dass dort nicht nur sogenannte "Mainstream"-Filme gezeigt werden, sondern auch kritischere und anspruchsvollere Produktionen. ↩︎
2 Kommentare
Kommentare
Frank am Permanenter Link
"ßerdem müsse man bedenken, dass es hier keine Polizei gebe; die nächste Polizeistation ist 2,5 Stunden entfernt.
Diese Satz zeigt doch, wie wenig der Journalist diese Menschen versteht. Wer in einer Stadt lebt und Schwierigkeit hat, der kann jederzeit ein Notarzt oder die Polizei rufen. Innerhalb von 10 Minuten sind sie da. Auf dem Land ist es vollkommen anders, da dauert es eine Ewigkeit, bis die Polizei oder Notarzt kommt. Diese Leute sind auf sich alleine gestellt, wenn ein Politikerin wie Hillary Clinton kommt, dann haben sie wenig Verständnis für ihr Programm. Wenn ein Demokrat kommt und ihnen das Recht auf freien Waffenbesitz bedroht, dann stimmen sie für Trump, denen interessiert es nicht, wie viele Fehler er machte.
Sven F am Permanenter Link
"Als US-Amerikaner habe er seinem Präsidenten Respekt zu zollen, ob er ihn mag oder nicht"