Rezension

Die Evolution der Kohäsion

Ein fast faustisch anmutendes Projekt unternimmt Christoph Meißelbach mit seinem umfangreichen und ausdifferenzierten Buch "Die Evolution der Kohäsion. Sozialkapital und die Natur des Menschen". Sein Anspruch ist es letztlich eine Brücke zu schlagen von der Philosophie (ontologischer Realismus), über die Gesellschaftswissenschaften zu den Naturwissenschaften (biologische Evolution).

Ausgangspunkt sind für ihn die Sozialkapitaltheorien von Bourdieu, Coleman, Putnam und anderen. Deren Theoriedefizite sieht er vor allem darin, dass sie die Natur des Menschen, die ja das "Ergebnis" eines evolutionären Prozesses sind, nicht berücksichtigt.

Die Sozialkapitaltheorien stellen für ihn dabei schon eine gewisse Weiterentwicklung dar, um soziale Wirklichkeit besser zu erklären. Sie versuchten nämlich die in den Sozialwissenschaften vorherrschende Kluft zwischen der logischen Figur des individuell handelnden "homo oeconomicus" und des kulturell determinierten "homo sociologicus" zu überwinden.

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Dieser "dritte Weg" zwischen den einerseits akteur- und andererseits strukturzentrierten Theorien enthält seiner Ansicht nach jedoch auch Schwachstellen. So würden zwar beispielsweise die Eigenschaften von Netzwerken beschrieben. Es fehle jedoch eine ultimative Erklärung, warum Menschen zum Beispiel soziale Beziehungen als wertvoll erachteten und empfänden. Warum würden positive Normen von Gemeinschaft und Solidarität internalisiert und wie entstehe Vertrauen, das ja eine unersetzliche Bedingung für soziale Netzwerke darstelle. Die Antworten auf solche Fragen könnten nur im Rahmen einer evolutionär-anthropologisch fundierten Handlungstheorie erfolgen.

Obwohl es in der Natur keinen echten uneigennützigen Altruismus gebe, hätten sich nämlich im Laufe der Evolution "jene kognitiven und sozialen Fähigkeiten herausgebildet, die den Menschen in die Lage versetzten, soziale Beziehungsnetzwerke als Ressource zu nutzen". Basis für die Erklärung dieser Kooperation ist für den Autor die Multilevelselektionstheorie der Evolution. Nach ihr erfolgt die Selektion durch die Konkurrenz auf einzelnen Ebenen wie zum Beispiel zwischen Einzellern, Individuen, Familienclans und Gruppen. Danach werden in der Vererbungseinheit, dem Gen, auch erfolgreiche phänotypische Merkmale codiert. Diese bilden sich allgemein im Austausch mit der Umwelt heraus und beruhen auf bewährten Überlebensstrategien wie zum Beispiel auch der Kooperation.

Menschliche Prosozialität drückt sich für Meißelbach generell in dem Problem des Altruismus aus. Wie komme es, dass egoistische Individuen uneigennützig handelten, also auch selbstlose Denk- und Handlungsweisen praktizierten. Das zeige sich heute beispielsweise im nepotistischen Altruismus (Verwandtenselektion) sowie vor allem auch im direkten und indirekten reziproken Altruismus.

Kooperation in der Natur wird hier somit als Sozialkapital verstanden, als ein "Produktionsfaktor", weil es bei der Reproduktion der Individuen einen Mehrwert erzeugt. Auch bei Marx wird "Kapital" vor allem reproduktiv, nämlich als ein gesellschaftliches Verhältnis im Prozess der vergesellschafteten Reproduktion verstanden. Grundlage dafür ist der Wert. Evolutionär verstanden hat nämlich all das Wert, was zur Reproduktion der Individuen beiträgt. Das gilt auch für die gesellschaftliche Wertschätzung. Insofern sind internalisierte Werte und Normen, die Moral schlechthin, auch als ein Überlebensfaktor zu bezeichnen.

Dass das Eingebettet- und Geborgensein in einen "Sozialverbund", in eine Gemeinschaft, ein Bedürfnis des Menschen ist, zeigt auch die Glücksforschung. Danach sind die Menschen am meisten zufrieden, wenn sie in einer funktionierenden, lebendigen Gemeinschaft leben.

Mir scheint von den Tieren der Mensch am wenigsten von der Natur festgelegt zu sein. Viele sprechen in diesem Zusammenhang auch von einem Kulturwesen. Dennoch zeigt sowohl die Evolutionspsychologie als auch die Soziobiologie und die evolutionäre Anthropologie wie sehr der Mensch auch naturhistorisch geprägt ist. Da stellt sich natürlich die politische Frage, ob aufgrund dieser Theorien vorausgesagt werden kann, dass sich weltweit kooperatives Verhalten durchsetzt und damit eine Weltordnung entsteht, die eine globale Steuerung des Erdballs ermöglicht.

Für seinen interdisziplinär-integrativen Forschungsansatz erhielt Dr. Christoph Meißelbach den Georg-Helm-Preis 2017.

Christoph Meißelbach, Die Evolution der Kohäsion. Sozialkapital und die Natur des Menschen, Springer Nature 2019, ISBN 978-3-658-25056-0, 59,99 Euro / E-Book 46,99 Euro