Was kann Humanismus für die Entwicklung der Gesellschaft leisten?

Die Menschen verlassen in Scharen die Kirche. Haben sie den säkularen Humanismus für sich entdeckt und engagieren sie sich gesellschaftlich in dieser Richtung? Wohl eher nicht. Der Artikel setzt sich kritisch mit der gegenwärtigen Situation auseinander und bemüht sich um Anregungen.

Keine Frage: auch bei den der Kirche treu bleibenden Mitgliedern ist viel Veränderung zu verzeichnen. Bei den Kirchenleitungen stellt sich eher der Eindruck ein, dass sie inhaltlich reden, wie es gerade opportun erscheint und sich begrifflich einnebeln. Der Sumpf der intellektuellen und menschlichen Unaufrichtigkeit ist da unvermeidlich. Bei der Erhaltung von Macht, Einfluss und wirtschaftlicher Vorteilsnahme ist man beinhart und holt aus taktischen Gründen auch den Islam mit ins Boot. Die speziell deutsche Unterwanderung des Staates durch die Kirche ist letztlich ein Versagen der Politik und dem politischen Desinteresse der Bevölkerung geschuldet.

Es sind nicht alle Menschen an der wissenschaftlich-intellektuellen Erforschung existentieller Fragen interessiert. Der Hang der humanistischen Szene zu Spezialwissen und entsprechend formulierter Theoriebildung ist für sie nicht unbedingt einladend. Die organisatorische Zersplitterung macht den Einstieg nicht leichter. Der Druck der Alltagsbewältigung bewirkt das Seinige.

"Den" Humanismus gibt es nicht. Humanismus hat sehr viele Facetten. Die Zielrichtung ist jedoch ohne Zweifel richtig. Dafür steht beispielhaft die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Wird sie gelebt und gibt es gesellschaftlich ein praktisches Momentum in diese Richtung?

Die Erkenntnisse aus den Wissenschaften und der Fortschritt auf technischem und medizinischem Gebiet explodieren förmlich. Fortschritt auf vielen Ebenen ist unbestreitbar vorhanden, ohne dass das hier im Einzelnen ausgeführt werden kann. Dem stehen sehr beunruhigende Entwicklungen gegenüber. Dazu gehören die Umweltzerstörung sowie ein alle Lebensbereiche dominierendes Wirtschafts- und Finanzsystem (Kapitalismus/Neo-Liberalismus), dass sich nur durch permanenten Zuwachs aufrechterhalten kann. Niemand glaubt ernsthaft daran, dass wir dauerhaft so weiterleben können – ob Banker oder Umwelt-Aktivist.

Das demokratische System erscheint zunehmend ausgehöhlt, der gesellschaftliche Dialog stottert und zerfällt in ein Nebeneinander von mehr oder weniger unversöhnlichen Fraktionen. Die Klageführungen zu dem letzten Punkt sind allgegenwärtig. Die heutigen Kommunikationsmittel und ihre Benutzung und deren "Verwertung" befördern außerordentlich kritische Entwicklungen.

Die Fortschritte in der Genetik und den Biowissenschaften, vor allem aber die Veränderungen unter dem Stichwort KI (Künstliche Intelligenz) erzeugen Umwälzungen, deren Wege im Detail niemand voraussagen kann. Der Wandel ist in vollem Gange und nicht umkehrbar; er birgt Chancen und Risiken. Gerade KI erzeugt aber auch einen enormen Anpassungsdruck und produziert Gewinner und Verlierer. Wir sind mittendrin und wissen doch kaum, was geschieht.

Insgesamt ergibt sich für die Ziele des Humanismus der Eindruck eines rasenden Stillstandes.

These: An der Erfassung der conditio humana fehlt dem Humanismus etwas. Außerdem erscheint notwendig, bestimmte Sachgebiete stärker in den Blick zu nehmen und die Kräfte wirksamer zu bündeln.

Von der Vorstellung, endgültige Erkenntnis und endgültige Positionen zu erlangen, haben sich die meisten gelöst. Oder vielleicht doch nicht so ganz? Hängen wir insgeheim doch noch an der Vorstellung, einen Zustand der allgemeinen und fortwährenden Zufriedenheit zu erreichen? Um eine universale "Win-win"-Situation herstellen zu können? Oder an der Hoffnung "Alle Menschen werden Brüder"?

Es drängt sich die Frage auf, ob wir immer wieder der Versuchung erliegen, die "schwierigen" Erbschaften der Evolution zur Seite zu drängen, sie aber nicht konstruktiv einzubinden wissen. Ist wirklich klar, dass das "schmutzige Geschäft" um Einfluss und Interessen täglich stattfindet und Appelle an andere sowie der Ausdruck des Befremdens über unsere eigene Natur und unsere Gesellschaft nicht ausreichen – ja sogar kontra-produktiv sein können?

Wir tragen keine Verantwortung für unser So-Sein. Unser Urteilsvermögen und Einschätzungsvermögen sind fehlerbehaftet – gleichwohl sind wir zu Reflexion und Reifung fähig wie auch zur Gestaltung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen. Dafür ist tätiges Engagement notwendig.

Das Resonanz-Konzept von Hartmut Rosa kann meiner Meinung nach helfen, eine wichtige Lücke in unserem Selbstverständnis zu schließen: Wie sind wir auf einer grundlegenden Ebene in die Welt gestellt? Wie reagieren wir unterhalb der Ebene von Theorien und intentionalen Akten, die selbst bereits eine Reaktion darstellen?

Wissenschaft und Intellekt wurden weiter oben gewürdigt. Leben wird jedoch zu allererst erfahren, kann nicht vorgesagt und nicht delegiert werden. Die Motivation, aus der wir handeln, entsteht aus der Betroffenheit von Erfahrungen, zu der Stellung bezogen werden muss. Die Kognitionswissenschaft bestätigen: der Mensch ist kein Wesen der reinen Vernunft und des unabhängigen Intellekts. Die Aufmerksamkeit für den unmittelbaren Lebensbezug hilft bei der Findung eines eigenen Lebens-Sinnes, eines eigenen Weges. Ein eigener positiver Selbstbezug schafft die Kraft, Widerständen zu begegnen; sich für nachhaltige Ziele und auch für andere einzusetzen. Gibt es etwas Lohnenderes, Wichtigeres?

Den sachlichen Widerlegungen des christlichen Dogmas muss hier nichts hinzugefügt werden; die skandalöse Kirchengeschichte ist recherchiert. Wer wüsste besser als säkulare Humanisten, dass Religion und Kirche menschengemacht sind? Es ist jedoch wichtig, zwischen Esoterik, Spiritualität und Religion zu unterscheiden. Das Resonanzkonzept ist geeignet, die jenseits alles Rationalen liegenden tieferen menschlichen Motivationen und Bedürfnisse noch deutlicher werden zu lassen, die religiöse Vorstellungen so zäh am Leben erhalten. Darauf muss konstruktiv geantwortet werden.

Ein im Sinne der obigen Ausführungen ernüchterter und gestärkter Humanismus wird, so die Erwartung, eine größere Kraft entfalten.

Für den dringend notwendigen Wandel der Gesellschaft auf den unterschiedlichsten Feldern gibt es viele hilfreiche Ansätze und Initiativen. Die humanistischen Organisationen sollten helfen bei der Vernetzung dieser Initiativen. In jedem Fall ist eine Orientierung nötig, eine Leitidee, die die Verantwortung für zukünftige Generationen einschließt: Humanismus.

Die humanistischen Organisationen sollten Scharnier sein für die Vermittlung der humanistischen Idee auf der Basis heutigen Wissens. Was könnte für eine "Anfachung" des Humanismus getan werden? Hierzu kann es nur erste Stichworte aus der begrenzten persönlichen Perspektive geben:

  • Bündelung finanzieller und organisatorischer Resourcen,
  • Intensivierung und Professionalisierung bei der Vermittlung von gemeinsamen Grundlagen übergeordneter Ziele für ein breiteres Publikum,
  • Vermeidung einer humanistischen "Echo-Kammer",
  • Erweiterung des Themen-Spektrums um die Bereiche Wirtschaft, Politik, Soziologie und Vernetzung mit entsprechenden Kompetenz-Trägern,
  • Stärkere Interaktion und Konfrontation mit Politik und Wirtschaft.

Das alles setzt einen intensiven inner-humanistischen Klärungs- und Abstimmungsprozess voraus.