Kommentar

Und sie bewegt sich doch – die innergrüne Religionsdebatte

Die religionspolitische Sprecherin der grünen Abgeordnetenhausfraktion Bettina Jarasch hat in einen Interview im Berliner Tagesspiegel vom 15.08.2019 eine längst überfällige Debatte losgetreten.

Ich schätze Bettina Jarasch sehr. Ohne ihre Arbeit im Grünen Bundesvorstand hätte es keine "Religionskommission" und im Jahre 2016 keinen Grundsatzbeschluss des Bundesparteitags in Münster gegeben. Die Debatte sollte daher ohne persönliche Anwürfe und unsachliche Zwischenrufe geführt werden. Zur gelebten Demokratie gehört aber auch der leidenschaftliche Streit um die treffende Analyse und den richtigen politischen Weg. Ich kann meine Position in der Grünen Partei bestens vertreten. Das opfersüchtige "Man wird ja wohl noch sagen dürfen" ist von mir nicht zu hören.

Opferislam als Stereotyp

Der Duktus der Ausführungen von Bettina Jarasch lag in der fast stereotypen Relativierung jedweder Problembeschreibung gegenüber bestimmten islamistischen Erscheinungen. Patriarchat? Nein, das haben wir doch auch in Deutschland. Überkommenes Frauenbild? Nein, auch unter deutschen Dächern spielen sich Dramen ab.

Zu diesem Gestus des Wegduckens passt die unverständliche Abgrenzung zu einem klugen Papier der beiden grünen Bundestagsabgeordneten Ekin Deligöz und Dr. Manuela Rottmann. Beide Abgeordnete argumentieren und differenzieren klug und vermeiden Pauschalisierungen sowie jede Stigmatisierung von Bevölkerungsgruppen. Vielmehr beschreiben sie präzise ungelöste Probleme bei der Integration und machen zugleich die vielen Erfolge bei der Integration in Gesellschaft und Arbeitsmarkt deutlich. Das ist der Ansatz, auf dem sich eine Erfolg versprechenden Politik aufbauen lässt.

Statt aber an die intelligente Vorlage ihrer Kolleginnen anzuknüpfen, kam wieder nur die alte Leier vom Opferislam und rechter bio-deutscher Täterschaft. Da fehlt wohl der Mut, ausgetretene Pfade multikulturell motivierter Realitätsverweigerung hinter sich zu lassen und neue Wege zu gehen. Eine Botschaft, dass der Islam immer nur Opfer ist und in all seinen Facetten einen Anspruch auf diskursive Immunität genießt, verfängt auch bei Grünen immer weniger. Interessant auch die Leserbriefseite des Tagesspiegel. Neben dem üblichen anonymisierten Rumkeifen sind eine Reihe gehaltvoller Meinungsäußerungen zu lesen, die sich überwiegend kritisch mit dem Interview auseinandersetzen.

Es lässt sich nicht auf Dauer Unangenehmes verdrängen, nur um auf der – falschen – Schlussfolgerung zu beharren, nichts habe mit dem Islam zu tun. Nötig ist es vielmehr, eine Sprache zu finden, die Probleme beim Namen nennt, ohne Gruppen pauschal zu stigmatisieren und das gesellschaftliche Klima zu belasten. Das liegt auch im Interesse der übergroßen Zahl derer, die, ob Gläubige oder nicht, aus einer muslimisch geprägten Welt geflüchtet sind und hierzulande alles tun, um anzukommen. Wir tun diesen ehrlichen und überaus gutwilligen Menschen keinen Gefallen, die Schwierigkeiten zu verschweigen, die eine (kleine) Minderheit aus ihrem Kulturkreis bzw. ihrer Religion bereitet. Dieses Totschweigen öffnet die Schleusen für nationalistisch-identitäre Propaganda, die dann zu Lasten der übergroßen Mehrheit der Migranten geht. Jede Kommunikationsschulung – in Vereinen oder Betrieben – baut auf (manchmal schmerzhafte) Ehrlichkeit bei der Benennung persönlicher Probleme miteinander auf; für die Gesellschaft insgesamt gilt nichts anderes. Es ist genau dieses zwanghafte Verschweigen, was der AfD nützt!

Bitte zur Kenntnis nehmen: Deutschland hat viele patriarchale Fesseln abgelegt

Kulturelle Relativiererei verfälscht in der Analyse der bundesdeutschen Wirklichkeit aus ideologischen Gründen deren tiefgreifenden Wandel. In den vergangen 40 Jahren haben sich Staat und Gesellschaft grundlegend verändert.

Frauen unterlagen noch bis weit in die 60er Jahre hinein gravierenden rechtlichen Diskriminierungen. Ihr Vermögen wurde vom Ehemann verwaltet und für eine Berufstätigkeit war die Zustimmung des Gatten erforderlich, der auch das letzte Wort bei der Kindererziehung hatte. Vergewaltigung in der Ehe war kein Verbrechen, sondern die "etwas energische" Durchsetzung des ehelichen Anspruchs auf jederzeitige sexuelle Verfügbarkeit der Frau durch den Mann. Voreheliches Zusammenleben war strafbar und schwule Sexualität wurde bestraft und gesellschaftlich geächtet. Heute leben selbst im bayerischen Dorf Unverheiratete zusammen; die Diskriminierung von Schwulen und Lesben ist von staatlicher Seite her beendet. Zehntausende Paare heiraten und haben einen gesetzlichen Anspruch auf Schutz vor Diskriminierung. Offen schwule Männer können sogar in der Union Minister werden.

Können wir angesichts dieser hart erkämpften Fortschritte einen ergebnisoffenen Diskurs darüber führen, ob Werte wie Gleichstellung der Frauen und Gewaltfreiheit in der Erziehung Geltung beanspruchen dürfen oder nicht? Nein, wer in Deutschland lebt, ist an die Ordnung des Grundgesetzes gebunden. Da ist für identitäres Gehabe, egal ob von den Höckes oder den Salafisten in diesem Lande, schlicht kein Platz! Feinde der Demokratie und der Menschenrechte sind eine Minderheit unter den Zuwanderern; aber als Einzelfälle lassen sie sich eben auch nicht abtun. Es sind nun einmal rund 1.000 islamische junge Leute zum IS nach Syrien gezogen, um dort Andersgläubige umzubringen. Das lässt sich nicht einfach beiseite wischen.

Identitäre aller Länder: Jagt sie zum Teufel

Wir erleben gegenwärtig eine Art identitäre Kumpanei rechter Gruppen – von AfD über Ditib und anderen. Politisch unversöhnlich streiten zwei Blöcke miteinander. Da sind aufgeklärte Liberale und Demokraten, teils mit muslimischem, christlichem oder atheistischem Hintergrund auf der einen Seite. Ihnen gegenüber stehen identitäre Reaktionäre aller möglichen religiösen Richtungen, politisch motivierte Reaktionäre und andere Feinde einer liberalen Gesellschaft.

Jede unkritische Verharmlosung – gerade auch orthodox-reaktionärer Umtriebe – führt fast zwangsläufig zu dem Fehlschluss, wir hätten es – ausschließlich – mit einem von der nationalen Rechten geschürten Konflikt zwischen dem Islam und der Mehrheitsgesellschaft zu tun. Die desintegrative Rolle – gerade – der muslimischen Verbände wird dabei konsequent ausgeblendet und verniedlicht. Es geht nicht nur um den Erdoğan-Fanclub von Ditib.

Auch der hierzulande als Ansprechpartner der Politik beliebte sogenannte "Zentralrat" der Muslime in Deutschland sollte sich nicht länger der Mimikry als integrativer Verein bedienen dürfen. Der Vorsitzende Aiman Mazyek verbirgt geschickt die Mitgliedschaft der Verbände in seinem Laden. Die Webseite nennt keine Namen von Mitgliedsvereinen. Unter dem Vorwand der Sicherheit verschleiert der Zentralrat auf diese Weise recht geschickt, dass er die Muslimbrüder in seinen Reihen hat. Das wissen wir von den Verfassungsschutzämtern.

Die Konsequenz aus der Auseinandersetzung mit identitären Strömungen kann es nicht sein, reaktionäre Gruppen nicht mehr beim Namen zu nennen und ihnen – wie beim Islam-Institut der HU – sogar noch den roten Teppich auszurollen. Hier ist auch grüne Selbstkritik angesagt. Wenn die Berliner Spitzen von Partei und Fraktion in den rot-rot-grünen Koalitionsverhandlungen in Berlin einer Abgeordneten wie Frau Kahlefeld die Verhandlungsführung für den Bereich Religionen überlassen, kommt weder bei den Staatsleistungen noch an anderer Stelle irgendwas zustande. Auch das Islam-Institut der HU mit ihrer starken Stellung der orthodoxen Islamverbände verdanken wir solchen Leuten, die weder Ahnung noch Problembewusstsein haben, die unhaltbaren Regeln des Weimarer Staatskirchenrechts auf "verkirchlichte" Islamverbände zu übertragen.

Rechter Rassismus: eine reale Bedrohung

Kein Zweifel: Es gibt in Deutschland einen gefährlichen rechten Rassismus, der sich gegen die Menschen richtet, die aus einem vom Islam geprägten Kulturkreis kommen. Dieser Rassismus trifft Gläubige wie auch "Kulturislame" und Atheist*innen gleichermaßen. Er macht sich fest an der Religion, meint aber undifferenziert die Menschen selbst. Es ist die gemeinsame Aufgabe aller Demokraten, zu verhindern, dass sich diese Form von Ausgrenzung und Anfeindung hinter legitimer Kritik an Religion, insbesondere ihren totalitären Varianten, verstecken kann. Die BAG Säkulare und LAG Säkulare Berlin achten streng darauf, dieser üblen Gesinnung kein Futter zu bieten. Es ist zu hoffen, dass die Säkularen im Land in der Tradition der Aufklärung ihrer Verantwortung gerecht werden und sich nicht durch überbordende Religionskritik blenden lassen.

Kleiner biographischer Einschub

Als ich in der 70er Jahren anfing, mich (bürgerrechtlich) zu engagieren, versuchten die RAF-Anhänger, den Bürgerrechtsvereinen Solidarität abzupressen. So kam es übrigens zur Gründung des Komitees für Grundrechte und Demokratie. Immer nach dem Motto: Diese nützlichen bürgerlichen Idioten stellen wir zuerst vor vollendete Tatsachen und jammern dann so lange über Unrecht und erlittene "Verfolgung", bis die sich für uns stark machen. Ich habe damals tiefe Abneigung gegen eine derart abgenötigte "Solidarität" entwickelt. Das hat sich in der Debatte über Sexualität mit Kindern weiter verstärkt, als bis vor einigen Jahren von interessierten Gruppen immer wieder "Solidarität" mit den armen verfolgten Pädophilen erpresst wurde. Schließlich war doch der sexuelle Kontakt mit Kindern stets völlig "einvernehmlich".

Dasselbe Geheule ertönt heute von islamistische Kräften. Auch hier werden linksliberale Gruppen und Parteien gezielt zur Vernebelung antidemokratischer und menschenrechtswidriger Machenschaften instrumentalisiert. Identitärer Islamismus bedient sich geschickt der Opfernummer und weckt immer wieder mit Erfolg linke Beschützerinstinkte gegenüber diskriminierten Minderheiten, die es durch gesellschaftliches Feindesland zu lotsen gilt. Diese Leute reden gerne von Vielfalt, meinen aber die Herrschaft über ihre Mitglieder und nicht zuletzt die Macht über Staat und Gesellschaft. Der in der Sache richtige Begriff von "Vielfalt" verkommt schnell zur Blaupause für Extremisten, wenn Liberale und Demokraten nicht genau aufpassen!

Ironischerweise versuchen auch Rechte, sich der Opfernummer zu bedienen und sich als arme Verfolgte zu präsentieren. Während die linksliberale Öffentlichkeit hier die nötige Härte und Klarheit zeigt, lässt sie sich von identitären Islamisten immer wieder einlullen.

Seyran Ateş: Kronzeugin gegen Islamisten und deren Gefolge

Besonders irritiert haben mich die Angriffe auf Seyran Ateş. Ausgerechnet ihr wegen eines – in der Tat unglücklichen – Auftritts bei der FPÖ die Diskursfähigkeit abzusprechen, ist abenteuerlich. Wo waren die politischen Würdenträger des famosen Berliner Senats und seiner Koalitionsfraktionen, als nach Eröffnung der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee massenhaft Morddrohungen bei Seyran Ateş eingingen? Die haben selbstverständlich nichts mit dem Islam zu tun, also waren sie nicht vorhanden und so ergibt sich keine Notwendigkeit, sie zur Kenntnis zu nehmen. Nach diesem Muster findet selektive Wahrnehmung statt.

Der Skandal ist doch nicht die von ihrem Inhalt her überhaupt nicht zu beanstandende Rede in Wien, sondern die Tatsache, dass sie sich Frau Ateş nicht mehr ohne Polizeischutz bewegen kann.

All diese Drohungen aus einem identitären Islamismus heraus stießen und stoßen auf eine Kultur der Feigheit und des Kulturrelativismus, der die Widerstandskraft gegen totalitäres Denken nachhaltig schwächt. Dabei darf es nicht bleiben!