Warum Feministinnen ein aufgeklärtes Toleranzverständnis zu verteidigen haben

Aufklärung, Humanismus und Feminismus verbindet ein bestimmtes Toleranzverständnis. Doch in links-grünen Kreisen wird mit dem uneingeschränkten Tolerieren aller Kulturen und Religionen das Toleranzverständnis der Aufklärung ad absurdum geführt.

Was verbindet Aufklärung, Humanismus und Feminismus? Es ist ein bestimmtes Toleranzverständnis. In diesem Sinne haben Ekin Deligöz und Manuela Rottmann als entschiedene Befürworterinnen der Einwanderungsgesellschaft auch die Frage erörtert, "was für ein Frauenbild manche Gruppen haben, die zu uns kommen". Mit einer solchen ehrlichen Debatte haben sie jedoch einen absoluten Minderheitenstatus im links-grünen Mainstream. Dort wird mit einem alle Kulturen und Religionen uneingeschränkten Tolerieren das Toleranzverständnis der Aufklärung ad absurdum geführt – unterstützt von einem anti-aufklärerischen Neofeminismus.

So wie ich hier anschließend die grüne religions- und flüchtlingspolitische Sprecherin Bettina Jarasch von Bündnis 90/Die Grünen massiv kritisiere, habe ich es im hpd zusammen mit der Mitstreiterin Naila Chikhi bereits vor Monaten getan gegenüber den frauenpolitischen Sprecherinnen von Bündnis 90/Die Grünen, Gesine Agena und Ulle Schauws.

Die aus Algerien stammende Naila und ich, eine in eine rheinländische Freidenkerfamilien Hineingeborene, haben damals unsere gemeinsame humanistische Position wie folgt dargelegt:

"Wir vertreten einen universalen Feminismus, der auf den Idealen der Aufklärung beruht, die immer auch religionskritisch war. Wir wenden uns gegen den 'Neofeminismus', wie er etwa aktuell von frauenpolitischen Sprecherinnen der Grünen vertreten wird. Denn diese haben humanistische Werte ebenso verraten wie die internationale Solidarität, indem sie den frauenverachtenden 'politischen Islam' verharmlosen."

Damals wandten wir uns gegen Agena und Schauws, die – wie jetzt Jarasch – in ihrer Partei den Mainstream gemäß ihrem neofeministischen Verständnis vertreten, wonach "ein moderner, zeitgenössischer Feminismus" unbedingt eine mögliche "härtere Gangart gegen den Islam" zurückzuweisen hätte. Dabei werden von diesem dominanten Parteiflügel klug differenzierende Minderheiten-Positionen missachtet und auch diffamiert wie die von Ekin Deligöz und Manuela Rottmann (beide MdB/Grüne) erarbeitete.
 

Frauenpolitische Stimmen der Vernunft in absoluter Minderheit

Schlechterdings mangels Argumenten gegen das Diskussionspapier von Deligöz und Rottmann "Zuwanderungsgesellschaft stärken – Frauenfeindlichkeit bekämpfen" werden die beiden Autorinnen in die rechte Ecke eines vermeintlichen Rassismus weggedrängt wie in einem Tagesspiegel-Interview vom 15. August von der Berliner Abgeordneten Bettina Jarasch, ehemals grüne Parteichefin der Hauptstadt. Ohne ein einziges Wort des Eingehens auf die in dem Papier vorgetragenen Vernunftargumente gibt Jarasch bequemer- und arroganterweise ausschließlich ihrer Verärgerung darüber Ausdruck.

Deligöz und Rottmann vermeiden jegliche Pauschalisierung oder Stigmatisierung von Bevölkerungsgruppen in ihrem – öffentlich unbeachtet gebliebenen und parteiintern marginalisierten – Papier. Dessen Ablehnung von Jarasch ist umso unverständlicher, als die beiden Autorinnen die Situation junger männlicher Migranten aus humanistischer Sicht zutiefst verständnisvoll und einfühlsam beschreiben:

"Hier angekommene Geflüchtete sind durchschnittlich sehr jung, oft ohne Begleitung durch ihre Familien und stehen vor einer ungewissen Zukunft. Viele, vielleicht die Meisten, haben vor oder auf der Flucht selbst drastische Gewalterfahrungen gemacht. In Deutschland leben sie vielfach in Sammelunterkünften ohne Privatsphäre, ohne sinnvolle Beschäftigung und mit unklarer Perspektive. Dieser Verlust von Selbständigkeit bis in das Alltagsgeschehen hinein und die gesellschaftliche Isolation können Gewalt fördern. Das mag einiges erklären, mitnichten aber entschuldigen. Noch weniger als Entschuldigung dienen kulturelle Einstellungen, die Gewaltausübung begünstigen oder gar legitimieren. Viele Geflüchtete kommen aus muslimisch geprägten Gesellschaften, die stark patriarchalisch geformt sind und keine Aufklärung, Säkularisierung, Frauenbewegung und sexuelle Revolution erlebt haben."

Es ist schwer nachvollziehbar, was an dieser Beschreibung falsch oder stigmatisierend sein soll. Zumal sich Deligöz und Rottmann im Folgenden  erfolgsversprechenden Lösungsansätzen der Integration zuwenden wie Modellprojekten, Beratungsangeboten, arbeitspolitischen Maßnahmen usw.

Sie betonen, dass es einen frauenfeindlichen "kulturellen Freischein" natürlich "für Männer jeglicher Herkunft" nicht geben darf. Damit grenzen sich die beiden Autorinnen gegen eine Vereinnahmung von rechten Gruppierungen ab, insofern "in der Diskussion um Geflüchtete plötzlich Akteure ihr Interessen für die Belange von Frauen entdecken, die den Einsatz für Frauenrechte ansonsten als 'Genderwahn' lächerlich machen. Lösungsvorschläge jenseits von 'Grenzen dicht' und 'Ausländer raus' hört man von ihnen ansonsten nicht."
 

Verpönte Frage nach "eingewandertem Frauenbild"

So weit so gut vielleicht auch noch im links-grünen Alternativmilieu. Der Stein des Anstoßes gegen Deligöz und Rottmann liegt jedoch in ihren weiteren Überlegungen, da sie nicht einem in diesem Milieu herrschenden gegen-aufklärerischen Toleranzabsolutismus das Wort reden:

"Wenn bestimmte Gruppen ihre Geringschätzung oder völlige Missachtung von Frauenrechten aus kulturell-religiösen Argumenten und Werten speisen, dann ist das nicht tolerierbar. Wer dauerhaft in Deutschland leben will, muss sich von herabwürdigenden Frauenbildern lösen, welche Frauen als den Männern untergeordnet definieren."

Zu einer ehrlichen Debatte gehöre, dass gerade auch die VerteidigerInnen von Flüchtlingen in der Einwanderungsgesellschaft fragen, "was für ein Frauenbild manche Gruppen haben, die zu uns kommen. Eines nämlich, das die Nichtachtung von Frauen bis hin zur Ausübung von Gewalt zu legitimieren scheint. Dass Gewalt gegen Frauen durch deutsche Täter seit jeher ein gravierendes Problem ist, darf nicht dazu führen, dass wir die Frage nach dem 'eingewanderten Frauenbild' gar nicht erst stellen."

Eben das ist aber die relativierende Grundhaltung von Bettina Jarasch: Danach spiegelt schon die bloße Wortwahl "manche Gruppen" quasi eine rechtsradikale Gesinnung wider und erst recht die Frage, ob es im Kontext von Geflüchteten ein "bestimmtes Frauenbild" geben könnte. Patriarchat – das haben wir doch auch in Deutschland, so Jaraschs Credo. Unter der Überschrift "Wir verurteilen nicht pauschal eine Gruppe" brüstet sie sich mit ihrem unerschütterlichen Toleranzbegriff im Tagesspiegel-Interview. Dies wird in leichter Abwandlung betitelt mit "Grüne lehnen pauschale Verurteilung von Muslimen ab" und als Beitrag gleichlautend übernommen vom Forum islamiq.de sowie von domradio.de, wobei dort noch ausdrücklich auf die Mitgliedschaft von Jarasch im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, einer kirchlichen Laienorganisation, hingewiesen wird. Und im Schlusssatz beider Publikationen wird wohlwollend konstatiert, Jarasch habe sich gegen die Grünen-Bundestagsabgeordneten Ekin Deligöz und Manuela Rottmann abgesetzt durch den von ihr im Tagesspiegel erhobenen Vorwurf, diese hätten sich von einem um sich greifenden (rechten!) "gesellschaftlichen Diskurs treiben lassen". Das heißt wohl im Umkehrschluss: Die beiden Autorinnen, die in ihrem Diskussionspapier nichts anderes angemahnt hatten als eine ehrliche Debatte auch über Migranten mit einem "reaktionären Frauenbild", würden Muslime pauschal verurteilen. Jarasch muss eben in Diffamierung ihr Heil suchen, wenn sie aus Verblendung und Realitätsverweigerung unfähig ist, auf Argumente und auch auf konkrete Fragen einzugehen. Dies offenbart dann auch für die Leserschaft allzu offensichtlich das Tagesspiegel-Interview.
 

Stereotype Relativierungen und ausweichender "PolitikerInnen-Sprech"

Es geht im Interview unter anderem darum, dass in Köln (laut Interviewer) "in der Nacht zum 1. Januar 2016 offiziell 1276 mutmaßliche Opfer, die allermeisten Frauen, vor allem von Nordafrikanern und arabischen Flüchtlingen massiv sexuell attackiert wurden". Antwort Jarasch: "Wir unterscheiden […] nicht nach Herkunft der Täter. Deshalb finde ich es konsequent, dass wir nach der Silvesternacht von Köln erneut gesagt haben, dass wir eine Verschärfung des Sexualstrafrechts brauchen. Damit Nein wirklich Nein bedeutet […]." Typischer PolitikerInnen-Sprech: Was unsere Partei doch schon alles auf den Weg gebracht hat! Auch allen anderen Fragen weicht Jarasch mit stereotypen Floskeln aus, was die Leserschaft in über 200 Kommentaren fast ausschließlich sehr kritisch sieht.

Ihr Relativieren von patriarchalischen Gewalttaten gegen Frauen zum Beispiel aus muslimischen Communitys gipfelt in der Ansicht, solche würden doch genauso von deutschen Männern verübt, es bestehe also eigentlich kein oder kaum ein Unterschied. Ihr linkes Mainstream-Credo wird überstrapaziert dahingehend, dass deshalb frauenverachtende Grundeinstellungen von zugewanderten, im Fokus dabei muslimische Männer, gar nicht kritisierbar sind. Denn das Patriarchat sei trotz jahrzehntelanger Sozialisation und Gerichtsbarkeit hierzulande auch bei deutschen Männern ja nicht überwunden. Diese wolle sie, Jarasch, deshalb bei dieser Debatte "nicht aus der Verantwortung lassen. Häusliche Gewalt gibt es in allen Milieus unserer Gesellschaft".

Das hat bei den über 200 Kommentaren im Tagesspiegel online zu vielen beachtlich gehaltvollen Reaktionen geführt.

Beispiel Kommentar I: "Häusliche Gewalt gibt es in allen Milieus unserer Gesellschaft – hat auch gar keiner behauptet im Interview, dass hier nichts mehr zu erledigen sei. Ja die Frage war aber nicht nach häuslicher Gewalt, die ohne Zweifel ein Problem darstellt – das ist ein reines Ablenkungsmanöver. Das scheint mittlerweile bei einigen Grünen das offizielle Wording zu sein, wenn es um dieses Thema geht."

Beispiel Kommentar II: "Es ist schwer zu ertragen, wenn die Unterdrückung der Frau im Islam bis hin zum Extrem der Taliban mit den Angriffen auf Frauen in der Bundesrepublik auf eine Ebene gestellt wird. In den islamischen Staaten ist die Zweitrangigkeit der Frau Staatsräson, die sich auf von Männern in archaischen Zeiten verfassten Schriften stützt, in der Bundesrepublik ist die Frau gleichgestellt, und für jene Männchen, die das nicht wahr haben wollen gibt es StGB, Polizei und Justiz. Billig ist's von Islamophobie und Ideologie zu schwatzen, was es freilich gibt, aber der Hinweis darauf taugt nicht, um von den Fakten abzulenken."

Beispiel Kommentar III: "Vielleicht kann sich die Gesellschaft darauf einigen, dass es absolut legitim ist, die bekannten starken Probleme vieler muslimischer Einwanderer mit unserem liberalen Gesellschaftsansatz zu thematisieren […] Vielmehr wird immer so getan, als müsste es bei uns paradiesische Zustände geben als Voraussetzung dafür […]. [E]s reicht, in einigen Bereichen in einigen Punkten weiter zu sein [als das rückständige Frauen- und Gesellschaftsbilder etwa im Bayern des Jahres 1980]."

Dass Jarasch unbeirrbar weiter auf den ausgetretenen Pfaden "multikulturell motivierter Realitätsverweigerung" wandelt, hat aus Sicht der Grünen Partei hier bereits Jürgen Roth bedauert. Doch es bedarf auch des entschiedenen Widerspruchs eines aufgeklärt-humanistischen Feminismus.  
 

Humanistische Feministinnen für Toleranzverständnis der Aufklärung

Das fundamentale Prinzip der Aufklärung besagt, dass nichts und niemand über Kritik erhaben sein kann – wozu auch gehört, eine verletzende und lächerlich machende Satire gegenüber Kirche, "religiösen Gefühlen" oder Staatsgewalt zivilisatorisch ertragen lernen zu müssen. Das von Jarasch und anderen – vor allem auch neofeministisch – vertretene Tolerieren gegenüber allem, was einer bestimmten religiösen oder ethnischen Gruppierung zuzuschreiben ist, stellt eine groteske Verzerrung dieses Prinzips dar. Wenn die im sogenannten Westen charakteristisch entwickelte Lebensform und Werteorientierung an Idealen der Aufklärung nicht mehr verteidigt wird, ist der Weg frei für rückwärtsgewandte politische Ideologien aller Couleur.

Nicht wenige unserer muslimischen Mitbürgerinnen leben in frauendiskriminierenden Parallelgesellschaften, die ihre universellen Rechte massiv einschränken. Die europäische Aufklärung war schon immer damit verbunden, nicht nur die Autonomie der Individuen vor herrschenden religiösen und staatlichen Übergriffen zu schützen, sondern auch Denkverbote aufzubrechen und Tendenzen, die Errungenschaften der Emanzipation bedrohen, sorgfältig empirisch zu analysieren. Bei Letzterem versagt der alles relativierende Neofeminismus des links-grünen Spektrums völlig.

Der Bezug auf die europäische Aufklärung bedeutet keineswegs, dass sich nicht auch in anderen Kulturen zu anderen Zeiten mehr oder weniger vergleichbare Entwicklungen abgezeichnet hätten. Zu erinnern wäre zum Beispiel an die Adaption der klassischen griechischen Philosophie und Dialogkultur durch den Islam zwischen dem 9. Und 12. Jahrhundert. Doch ist der Erfolg der europäischen Aufklärung wohl nicht zu verstehen ohne den rapiden Fortschritt des wissenschaftlichen Denkens, Überprüfens und Argumentierens, dem auch der nicht-religiöse Humanismus verpflichtet ist. In diesem Sinne muss die Aufklärung als ein immer unvollendet bleibendes Projekt begriffen werden. Wer sie als (politische) Heilslehre missversteht, die absehbar zur besten aller Welten führt, unterliegt einer Fehlinterpretation, die den Keim der Enthumanisierung in sich trägt und das Misstrauen vor klassischen Emanzipationsideen schürt.

Das heißt umgekehrt, wie es ein Tagesspiegelleser so treffend kommentiert hat: Auch wenn wir hinsichtlich der Abschaffung des Patriarchats in Deutschland das Paradies auf Erden noch nicht erreicht haben: Zur Kritik an dahinter noch viel weiter zurückgebliebenen Frauenbildern sind wir nicht nur berechtigt, sondern vielmehr verpflichtet. Doch das ist für viele, wenn nicht gar die meisten Feministinnen sowie für das linke Spektrum insgesamt heute alles andere als selbstverständlich.