Rechtsgutachten zum Kinderkopftuch

Die Erziehung zur Freiheit ist wichtiger als das Kopftuch

Vergangene Woche wurde von der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes ein Rechtsgutachten zum Kinderkopftuch vorgestellt. Das Ergebnis: Ein Verbot des Kinderkopftuchs ist verfassungskonform. Mit seinem Gutachten hat der Staatsrechtslehrer Prof. Dr. Martin Nettesheim einen wirkungsvollen Aufschlag in einer längst überfälligen Debatte gemacht, findet Jurist und hpd-Autor Walter Otte.

Die politische Auseinandersetzung um das religiöse Kopftuch für Mädchen wird mit harten Bandagen geführt. Die von der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes in der Kampagne "Den Kopf frei haben" genannten umfangreichen Argumente werden von der Kopftuchlobby erwartungsgemäß ignoriert; stattdessen kommen aus islamistischer Ecke (und deren Unterstützerklientel in linksliberalen Kreisen) die bekannten Totschlagvorwürfe von Diskriminierung oder gar von "antimuslimischem Rassismus", "Islamophobie" oder ähnlich schrillem Wortgeklingel. Es gibt von dort keinerlei Bereitschaft an einer sachbezogenen Auseinandersetzung, man fühlt sich offenbar zudem durch mancherlei – im Plakativen bleibende – juristische Hinweise bestärkt, wonach jede Beschränkung beim Tragen  eines islamischen Kopftuchs durch Minderjährige ohnehin verfassungswidrig sein soll.

Nun hat Terre des Femmes mit einem Ende August veröffentlichten Gutachten des Tübinger Staatsrechtslehrers Prof. Dr. Martin Nettesheim einen gewichtigen Aufschlag zur Klärung  dieser verfassungsrechtlichen Frage gemacht. Nettesheim sieht Beschränkungen beim Tragen von Kopftüchern in öffentlichen Schulen durch Mädchen unter 14 Jahren als verfassungskonform an. Selbstverständlich muss auch das Tragen von religiös oder weltanschaulich konnotierter Kleidung anderer Richtungen untersagt sein; dies folgt aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes (GG).

Der Gutachter diskutiert ausführlich unter Beachtung etlicher Grundrechte die ihm aufgegebene Fragestellung. Insbesondere waren die Bedeutung des elterlichen Erziehungsrechts aus Art. 6 GG, aber auch das Recht des Kindes auf Religionsfreiheit aus Art. 4  Abs. 1 GG und die Reichweite beider Normen zu klären.

Nettesheim sieht hier für den Bereich öffentlicher Schulen ein Spannungsverhältnis zwischen dem elterlichen Erziehungsrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG und Art. 7 Abs. 1 GG, der den staatlichen Bildungsauftrag regelt. Gemäß Art. 7 Abs. 1 GG steht das gesamte Schulwesen unter der Aufsicht des Staates und begründet den staatlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag. Nettesheim führt aus, dass die Verfassungsordnung des Grundgesetzes insgesamt auf eine Formung des Gemeinwesens dahingehend ausgerichtet sei, dass es den dem GG unterworfenen Menschen ermöglichen solle, ein "freies Leben in selbstbestimmter Autonomie" zu führen. Für die unter staatlicher Verantwortung stehende öffentliche Schule ergibt sich bereits vom GG her eine "zentrale Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung", die auf die Erziehung zu Freiheit und Selbstbestimmung ausgerichtet ist. Diese Erziehung zur Freiheit beschreibt er dahingehend, dass "Gewissheiten in Frage gestellt", Freiräume für die  Schüler*innen geschaffen und offengehalten werden müssen, aber auch Lebensmuster, die mit einem unverhandelbaren Grundwert wie etwa der Gleichberechtigung von Mann und Frau unvereinbar sind, kritisiert werden können.

Gegenüber diesem staatlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag hat das Recht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder in bestimmten Fällen für den Bereich der öffentlichen Schulen zurückzustehen. Dies ist in der juristischen Auseinandersetzung um die Schulpflicht, die eventuelle Befreiung vom Unterricht aus religiösen Gründen in mehreren Entscheidungen vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden. Das höchste deutsche Gericht hat klargestellt, dass der Staat im schulischen Bereich eigene, das heißt von denen der Eltern abweichende Erziehungs- und Bildungsziele verfolgen darf und dass die Eltern dies hinzunehmen haben.

Der Gutachter setzt sich auch damit auseinander, ob der Staat im Schulunterricht berechtigt ist, der religiösen Erziehung der Eltern unter bestimmten Voraussetzungen entgegenzuwirken oder dieser Erziehung sogar ausdrücklich entgegenzuwirken. Ein klares Nein ist seine Antwort.

Die Erziehung ihrer Kinder zu einem tiefen Glauben bzw. großer Frömmigkeit ist Eltern nicht verwehrt. Allerdings – so Nettesheim – verlange der schulische Bildungsauftrag, für die Schüler*innen "Entwicklungswege offenzuhalten, eine Reflektion über den eigenen Lebensweg zu ermöglichen und deshalb einer vorschnellen Festlegung auf bestimmte Lebensformen und Rollenmodelle entgegenzuwirken,", da es darum geht, die Befähigung für ein Leben in Selbstbestimmung und Gleichberechtigung zu schaffen. Er hebt hier den Wandel der Einstellungen über Erziehungs- und Bildungsziele der letzten Jahre und Jahrzehnte hervor (etwa "Befreiung aus traditionellen Rollenvorstellungen", "Befähigung zur kritischen  Auseinandersetzung mit vorgegebenen, sittlich geprägten Lebensformen"), der seinen Niederschlag in den schulischen Inhalten gefunden habe. Im Gutachten heißt es: "Die Schule kann ihren Auftrag zur gesellschaftlichen Integration nur erfüllen, wenn das Erziehungs- und Bildungsgeschehen die Pluralität religiöser und sonstiger Lebensformen reflektiert; sie muss sich zugleich darum kümmern, Entwicklungen zurückzudrängen, die zu einer gesellschaftlichen Segmentierung beitragen. Erziehung zur Freiheit bedeutet immer, dass Kinder nicht in eine partikulare Lebensform gezwungen werden, sondern ihnen eine Richtigkeitsüberzeugung vermittelt wird, die sie als in freier Entscheidung getroffen ansehen können."

Als problematisch sieht der Gutachter in diesem Zusammenhang das Tragen einer religiös konnotierten Bekleidung an, das ständig eine bestimmte Gruppenzugehörigkeit zum Ausdruck bringt. Ein ständig sichtbarer Ausweis der Religionszugehörigkeit führt zur Segregation und Trennung und könne gerade bei jungen Menschen Vorstellungen von Unterschiedlichkeit aufkommen lassen, auch zur sozialen Ausgrenzung und zur Diskriminierung führen. Durch das Kopftuch oder andere religiös konnotierte Kleidung werden – so Nettesheim – partikulare Lebensformen im Schulalltag präsent gemacht, die dem Ziel einer Erziehung zur Freiheit zuwiderlaufen. Der Staat verletze seine Neutralitätspflicht nicht, heißt es im  Gutachten, wenn er eine öffentliche Manifestation des Glaubens dann ausschließe, wenn sie eine Erziehung beeinträchtigen. Es geht dabei nicht um die Bewertung einer Religion und eine Beurteilung religiöser Werte, sondern um die Sicherung von Räumen, in denen der Staat seine Erziehungs- und Bildungsziele realisieren kann.

Zu der aus Art. 4 Abs. 1 GG resultierenden Religionsfreiheit des Kindes, die ohnehin beschränkt ist durch das Recht der Eltern auf religiöse Erziehung ihrer Kinder, verweist  Nettesheim darauf, dass "die Handlungen eines Kindes, die zwar der äußeren Form nach eine religiöse Konnotation haben, nicht aber Ausdruck einer autonomen und selbstbestimmten Lebensführung in Glaubensfragen sind" nicht durch Art. 4 GG geschützt seien: "Kindliche Schwärmereien, die unreflektierte Religiosität im Kindesalter, die kindliche Anlehnung an elterliche Vorgaben und Wünsche sind kein Freiheitsgebrauch in dem Sinne, wie dies Art. 4 Abs. 1 GG in Verbindung Abs. 2 voraussetzt." 

Traditionell (und auch im Gesetz über die religiöse Kindererziehung) wird der kindliche Entwicklungsprozess in Hinsicht auf Religionsfreiheit mit einem "Unterscheidungsalter" berücksichtigt, das in Deutschland bei 14 Jahren liegt. Es sei niemals behauptet worden, dass Kindern vor Erreichen dieses Alters eine Reife und Mündigkeit zuzuerkennen sei, "religiöse Freiheit eigenverantwortlich auszuüben". Aus dieser Auffassung folgt, dass eigenständige Grundrechte der Schüler*innen bei einem Verbot des Tragens von religiös konnotierter Kleidung in öffentlichen Schulen jedenfalls bis zum 14. Lebensjahr nicht entgegenstehen und deshalb in einer Abwägung der Rechtsgüter auch nicht zu berücksichtigen sind.

Nettesheim erörtert eine Reihe weiterer rechtlicher Gesichtspunkte, etwa ob die Eltern als Vertreter*innen ihrer minderjährigen Kinder handeln könnten, verweist hierzu darauf, dass im Gegensatz etwa zum Grundrecht des Kindes aus Art. 2 GG (Schutz von Leib und Leben), bei Freiheitsrechten eine solche Vertretung weder sinnvoll noch notwendig sei: "Wer nicht selbstbestimmt handeln kann, wird nicht dadurch zum selbstbestimmten Objekt, dass andere Personen ihren Willen formulieren; es herrscht dann vielmehr Fremdbestimmung."

Erörterungen zu weiteren Grundrechten, zur Verhältnismäßigkeit einer Verbotsregelung runden das Gutachten ab. Auf die Ausführungen von Nettesheim zu einem "gemeinschaftsbewussten Liberalismus", dem er einen "libertären Liberalismus" entgegenstellt, wird an anderer Stelle einzugehen sein.

Nettesheim betont in starker Weise die gerade in einer multiweltanschaulichen, multikulturellen und multiethnischen Gesellschaft für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wichtige Orientierung der Kinder auf Freiheit (wie oben beschrieben). Es ist kaum vorstellbar, dass es hierzu tragfähige Gegenargumente gibt.

Mit diesem Gutachten hat der Staatsrechtslehrer Nettesheim einen wirkungsvollen Aufschlag in der längst überfälligen Debatte über die Reichweite des elterlichen Erziehungsrechts in religiösen und weltanschaulichen Angelegenheiten gemacht. Es zeigt sich, dass hierfür die staatliche Bildung und Erziehung, auch im Konflikt mit Eltern, von wesentlicher Bedeutung sind, damit die Entwicklungsmöglichkeiten eines Kindes in einer freiheitlichen Gesellschaft  weder von ihrer Herkunft noch vom sozialen Status der Eltern dominiert  werden.