Die Koinzidenz des Saša Stanišić – wider den Nationalismus

Herkunft - Die Geschichte hinter der Geschichte

Früher, im Lateinunterricht, hatten wir es manchmal mit Begriffen zu tun, die uns später immer wieder einfielen. "Koinzidenz" gehörte dazu, ein Begriff, der verschiedene Bereiche miteinander verband, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben: cum tacent, clamant – (auch) wenn sie schweigen, schreien sie!

Saša Stanišić hat nun nicht geschwiegen, sondern eine Biografie geschrieben, die die Seine ist: mit feinem leisen Humor, dessen Wucht sich aber entfaltet während des Lesens.

Und auch wenn etwas privat erscheint, hat es seine Wirkung:

"Herkunft" ist ein Abschied von meiner dementen Großmutter. Während ich Erinnerungen sammle, verliert sie ihre.

Jugoslawien gibt es nicht mehr, aber es ist eine Geschichte aus der Zeit, als das zusammengeflickte Land noch durch Titos brutale Hand zusammengehalten wurde. Das ist nicht so lange her, und auch das, was nach dem Auseinanderbrechen passierte, ist nicht lange her. Und es passierte nebenan..

Das Buch wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2019 ausgezeichnet.

Es ist zunächst einmal ein betörendes Buch, weil Stanišić da mit einer Leichtigkeit etwas zeichnet, was den Zusatz leicht eigentlich nicht verdient, es ist ein bestürzendes Buch, weil es historische Vorgänge anhand der eigenen Familie aufzeigt, es ist ein bedrückendes Buch, weil es die brutale Geschichte eines irregeleitenden Nationalismus widerspiegelt. Der war schon immer perfide, weil er mit Rachegedanken gepaart ist, mit dem Überheblichkeitsdenken anderen gegenüber – man muss heute mit Schaudern daran denken, wie leicht sich solche Denkweisen in die Köpfe implantieren lassen. Man muss nicht unbedingt an die Großmannssucht von Despoten wie Putin, Erdogan oder Xi denken, auch im undemokratisch denkenden Teil der Amerikaner, Süd- wie Nord, ist Geringschätzung an der Tagesordnung.

Der Kitt der multiethnischen Idee hielt dem Potenzial der Nationalismen nicht länger stand. Tito als die wichtigste Erzählstimme des jugoslawischen Einheitsplots war nicht zu ersetzen. Die neuen Stimmen volkstümelten verlogen und verroht. Ihre Manifeste lesen sich wie Anleitungen zum Völkerhass. Sie wurden von Intellektuellen unterstützt, medial verbreitet und so oft wiederholt, bis man ihnen, Mitte der Achtziger, nirgends mehr entkam.

Im Fall des auseinanderstrebenden Nationalismus der Balkanvölker ist heute noch solches Denken vorhanden – das Schlachten anderer Nationalitäten ist einem noch vielfach in Erinnerung, desto mehr noch ist das Auszeichnen derer, die Schlächter ehren, nicht nur eine Zumutung, sie ist auch falsch, finde ich, wenn man sich gerade vor Augen führt, dass da ein Schriftsteller den Nobelpreis bekommt, der mit unsäglicher Teilnahme einem serbischen Führer an dessen Grab huldigt. Literatur ist nicht zu trennen vom politischen Leben, sie ist immer eine Widerspiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse.

Cover

Biografisches ist nicht von Geschichte zu trennen, Stanišić zieht immer wieder Parallelen, ob das eine einfache Geschichte von seinem Urgroßvater ist, der Flößer auf der Drina war (eine Geschichte, die Stanišić schon einmal verarbeitet hat) und nicht schwimmen konnte, ein Zusammentreffen seines Großvaters mit seiner Großmutter oder das Herumgeschubse seiner Eltern zwischen Bosnien und Deutschland, aus dem sie ausreisen mussten und nach Florida auswanderten, immer ist es ein Abbild der Geschichte von Flüchtlingen in Europa.

Auch Saša Stanišić selbst erzählt von den Zufällen der Geschichte, die sein Leben bestimmt haben, so das Verhalten einzelner Mitarbeiter bei der Ausländerbehörde, die für Flüchtlinge zuständig sind, oder auch vom Deutschlehrer, der ihn ermutigt zum Schreiben – ihn, der mühsam die deutsche Sprache erlernte, als er vierzehnjährig aus Višegrad nach Deutschland kam, weil der Krieg in Jugoslawien jedwede Zukunft verbaute.

Herkunft ist Krieg. Das war für uns: Mutter und ich flohen über Serbien, Ungarn und Kroatien nach Deutschland. Am 24. August 1992 kamen wir in Heidelberg an. Vater hatte uns über die serbische Grenze gebracht und kehrte nach Višegrad zurück, um bei seiner Mutter zu bleiben. Er kam ein halbes Jahr später nach und brachte mit: einen braunen Koffer, eine Schlaflosigkeit und eine Narbe am Oberschenkel. Ich habe nach der Herkunft der Narbe bis heute nicht gefragt.

"Herkunft" ist natürlich auch immer eine Zwiesprache mit seiner Großmutter, eine Zwiesprache, die vielleicht nicht immer real war, einmal, weil die Großmutter in der Zeit vor ihrem Tod immer dementer wurde, andererseits weil die permanente Zwiesprache immer prägender wurde für Saša, den Autor, der Fiktionales von Realem deswegen nicht ständig trennen konnte.

Dass Großmutter nicht mehr nur Daten und Daten verlorengehen, sondern auch Worte und Wille. Großmutter besteht aus Leerstellen – unvollendeten Sätzen und verlorengegangenen Erinnerungen, während ich hier künstlich Leerstellen setze.

Eichendorff, seine Kauzigkeit und seine Biografie rührt ihn. Stanišić hat ein sehr bewegendes Buch geschrieben, er skizziert Lebenslinien an, vermischt sie sehr gekonnt – und mit einer Leichtigkeit, die staunen macht ob der Vielfalt der sprachlichen Möglichkeiten.

Wie man das Ende liest, bleibt dem Leser selbst überlassen, er kann es sich zusammensetzen, Stanisic gibt aber keine Regeln vor.

Seine Biografie setzt Punkte aus Višegrad, Hamburg, Heidelberg und anderen Orten, an denen er Literarisches "produzieren" konnte, zusammen – in einem einmalig schönen Buch.

Hier in Hamburg hocken, alliterierend und Eichendorff zitierend am Samstagmorgen vor einem Familienausflug ins Wendland. O du stilles, heitres Glück!
Selbstbewusstsein gegen Fremdbestimmung (auch in der Sprache) Familie, Spechtvögel, Eichendorff, mein Sohn, Twitter, die Višegrader, die Gebrüder Grimm, Computerspiele, das Grimm’sche Wörterbuch. Die Möglichkeiten, eine Geschichte zu erzählen, sind quasi unendlich. Da triff mal die beste. Und: Hast du nicht noch etwas vergessen? Immer hast du etwas vergessen.

Saša Stanišić, Herkunft, Luchterhand-Verlag 2019, Hardcover mit Schutzumschlag, 368 Seiten, ISBN: 978-3-630-87473-9, 22,00 Euro

Saša Stanišić spricht über sein Buch "Herkunft":