Eigentlich wäre es so einfach mit der politischen Linken. Sie versteht sich als machtkritisch, hinterfragt Traditionen und kämpft vor allem für die Emanzipation und gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen in der Gesellschaft. Vor allem die Kritik an der Religion ist ihr ureigen, stellt diese doch die älteste und tiefgreifende Macht in Frage, welche Gleichberechtigung und Emanzipation behindert. Nicht umsonst lautet ein bekanntes Zitat von Karl Marx: "Religion ist Opium des Volkes".
Während nun aber die Kritik am Christentum schon fast eine altetablierte Tradition linker Kräfte ist, tun sie sich mit der Kritik am Islam umso schwerer. Vielen, die sich kritisch mit dem Islam auseinandersetzen, schlägt sogar bisweilen starke Ablehnung entgegen, vorwiegend aus den Kreisen besonders progressiver egalitärer Linker.
Doch woran liegt diese Ungleichbehandlung? Warum stößt die Kritik am christlichen Glauben und erst recht an der Institution Kirche auf breite Zustimmung unter den Linken, während eine ebenso geartete Kritik am Islam und vorrangig seiner politischen Ausprägungen klein gehalten wird und teilweise sogar als verwerflich gebrandmarkt wird?
Um diese Paradoxie zu verstehen, hilft es, weitere linke Agendapunkte zu betrachten. Denn bei der Islamkritik kommt es vermeintlich zu einer Überschneidung mindestens zweier linker Kerngedanken. Auf der einen Seite steht natürlich die Kritik an der Religion und ihrem Einfluss auf die Gläubigen, auf der anderen Seite jedoch gerät diese spezielle Religionskritik in Konflikt mit dem Kampf gegen die Unterdrückung von Minderheiten und den Kampf gegen rassistische Ressentiments.
Für einen liberalen Islamkritiker mag dieser Konflikt zu Recht Irritationen hervorrufen. Schließlich kritisiert man eine Religion, die die Ungleichbehandlung von Frauen und Ungläubigen in ihrer heiligen Schrift offenbart und selbst ihren Anhängern strenge Handlungsanweisungen gibt, wenn man sie denn wirklich ernst nimmt. Gerade doch die besonders Gläubigen selbst leiden vermutlich am meisten unter dem ständigen Druck, alle Gebote penibel genau erfüllen zu müssen. Ihnen zu sagen: "Nehmt es nicht so ernst, genießt euer Leben, seid frei und vor allem, lasst euch nicht unterdrücken vom Glauben und befreit euch aus dessen Fesseln", was soll daran selbst unterdrückend sein, oder gar rassistisch?
Um diese Argumentation dennoch zu verstehen, lohnt es sich, einen Blick auf eine Denkweise zu werfen, die in den letzten Jahren in der politischen Diskussion eine immer größere Rolle eingenommen hat: die Identitätspolitik.
Identitätspolitik stellt besondere Gruppeninteressen in den Vordergrund und versucht deren Belange und Bedürfnisse politisch durchzusetzen oder anerkennen zu lassen. Das Problem dabei stellt allerdings die feste Zuschreibung von gemeinsamen Eigenschaften aller Gruppenmitglieder dar.
Stülpt man eine solche Identitäts-Schablone nun über jedes einzelne Individuum und versucht zwanghaft Alles und Jeden in feste Kategorien einzuteilen, kommt es zwangsläufig zu kognitiven Verrenkungen. Der Versuch, alle Muslime, egal ob liberal oder islamistisch, in einen Topf zu werfen und ihnen gleiche Interessen zu unterstellen, ist schon eine fahrlässige Verallgemeinerung. Noch schwieriger wird es, wenn man die muslimische Identität gemeinsam mit dem Identitätsmerkmal der Herkunft kombiniert.
Unterstellt man nun einer Gruppe die festen unabänderlichen Eigenschaften der muslimischen Identität, gepaart mit einer speziellen Ethnie, kann man verstehen, wo der Vorwurf des Rassismus in der Islamkritik seine Wurzeln hat. Dies äußert sich dann in Kampfbegriffen wie etwa dem "antimuslimischen Rassismus", welcher Islamkritikern häufig zum Vorwurf gemacht wird.
Wer jedoch als Linker einer solchen Denkweise unterliegt, beweist, dass sein Weltbild ganz ähnliche Grundvoraussetzungen aufweist, wie das der ganz Rechten. Die Identitätspolitik ist nämlich an beiden Enden des politischen Spektrums in besonders weitreichendem Maß vertreten. Bei den Rechten jedoch wird das homogene Volk mit bestimmten gleichen Eigenschaften ausgestattet, damit man als Advokat seiner angeblichen Interessen auftreten kann.
Aber auch in dem Bezug auf den Islam werden von rechter Seite gerne allen Muslimen bestimmte Eigenschaften unterstellt, und auch eine Vermischung mit rassistischen Ressentiments lässt sich in ihrer islamfeindlichen Haltung zum Teil erkennen.
Kritisiert man nun als liberaler Islamkritiker die Ideologie des Islam, schlägt einem von der identitätspolitisch geprägten Linken ein rauer Wind entgegen, weil diese einen Angriff auf das von ihnen selbstgeschnürte identitätspolitische Gesamtpaket sehen, in welches sie alle Muslime hineingezwängt haben.
Doch ist nicht genau dies eine Bevormundung und sogar eine unzulässige Verallgemeinerung, die letzten Endes sogar selbst auf Vorurteilen beruht?
Identitätspolitische Linke scheinen anzunehmen, alle Muslime teilen die gleichen Merkmale, gleiche Herkunft sowie gleiche Eigenschaften. Der Unterschied zu den Rechten stellt dann nur die Schlussfolgerung dar, was mit einer solchen Gruppe zu tun ist. Für die Einen ist die fiktive homogene Gruppe als Minderheit zu schützen, für die Anderen stellt sie eine Gefahr für die eigene homogene Gruppe dar.
Dass ein solcher Kollektivismus jegliche individuelle Identität verneint und versucht, Menschen mit vielfältigen Interessen und Ansichten unter einen Hut zu bringen, bewirkt im Kern das Gegenteil der ursprünglichen Absicht, Minderheiten zu schützen. Denn die kleinste Minderheit in der Gesellschaft ist das Individuum.
Wie realitätsfern es ist, die Kritik am Islam aufgrund von identitätspolitischer Annahmen zu verunglimpfen, zeigen auch viele Beispiele von Muslimen und Menschen, die ursprünglich aus dem islamischen Kulturkreis stammen.
Sind die Islamkritiker Mina Ahadi, Hamed Abdel-Samad, Seyran Ateş und Ahmad Mansour rassistisch, wenn sie eine Ideologie angreifen, die andere Menschen ihrer Ethnie vertreten? Oder ist es gar rassistisch, als Europäer die Konvertiten und Islamisten Pierre Vogel oder Sven Lau zu kritisieren?
Solche Vorwürfe wären selbstverständlich absurd. Doch genau an solchen Individuen, die eher aus der Norm fallen, wird die gefährliche Fehleranfälligkeit identitätspolitischen Denkens sichtbar.
Wer eine Ideologie der Unterdrückung kritisiert und nicht deren Anhänger diffamiert, kann wohl kaum zur Unterdrückung dieser beitragen. Die liberale Kritik am Islam soll Muslimen helfen, einen Weg in die Selbstbestimmung ihres Lebens zu finden und nicht in die Unterdrückung.
21 Kommentare
Kommentare
Peter Müller am Permanenter Link
Was ist eigentlich mit Kritik am Judentum? Islamkritiker gibt es ja reichlich aber warum gibt es gar keine Judentumkritiker? Wer hilft den ultraorthodoxen Frauen, sich aus Ihrer Unterdrückung zu befreien?
Limette am Permanenter Link
Ich! Wird genauso sachlich und differenziert kritisiert, wie andere orthodoxe Religionsvarianten auch!
Joscha Wölbert am Permanenter Link
Kritik an der jüdischen Religion ist sicherlich genauso angebracht wie am Islam oder dem Christentum. Nirgendwo im Text wird dies bestritten. Es wird eben einfach ein anderes Thema beleuchtet.
David Braun am Permanenter Link
Da können sie die Hoffnung glaube ich aufgeben. Eine sachlich Diskussion über das Judentum würd es bei uns glaube ich nicht in absehbarer Zeit geben. Dafür sind die Meinungen darüber viel zu extrem.
Eckhard am Permanenter Link
Das ist doch ganz einfach:
Zweitens brauchen Juden nun wirklich keine deutschen Kritiker, weil orthodoxe Juden von niemandem heftiger kritisiert werden als von Juden.
Drittens entnehme ich Ihrem Namen, dass sie deutsch sein könnten. Ich verstünde dann also auch, dass Ihnen die orthodoxen Juden unter den Nägeln brennen.
Viertens geht es für den, der lesen kann, in diesem Artikel nicht um Ihre vielen Islamkritiker, sondern darum, dass es davon so wenige linke gibt.
Fünftens passt dazu, dass gerade die Linke und die Antiimperialisten sehr oft bei der Kritik an Juden ganz vorne dabei sind, und sie halt Antizionismus nennen.
Sechstens haben sich nicht einmal direkt nach Shoa Juden in deutschen Bussen, Bars, Zeitungsredaktionen, ... für x Jungfrauen in die Luft gesprengt.
David Z am Permanenter Link
Beim orthodoxen Judentum gibt es im Grundsatz in der Tat einiges zu kritisieren.
rainerB. am Permanenter Link
Na Herr Müller, Sie wollen doch nicht ernsthaft vermintes Gebiet betreten, und eine Diskussion eröffenen, welche der hpd-Redaktion evtl. einen presserechtlichen Angstschweiß auf die Stirn treibt... :-))
Übertreibung? Na, wer nur die jüngsten Attacken auf einen Herrn Peter Ullrich verfolgt, welcher sich kürzlich mit einem Gutachten erdreistete, der intern. Anisemitismusdefinition - Ausgangspunkt jeder Diffamierung israelkritischer Standpunkte (s. BDS) - schwere Mängel zu attestieren, könnte schnell geneigt sein, lieber den Mund zu halten, als Religionskritik an den Söhnen und Töchtern Zions zu äußern.
Man könnte natürlich durchaus mit einiger Berechtigung fragen, ob 613 Mitzwot (Lebensregeln), welche sich in 248 Gebote (nach den Teilen des menschlichen Leibes) und 365 Verbote (nach den Tagen des Jahres) aufteilen, vlt. obsessiv oder gar manisch genannt werden müssten? Von Genitalverstümmmlung und Schächten ganz zu schweigen. Oder dem Bespucken angbl. unkeuscher Frauen in Israel durch ultraorthodoxe Juden daselbst...
Aber das unterlassen wir doch bitte lieber, weil kaum ausgesprochen die Antisemitismuskeule auf uns niedersausen würde und schlimmstenfalls gar der hpd für alle Zukunft als antisemitisches Hetzmedium gebrandmarkt würde...
Sehen sie es mir deshalb nach, dass ich mich auf Ihre durchaus interessante Fragestellung zur Situation ultraorthodoxen jüd. Frauen nicht einlassen werde. Zumal als Nichtjude mein Antrieb eigentlich nur durch einen unbewussten(!) Antisemitismus erklärbar wäre - genau nach dieser Logik soll aktuell auch Gutachter Peter Ullrich erledigt werden - oder genauer gesagt sein Gutachten!
Aber ich denke mal, der hpd-Spezialist für solche Fragen Herr Pfahl-Traughber wird sicher noch einen ordnenden Überblick als Empfehlung anbieten...
Gerd Soldierer am Permanenter Link
"Islam" beinhaltet beides : Glaube u. Ideologie : Glaube ist frei - der poltische Islam definitiv nicht..
Herr Wölbert sollte definieren, eine saubere Begrifflichkeit, Nomenklatur benutzen.
1. Der politische Islam will kontrollieren u. beherrschen alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens.
2. Begrifflichkeiten wie Ungläubiger, Apostat, Märtyrer, Dschihad, Diskriminierung der Frau gehören nicht zum
Glauben u. vermasseln schon in den Moschee- Schulen den kindlichen Verstand.
Joscha Wölbert am Permanenter Link
Sie haben recht dass das was Sie als ideologische Ausprägung betrachten das besonders gefährliche am politischen Islam ist.
Gerd Soldierer am Permanenter Link
der Trennung von Religion u. Staat muß folgen die Trennung von Glauben im Islam u. dem politischen islam.
Die Hälfte der Verse im Koran gehören zu den genannten politischen Begriffen : Kafir, Apostat, Märtyrer....sind Werkzeuge des Dschihad : Ausdehnung u. Machtergreifung : Diese Verse werden öffentlich, in der Koran- Schule, für ungültig erklärt, was der Islam in Kairo erklärt interessiert nicht. Die Werte des politischen Islam müssen demaskiert, bewußt gemacht werden, erst dann kommen grundgesetzliche Texte....
A.S. am Permanenter Link
Dem Anspruch der religiösen Führer nach ist der Glaube nicht frei. Möglichst jeder Mensch hat den richtigen, wahren Glauben zu haben sonst landet er in der Hölle.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Der erste Satz:
"Während nun aber die Kritik am Christentum schon fast eine altetablierte Tradition linker Kräfte ist, tun sie sich mit der Kritik am Islam umso schwerer."
Joscha Wölbert am Permanenter Link
Dies ist sicherlich etwas verkürzt dargestellt in Anbetracht des Umfangs der Thematik.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Da haben Sie mich evtl. falsch verstanden.
Ich für mein Teil kritisiere (nicht nur diese beiden) Religionen gleichermaßen, halte aber das Christentum hienieden für die leider weitaus einflussreichere Religion.
Ist aber auch gar nicht sooo wichtig. Sie haben sich mit dem Artikel sicher viel Arbeit gemacht!
Roland Fakler am Permanenter Link
Muslime sind selbst die ersten Opfer einer totalitären und menschenrechtsfeindlichen Ideologie, die jeder aufgeklärte Mensch im Interesse wachsender globaler Humanität nur kritisieren und ablehnen kann.
Markus Schiele am Permanenter Link
Vielen Dank für diese schöne, differenzierte Aufarbeitung der Problematik! Kurz gesagt: Es geht nicht darum Menschen zu bekämpfen, sondern schädliche Ideen.
David Z am Permanenter Link
Richtig. Und einmal mehr ein Beleg, wie anfällig der Mensch für Ideologien ist und wie stark diese die Wahrnehmung trüben können.
Roland Weber am Permanenter Link
Abgesehen davon, dass das berühmte Zitat von Marx wieder einmal verkürzt und somit sinnentstellend dargestellt wird, ist darauf hinzuweisen, dass sich alle Parteien mit Kritik am Glauben äußerst zurückhalten.
Jana Steinhaus am Permanenter Link
Neben diesem Erklärungsversuch noch ein eigener. Korrigiert mich, wenn ich daneben liege:
Vielleicht hat die Linke ihre Hausaufgaben gemacht und den Marx ordentlich gelesen:
Nach Marx wird Religionskritik nicht als Selbstzweck betrieben. Religion ist Opium, ein Betäubungsmittel, aber es ist als solches primär Ausdruck der bestehenden Verhältnisse. Verändert sich der Überbau, verschwindet die Religion. Denn ein sattes, zufriedenes, selbstbestimmtes Volk braucht keine Religion.
Die Religion ist also in konsequent linker Denke das Ei, und nicht die Henne.
Nach Marx.
Gerd Simon am Permanenter Link
Mir fehlen Belege, v.a. auch Namen der linken Vertreter, die Islamkritik ablehnen
Bruder Spaghettus am Permanenter Link
"Während nun aber die Kritik am Christentum schon fast eine altetablierte Tradition linker Kräfte ist...."
Für Ironie kommt mir das zu trocken, für einen sachliche Darstellung zu falsch rüber.
Wobei, es mag schon linke Kräfte geben, bei denen das Tradition ist.
Solange jedoch ein Gysi die Kirchen für unabdinglich für die Wertebildung hält und ein Ramelow mit Parteiaustritt droht, wenn die Trennung von Kirche und Staat ins Grundsatzprogramm kommt, ist die Linke wohl alles andere als religionskritisch.