Rezension

Im Grunde gut

Wie ist er denn nun, der Homo sapiens: moralisch gut? Oder eher schlecht? Die Frage stellen sich die Menschen wohl schon Urzeiten. Je nachdem, bei dem Problem kommen die Anthropologen, Philosophen, Psychologen, Soziologen oder Theologen auch heute zu ganz unterschiedlichen Auffassungen. Der junge niederländische Historiker und Journalist Rutger Bregman, erst kürzlich aufgefallen durch seinen kritischen Auftritt beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos, gibt nun nach eingehenden Recherchen auf 480 Seiten die ultimative Antwort: Der Mensch? "Im Grunde gut" lautet knapp der Titel. Und im Untertitel verspricht Bregman nicht weniger als den Anbruch einer neuen Epoche: "Eine neue Geschichte der Menschheit".

"Dies ist ein Buch über eine radikale Idee", stellt Bregman als ersten Satz seinem ersten Kapitel "Ein neuer Realismus" voran. Und erläutert wenige Absätze weiter: "Worin besteht diese Idee?" Bregmans eigene Antwort: "Dass die meisten Menschen im Grunde gut sind."

Tatsächlich kann der Historiker Bregman mit zahllosen Beispielen aufwarten, die uns den Menschen als überraschend positiven Zeitgenossen darstellen. Er zitiert Berichte, in denen wir immer wieder erstaunlich gut wegkommen. Die Belege sind teilweise so frappierend, dass selbst ausgemachte Misanthropen nur schwer widerlegen könnten, dass sie uns Menschen in einem durchaus günstigen Licht erscheinen lassen.

Cover

Dabei ist unser vorherrschendes Menschenbild, klagt Bregman, zumeist recht düster. Ob bei den deutschen Luftangriffen auf London während des Zweiten Weltkriegs, beim Terror-Angriff auf die New Yorker Twin Towers vom 11. September 2001, bei der bislang größten Naturkatastrophe in der Geschichte der USA, der Sturmflut Katrina über der Stadt New Orleans: Bregman zitiert Politiker, Behördenvertreter, Experten, die Medien. In allen Fällen sind sich die Kronzeugen der Katastrophen einig. Stets wird das Allerschlimmste befürchtet. Angesichts solcher Bedrohungen würden die Menschen in Massenpanik geraten, die allgemeine Anarchie ausbrechen, Verbrechen würden sich häufen, Mord und Totschlag vorherrschen, Plünderungen und Vergewaltigungen seien als Folge die Regel.

Doch Bregman widerspricht entschieden, widerlegt mit Zahlen, verweist auf Metastudien, psychologische Tests, soziologische Experimente, authentische Berichte: "Das Bild, das in den Medien gezeichnet wird, ist dem, was nach einer Katastrophe tatsächlich geschieht, diametral entgegengesetzt. Im Gegenteil: In Notsituationen kommt das Beste im Menschen zum Vorschein."

Auf über 400 Seiten kann Bregman mit immer neuen Beispielen aufwarten. Zum Erstaunen wohl der meisten Leser zeigen sie ein ganz anderes Menschenbild auf, als wir es aus unserer von Vorurteilen geprägten Welt der Meinungen gewohnt sind. "Könige und Diktatoren, Gouverneure und Generäle glauben, dass die einfachen Menschen egoistisch sind, weil sie es selbst so oft sind", weiß Bregman. Zum Beleg hat er Aufzeichnungen und Berichte aufgespürt, sogar aus den großen Kriegen, in denen Soldaten die Befehle ihrer Vorgesetzten verweigerten, lieber in die Luft schossen, als auf den Gegner zu zielen, oder sich gar wie während des Ersten Weltkriegs zwischen den Schützengräben verbrüderten.

Ohne die allgemein vorherrschende negative Erwartungshaltung verhielte sich der Mensch eher positiv, empathisch, altruistisch, so die Meinung von Bregman. Doch das vorherrschende miese Menschenbild wirke wie eine "self-fullfilling prophecy", habe geradezu einen "Nocebo-Effekt" zur Folge. Bregman: "Wenn wir glauben, dass die meisten Menschen im Grunde nicht gut sind, werden wir uns gegenseitig auch dementsprechend behandeln. Dann fördern wir das Schlechteste in uns zutage."

In erfrischender Weise lässt der Autor den Leser nachvollziehen, wie es ihm selbst gelang, durch Überprüfung von Fakten sein eigenes negatives Menschenbild zu überwinden. Bregman ist nicht nur Historiker, der sich akkuratem Quellenstudium verpflichtet sieht. Bregman ist eben auch Journalist, der es dank seiner knackigen Schreibe zu zahlreichen Veröffentlichungen in namhaften Blättern gebracht hat. Man muss sich nicht seitenweise durch die immer neuen Quellen quälen. Seine Sprache macht das Lesen zum Genuss, zwingt bisweilen sogar zu breitem Schmunzeln. Besonders, wenn wir, die Leser, dabei so gut wegkommen.

Bregman versichert sich für seine These, der Mensch sei im Grunde vor allem gut, durchaus der Rückendeckung der Wissenschaften. Er findet Gewährsleute vor allem in der Psychologie und in der Philosophie der Aufklärung. Jedoch im Gegensatz zu Thomas Hobbes' bösem Menschenbild, der Mensch sei dem Menschen ein Wolf und jeder kämpfe gegen jeden, ist es die Philosophie von Jean-Jacques Rousseau, die es dem Autor angetan hat. Erst mit der Sesshaftigkeit folgt er dem französischen Aufklärer, mit der Herausbildung von Besitz und Reichtum hätten sich Ungleichheit und Unterdrückung unter den Menschen breitgemacht. Erst die Zivilisation habe auch das negative Selbstbild des Homo sapiens hervorgekehrt. Und darin folgt Bregman dann dem bekannten niederländischen Primatenforscher Frans de Waal, der das negative Weltbild von Hobbes als "Fassadentheorie" bezeichnet. Nach dieser falschen Theorie sei alle Moral nur Fassade, lediglich eine brüchige Kruste, unter der sich in Wahrheit das eigentlich egoistische, ganz am Eigennutz orientierte Wesen verberge.

Die aus meiner Sicht beste Story aber, die Bregman als Beleg für seine Theorie vom eigentlich altruistischen und empathischen Menschenwesen auftischt, ist die Entlarvung des berühmten Bestsellers aus den 50er-Jahren "Herr der Fliegen" des englischen Autors und Nobelpreisträgers William Golding. Nach Bregmans Recherche bleibt nichts übrig vom angeblich wahren Hintergrund der Horrorgeschichte. Darin hatte es eine Gruppe Jugendlicher auf eine einsame Insel verschlagen, wo sie der Wildnis preisgegeben beginnen sich gegenseitig aufs Schlimmste zu massakrieren. Die Geschichte: rein ausgedacht und für Bregman ein "ultimatives Beispiel für die Fassadentheorie".

Bregman macht sich auf die Suche – und das macht sein Buch zum Krimi – nach der Antwort auf die Frage: "Was treiben Kinder, wenn sie allein sind, auf einer unbewohnten Insel?" Und er wird tatsächlich fündig: Mitten im Stillen Ozean, 1.000 Kilometer entfernt von den Fidschi-Inseln, wird 1977 eine Gruppe Jugendlicher schiffbrüchig und auf einer winzigen Insel an Land geschlagen. Bregman findet schriftliche Quellen und Überlebende, die tatsächlich dabei waren. Doch mehr sei hier nicht verraten, um dem Leser nicht einen der spannendsten Berichte in dem ganzen Buch vorwegzunehmen.

Jedoch zum Schluss: Können wir Bregman bei seinen ausführlichen Belegen für die These vom eigentlich empathischen und altruistischen Menschen in Gänze folgen? Nach allem peinlichen Hinterfragen und kritischer Prüfung führt der Autor auch herzerwärmende Beispiele an, erwähnt Helden wie Nelson Mandela und Legendengestalten wie Jesus, zitiert aus der Bergpredigt. Vielleicht aber hätte sich der Journalist doch noch intensiver mit den modernen Erkenntnissen der Evolutionstheorie beschäftigen sollen. Etwa mit dem klugen Werk von Gerhard Vollmer (vor allem "Im Lichte der Evolution" oder "Evolution und Ethik"), aber auch mit der Abhandlung "Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen" des Soziobiologen Edward O. Wilson. Die gründlichen Arbeiten zeigen auf, dass die Entwicklung des Homo sapiens durchaus kein so einseitig klares Bild zulässt.

Letztlich geht auf der Suche nach dem, was den Menschen ausmacht, nichts an der modernen (Evolutions-)Biologie vorbei. Und die kommt eben zu der Erkenntnis von der Doppelnatur des Menschen: sowohl Helfernatur als auch Ego-Shooter. Anders ließe sich das Alltagsgeschehen auf der Welt mit seinen menschlichen Höhenflügen und unmenschlichen Abgründen kaum erklären. Doch "die Doppelnatur menschlichen Verhaltens führt dazu", stellt Gerhard Vollmer in seinem reifsten Werk fest, "dass manche Autoren die egoistische, andere die altruistische Seite betonen und die einen den anderen Einseitigkeit, Blindheit, Naivität vorwerfen und das Menschenbild der jeweils anderen Seite zurechtzurücken versuchen".

Indes, der Gerechtigkeit halber muss man zugeben, dass auch dem jungen Historiker Bregman die von den Wissenschaftlern eruierte Doppelnatur nicht fremd ist. Schon im ersten Kapitel schreibt er sehr klug: "In diesem Buch werde ich nicht behaupten, dass wir alle uneingeschränkt gut sind. Menschen sind keine Engel. Wir haben eine gute und eine schlechte Seite, die Frage ist, welche Seite wir stärken wollen." Und das ehrt Bregman als den Humanisten mit der genialen Feder. Er vertraut darauf: Altruismus und Wohltätigkeit wirken ansteckend. "Schämen Sie sich nicht für Ihre Großzügigkeit", rät er uns, "und tun Sie das Gute bei hellem Tageslicht. Vielleicht werden Sie zunächst noch als töricht und naiv abgetan. Doch bedenken Sie: Die Naivität von heute kann die Nüchternheit von morgen sein". Und dann bringt er seinen großartigen Wälzer mit den Worten zum Abschluss: "Es ist Zeit für ein neues Menschenbild. Es ist Zeit für einen neuen Realismus."

Bravo, Bregman! Als hätte er die harte Zeit, die wir gerade durchmachen, vorausgesehen.

Rutger Bregman, Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit, ISBN: 9783498002008 (?) bzw. 3498002007, Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2020, 480 S., gebunden, 24,00 Euro

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