Verantwortung für den mentalen und kulturellen Raum

BERLIN. (hpd) Das Internet bietet viele Möglichkeiten. Es kann dazu dienen, dass Gesellschaften demokratischer werden. Es ist aber auch der Ort, an dem so Mancher seine Stammtischparolen hinterläßt. Mit diesen beiden Seiten der Medaille befasst sich der Autor Carlo Strenger in einem jüngst veröffentlichten Beitrag.

Strenger schreibt: "Bürgerinitiativen sind heute leichter zu organisieren, und repressive Regimes haben es schwerer, den Informationsstrom zu blockieren. Doch der freie Zugang zur Meinungsäusserung hat natürlich nicht nur Positives geschafft."

Insbesondere sind die Kommentarmöglichkeiten unter den Artikeln von Online-Medien als auch die sozialen Netzwerke Tummelwiesen von Menschen, die das, was sie schreiben, kaum in einem Gespräch öffentlich äußern würden. (Das betrifft im Übrigen auch den hpd und ist der Grund dafür, dass alle Kommentare von einem Redakteur gelesen und freigegeben werden.) Das Problem kennt auch Carlo Strenger: "meine Universitäts-Mail-Adresse [ist] publik, und es kommt immer wieder vor, dass aufgebrachte Leser, deren Kommentare von den Moderatoren blockiert wurden, mir diese stattdessen per Mail schicken, was ich als Eindringen in meine Privatsphäre empfinde. In diesen Mail steht zum Beispiel, es sei doch schade, dass meine Familie im Holocaust nicht umgekommen sei; die Welt hätte sich einen Judenfeind wie mich gespart…"

Solcher Art sind Nachrichten und Kommentare, die mit dem Satz "Das muss man doch mal sagen dürfen" entschuldigt werden sollen. Interessanterweise sind es genau jene Kommentatoren, die - so ihre beleidigenden Kommentare und Hate-Speechs nicht freigeschaltet werden - sofort "Zensur" schrei(b)en. Als wären Online-Medien verpflichtet, jeden Mist zu veröffentlichen.

Zu Recht jedoch muss auch gefragt werden "wie viel Verantwortung … die Medien für diese Form der Hetzrede" tragen, "in der Menschen eigentlich gar keine Ansicht mehr formulieren, sondern nur noch Hass und Frustration vollkommen unkontrolliert ventilieren." Strenger weist aber auch darauf hin, dass es manchen Medien nur darum geht, "Sensationen" zu verkaufen. Und damit genau die Kommentatoren anlockt und offenbar auch ermutigt, von denen hier die Rede ist.

Deshalb fordert er eine "Erziehung zur Demokratie". "Wir erziehen Kinder schon früh, zu verstehen, dass die öffentliche Sphäre respektiert werden muss. Man kann Müll beispielsweise nicht einfach auf die Strasse werfen, und jedes Kind versteht früh, dass gewisse Körperfunktionen nicht öffentlich verrichtet werden dürfen. Die öffentliche Sphäre hat einen mentalen, geistigen und kulturellen genauso wie einen physischen Aspekt." Und weiter: "es sollte zur Bürger-Kompetenz gehören, zu verstehen, dass gewisse Ausdrucksformen in der öffentlichen Sphäre keinen Platz haben sollten. Dabei geht es mir nicht um Zensur von Meinungen, ausser in Fällen, welche klar zur Gewalt aufrufen, und in den meisten Demokratien auch strafrechtlich verfolgt werden können, sondern um ein Minimum an Ausdrucksniveau, ohne das … eine zivilisierte Öffentlichkeit einfach nicht aufrechterhalten werden kann."

Bis dahin sollte es Konsens sein, dass Kommentatoren wenigstens - wie früher Leserbrief-Schreiber - mit vollem Namen sich zu erkennen geben. "Demokratie muss bedeuten" so Strenger, "dass Menschen hinter ihren Meinungen stehen müssen."

Denn einerseits diskutieren wir über ein Burkaverbot mit der Begründung, dass wir sehen möchten, mit wem wir es zu tun haben. Doch andererseits wird im Netz häufig genau das Gegenteil dessen gelebt. Einige scheinen gar zu glauben, dass man - versteckt hinter einer (vermeintlichen) Anonymität - sich gehen lassen darf. Deshalb fordert Strenger auch mehr Selbstverantwortung: "wir sollten alle nicht nur für unsere Strassen, Parks und öffentlichen Verkehrsmittel mitverantwortlich sein, sondern auch für den gemeinsamen mentalen und kulturellen Raum."