Interview

Unanständige Glückwünsche

Eine Glückwunschanzeige für den Erziehungswissenschaftler Hartmut von Hentig zu seinem 95. Geburtstag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) ist unpassend und befremdlich, sagt der Passauer Strafrechtsprofessor Dr. Holm Putzke. Das ursprünglich dazu vom katholischen Online-Magazin kath.net erbetene Interview fiel der Zensur der Redaktion anheim, weil ihr ein markanter Begriff in den Antworten missfiel. Der hpd ist eingesprungen.

hpd: Herr Professor Putzke, das außerkirchliche österreichische Online-Magazin kath.net hat Sie um ein Interview gebeten, eine Veröffentlichung aber plötzlich abgelehnt, nachdem Sie Ihre Antworten übermittelt hatten. Was ist passiert?

Putzke: Ich habe die katholische Kirche, unter Verweis auf die Ergebnisse der Missbrauchsstudie mit tausenden offenbarten Missbrauchsfällen, als größte Täterorganisation im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der bundesdeutschen Geschichte bezeichnet. Das könne die Redaktion nicht mittragen, weil es nicht nur missbrauchskritisch, sondern kirchenfeindlich klinge.

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Prof. Holm Putzke (© Andreas Zitt)

Hat Sie die Reaktion überrascht?

Ja, weil ich unter anderem explizit um eine Einschätzung gebeten worden war, ob ich zufrieden bin mit der Aufarbeitung und Prävention in den Kirchen.

Ich habe geantwortet, dass wir das Thema vor allem in Justiz und Politik nicht kraftvoll und entschlossen angehen, was nach meinem Eindruck auch daran liegt, dass die, nach allem, was bekannt ist, größte Täterorganisation in der bundesdeutschen Geschichte mit tausenden Missbrauchsfällen die katholische Kirche ist und der Staat gleichwohl Beißhemmungen gezeigt habe.

Dabei ist "Täterorganisation" freilich eine faktenbasierte Bezeichnung. Denn es ist bewiesen und lässt sich überhaupt nicht leugnen, dass es sich bei der katholischen Kirche um eine Organisation handelt, in der nachgewiesenermaßen über eintausend Geistliche nicht nur jahrzehntelang Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht, sondern in der auch viele Verantwortliche nichts unternommen haben und die Taten sogar systematisch vertuscht wurden, weshalb die meisten Sexualstraftäter ungeschoren davonkommen konnten. Vom schäbigen Umgang mit den tausenden Opfern will ich gar nicht erst reden. So etwas verdient allemal – etwas polemisch zugespitzt formuliert – die Bezeichnung "Täterorganisation".

Und nicht nur jeder Kriminologe weiß, dass die bekanntgewordenen Fälle erfahrungsgemäß zahlenmäßig weit hinter dem sogenannten Dunkelfeld zurückbleiben. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn auch zehn Jahre nach der "Missbrauchsstudie" immer noch weitere Fälle ans Licht kommen. So hat etwa eine aktuelle Studie im Bistum Mainz ergeben, dass es allein dort fünfmal mehr Missbrauchstäter im Kirchenumfeld gab, als bislang angenommen. Das ist erschütternd.

Was war der Anlass des Interviews?

Eine Gratulation in Form einer Glückwunschanzeige in der FAZ für Hartmut von Hentig zu seinem 95. Geburtstag, den die Schar der Unterzeichner nicht nur als "Freund und Kollegen", sondern auch als "Lehrer und großen Anreger" preist.

Was kritisieren Sie daran?

Hartmut von Hentig war persönlich eng verbunden mit Gerold Becker, der von 1972 bis 1985 die berüchtigte Odenwaldschule geleitet hat. Nach dem 2010 von einer unabhängigen Kommission vorgelegten Abschlussbericht über die sexuelle Ausbeutung von Schülern an der Odenwaldschule war Becker einer von vier pädokriminellen Haupttätern.

Mit der Buchveröffentlichung "Noch immer Mein Leben" hat Hartmut von Hentig im Jahr 2016, sechs Jahre nach Beckers Tod, eine Art Rechtfertigungsschrift veröffentlicht. Darin versucht er, Beckers Ehre zu retten, indem er etwa den Opfern eine Mitschuld an den an ihnen begangenen Übergriffen zuschiebt und sie zudem diffamiert und versucht, sie zu diskreditieren. Es finden sich auch erschreckende Sätze wie "Weiß man denn, was Kinder in dieser Hinsicht wirklich wollen, wirklich brauchen, wirklich fürchten?"

Wer in einer solch selbstgerechten und wirklichkeitsentrückten Art und Weise versucht, jemanden reinzuwaschen, dem sind, wie jedem Menschen, private Geburtstagswünsche zwar immer noch zu gönnen, ihm gebührt aber ganz sicher keine öffentlich zelebrierte Glückwunschadresse in der FAZ. Das ist unpassend und befremdlich.

In der Odenwaldschule wurde unter dem Tarnmantel eines vermeintlich innovativen pädagogischen Konzepts ein Setting aus Abhängigkeit und Intransparenz geschaffen, das mit Rechtfertigungsstrategien für sexualisierte Gewalt – im Kleid des "pädagogischen Eros" – den Missbrauchsstrukturen der katholischen Kirche nicht nachsteht. Hartmut von Hentig hat dem Ganzen im Rahmen eines einflussreichen Netzwerks in der Bildungspolitik seinen Segen gegeben.

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Diese Glückwunschanzeige wurde am 23. September 2020 in der Print-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht.

Gibt es bei den Unterzeichnern Personen, die Ihres Erachtens besonders auffallen?

Besonders verwundert bin ich darüber, dass etwa bekannte Personen, wie die Politikerin Rita Süssmuth, der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann sowie der Soziologe und Politikwissenschaftler Alfred Grosser, bei der Glückwunschadresse mitgemacht haben. Das ist nicht nur geschichtsvergessen und geschichtsrevisionistisch, sondern auch ein Schlag ins Gesicht der vielen Opfer von Gerold Becker.

Solange jemandem wie Hartmut von Hentig öffentlich mit Glückwünschen gehuldigt wird, sind wir noch weit davon entfernt, eine ehrliche und schonungslose Debatte zu führen über sexuellen Kindesmissbrauch sowie über seine Ursachen und die Strategien des Vertuschens, Verleugnens und Bagatellisierens.

Hatten Sie keine Bedenken, kath.net ein Interview zu geben? Immerhin handelt es sich um ein Online-Magazin, von dem sich mehrere Kirchenvertreter explizit distanziert haben und gegen das schon der Vorwurf erhoben wurde, neurechtes Gedankengut zu verbreiten und als "Werbetrommel für die AfD" zu fungieren?

Auch ich bin davor gewarnt worden und habe sehr wohl darüber nachgedacht, ob es verantwortlich ist, Leser und ihre Aufmerksamkeit möglicherweise auf eine zweifelhafte Plattform zu lenken. Trotz berechtigter Kritik ist kath.net für mich aber noch keine Tabuzone und letztlich muss man auf ein Mindestmaß an medienkritischer Kompetenz der Leser setzen dürfen.

Ich habe auch schon auf der nicht unumstrittenen Plattform The European einen Text platziert, worin ich mir die AfD vorknöpfe. Ich finde, dass es wichtig ist, seine eigene Komfortzone und Blase zu verlassen, um einen Diskurs auch dort anzufachen, wo Widerspruch gewiss ist.

Ich habe nach der Ablehnung meines Interviews kath.net auch mitgeteilt, dass ich konkrete Bedenken zurückgestellt und mich entschieden habe, für ein Interview zur Verfügung zu stehen, weshalb es mich schmerze, nun Opfer von Zensur zu werden. Daraufhin betonte das Redaktionsmitglied, mit dem ich Kontakt hatte, wie wichtig für sie Meinungspluralität sei. Nun, die Worte hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Nach meinen jetzigen Erfahrungen wollen sie bei kath.net anscheinend doch nur hören, was zu ihrem Weltbild passt.

Dass nun ausgerechnet der Humanistische Pressedienst den Inhalt eines Interviews bringt, das ursprünglich für kath.net vorgesehen war, entbehrt natürlich nicht einer gewissen Ironie.

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