Interview

Nur eine weitere gesetzliche Kategorie von unterschiedlichem Kinderschutz

Ende September hat das Bundeskabinett einem Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums "zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung" zugestimmt. Er soll Kinder, die nach der Geburt keinem binären Geschlecht zugeordnet werden können, vor "unnötigen Behandlungen an den inneren und äußeren Geschlechtsmerkmalen" bewahren. Die Organisation Mogis – Eine Stimme für Betroffene, welche sich für genitale und sexuelle Selbstbestimmung einsetzt, sieht den Gesetzentwurf jedoch kritisch. Der hpd hat mit ihrem Vorsitzenden Victor Schiering gesprochen.

hpd: Herr Schiering, das Bundeskabinett hat unlängst einem Gesetzentwurf zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung zugestimmt. Sie kritisieren diesen Entwurf. Warum?

Victor Schiering: Weil er vorgibt, Selbstbestimmung und Menschenrechte umzusetzen, aber letztendlich nur weitere gesetzliche Kategorien von unterschiedlichem Kinderschutz einführt – abhängig vom äußeren Genital. Der Entwurf beabsichtigt nämlich keinesfalls, Kindern mit "Varianten der Geschlechtsentwicklung" den gleichen Schutz zuzugestehen, wie er in Paragraf 226a StGB bereits für "weibliche Personen" gilt. Und er besagt in seiner Begründung auch klar, dass "männliche Kinder" weiterhin schutzlos gestellt bleiben sollen.

Wir können der DGTI (Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität) in ihrer Stellungnahme vom 30. September nur zustimmen: "Wir vermissen immer noch den mutigen Schritt, die Genitalien von nicht einwilligungsfähigen Kindern vor jedweder Veränderung zu schützen." Diesen nötigen Mut bringen übrigens auch Bündnis 90/Die Grünen mit ihrem vollmundig "Selbstbestimmungsgesetz" betitelten Entwurf nicht auf. Darin werden nämlich ebenfalls im Kleingedruckten mal eben circa 49 Prozent aller Kinder, also alle bei Geburt "männlich" zugewiesenen, von den genannten Schutzrechten ausgeschlossen. Da herrscht eine enorme Kluft zwischen Slogans und der Realität.

Sie heben in einem Blog-Beitrag auf der Webseite von Mogis den Verweis in der Begründung des Gesetzentwurfs auf die "Helsinki-Deklaration" hervor. Was besagt diese und warum ist es dreist, wenn die Bundesregierung sich auf sie beruft?

Weil diese Erklärung das Gegenteil von dem besagt, für was dieser Gesetzentwurf steht. Sie fordert nämlich "für jeden Menschen ohne Unterscheidung zwischen normgerechten und varianten Genitalien und Geschlechtskonfigurationen das vollständige Recht auf Kontrolle über die eigenen Genitalien und Fortpflanzungsorgane". Da muss man sich schon fragen, ob die Autor*innen des Gesetzentwurfes überhaupt verstanden haben, was sie hier zitieren.

Können Sie dem Gesetzentwurf denn auch etwas Positives abgewinnen?

Hoffentlich wird das Gesetz, sollte es tatsächlich in der Form beschlossen werden, wenigstens für einige Kinder einen verbesserten Schutz bedeuten. Jedes Kind zählt, da können auch kleine Schritte eine Welt bedeuten. Ich weiß, wie lange Betroffene dafür schon kämpfen. Allerdings ist die Basis des Schutzes, den die Bundesregierung diesen Kindern zugestehen will, eben eine extrem widersprüchliche und damit schwache. Kinder brauchen aber starken Schutz. Menschenrechte können letztlich nur wirken, wenn sie für alle gleich gelten.

Bräuchte man das Gesetz überhaupt, wenn medizinisch nicht notwendige Eingriffe an den Genitalien von Kindern gleich welchen Geschlechts generell untersagt wären?

Ich glaube nicht. Eine Rückkehr zur gesetzlichen Situation vor dem 12. Dezember 2012 wäre stärker als jedes Sondergesetz, das wieder mal nur für einige Kinder gelten soll, obwohl es angeblich um Menschenrechte geht. Man muss sich aber auch darüber im Klaren sein, dass zu umfassendem Kinderschutz ein Gesetz allein nicht ausreicht. Ganz wesentlich ist hier der Dialog mit medizinischen Fachgesellschaften über die Frage, wann Genitalien eigentlich überhaupt operativer Korrekturen im Kindesalter bedürfen. Kein Gesetz der Welt kann medizinische Diagnosen definieren, und das ist auch sehr gut so. Hier zählen allein medizinische und medizinisch-ethische Kriterien, die immer nach neuestem Erkenntnisstand hinterfragt werden müssen.

Was wäre an dieser Stelle Ihre Forderung an den Gesetzgeber?

Ausnahmslos gleichen Schutz für alle Kinder umzusetzen. Aufklärungsinitiativen und Beratungsangebote für Betroffene einzuführen. Ich warte aber nicht nur auf den Tag X in der Politik. Wir brauchen einen Wettstreit der besten Ideen in unserer ganzen Gesellschaft. Wir sind als Erwachsene stark genug, uns endlich rückhaltlos hinter die Rechte der Kinder zu stellen.

Unterstützen Sie uns bei Steady!