"Human Rights Watch World Report 2021":

2020 aus der Sicht der Menschenrechte

Human Rights Watch (HRW) hat den "World Report 2021" veröffentlicht, einen jährlich erscheinenden Bericht zum Stand der Menschenrechte weltweit. An einigen nationalen Beispielen werden wir ergründen, mit welchen Geschützen autoritäre Kräfte die Menschenrechte zu untergraben versuchen.

Belarus

Im August fand die belarussische Präsidentschaftswahl statt. Bereits im Vorfeld kam es zu massenhaften Verhaftungen von Oppositionskandidat:innen und einer rigorosen Unterdrückung regimekritischer Proteste. Das offizielle Wahlergebnis, demzufolge Alexander Lukaschenko mit über 80 Prozent der Stimmen gegen die Herausforderin Swetlana Tichanowskaja gewonnen habe, erkennt die Europäische Union nicht an.

Human Rights Watch zufolge wurden allein bei den Protesten zwischen dem 9. und dem 12. August 7.000 Menschen verhaftet (der hpd berichtete). Bis Mitte November sei diese Zahl auf 25.000 Menschen angewachsen, so HRW.

Der Kampf um die Wahl in Belarus ist zuvorderst ein Kampf gegen das real existierende Patriarchat. Lukaschenko bezeichnete Frauen als "unfähig, ein Land zu regieren". Swetlana Tichanowskaja, der vermeintlichen Gewinnerin der Wahl, schien nach der Verhaftung ihres Ehemanns niemand ernsthafte Chancen zuzurechnen. "Sie waren sich sicher, dass mich niemand unterstützen würde. Schließlich ist mein Mann berühmt, nicht ich. Ich war nur eine Hausfrau", so Tichanowskaja.

Doch das Gesicht der prodemokratischen Proteste ist weiblich. Frauen formten menschliche Ketten, um die Demonstrationen zu schützen. "Frauen sind die einzigen, die ohne Furcht, geschlagen zu werden, auf die Straße gehen konnten. Das liegt daran, dass die Gesellschaft patriarchal organisiert ist. Große Zahlen von Frauen verunsichern die belarussische Polizei", so Katia Glod, Mitarbeiterin des Thinktanks Center for European Policy Analysis.

Allerdings währte die anfängliche Zurückhaltung nicht lange. Dem "World Report" zufolge waren viele der 25.000 bis November Inhaftierten Frauen. Den Betroffenen wurde der Zugang zu anwaltlicher Vertretung verweigert, zahlreiche Inhaftierte erzählen von Schlägen, Elektroschocks und in mindestens einem Fall sogar von einer Vergewaltigung durch die Polizei.

Brasilien

Brasilien ist eines der am härtesten von der Covid-19-Pandemie getroffenen Länder auf der gesamten Welt. Einer Studie der Universität São Paulo zufolge, die die Zeitung El País veröffentlichte, hat die Regierung von Präsident Jair Bolsonaro nicht nur nichts getan, um die mittlerweile über 200.000 Toten zu verhindern – nein, es gibt sogar Hinweise darauf, dass die brasilianische Regierung aktiv Schutzmaßnahmen zu sabotieren versuchte.

"Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass es eine institutionelle Strategie gibt, um das Virus zu verbreiten – vorangetrieben von der brasilianischen Regierung unter der Federführung des Präsidenten", so das schockierende Fazit. Beispielsweise musste erst das Verfassungsgericht die Regierung dazu zwingen, medizinische Versorgung für indigene Einwohner Brasiliens bereitzustellen, nachdem Präsident Bolsonaro zuvor ein entsprechendes Gesetz des Parlaments mit einem Veto vom Tisch gewischt hatte. Ebenso widersprach Bolsonaro einem Gesetz, das eine Maskenpflicht in Gefängnissen und Jugendstrafanstalten vorsah. Auch dieses Veto schmetterte das Verfassungsgericht ab.

Bolsonaros Brasilien ist eines, in dem besonders Black and Indigenous Persons of Color (BIPoC) von Polizeigewalt und institutioneller Diskriminierung betroffen sind (der hpd berichtete). Im Jahr 2019 tötete die brasilianische Polizei mehr als 6.300 Menschen, 80 Prozent von ihnen waren Schwarz. Im ersten Halbjahr des Jahres 2020 stieg die Zahl von Tötungsdelikten durch die Polizei noch einmal um sechs Prozent. Unterdessen dringt die Regierung, flankiert von Minenunternehmen und Rindfleischproduzenten, immer tiefer in die Gebiete der indigenen Bevölkerung Brasiliens ein. Im Jahr 2019 wurde 85 Prozent mehr Amazonasregenwald gerodet als im Vorjahr, ebenso gab es sage und schreibe 135 Prozent mehr Vertreibungen von Indigenen, um deren Ressourcen für die Wirtschaft zu erschließen.

China – Xinjiang

Mithilfe von Satellitenaufnahmen wies das Magazin Buzzfeed nach, dass China in der nordwestlichen Region Xinjiang, die von den überwiegend muslimischen Uiguren bewohnt wird, gigantische Gefängnisanlagen baut. Über 260 dieser Anlagen seien allein seit 2017 gebaut worden, resümieren die Autor:innen. Buzzfeed wies damit nach, wovor Menschenrechtsorganisationen seit Jahren warnen: China versucht sich an einem kulturellen Genozid.

In diesen offiziell als "Umerziehungslagern" bezeichneten Camps werden Frauen systematisch vergewaltigt. Der Wille der Inhaftierten soll gebrochen werden, so das Fazit einer Überlebenden.

Einem Bericht des Australian Strategic Policy Institute zufolge beziehen 83 global agierende Unternehmen, darunter auch deutsche Firmen wie Adidas, BMW oder Puma, Materialien aus Fabriken in der Region Xinjiang. Sie verarbeiten damit aller Wahrscheinlichkeit nach Produkte aus Zwangsarbeit.

Russland

Die russischen Institutionen setzen ihren Kreuzzug gegen alles, was auch nur ansatzweise unter den begrifflichen Schirm der "geschlechtlichen und sexuellen Diversität" fällt, unbeirrt fort. Mit der Reform von 2020 (der hpd berichtete) definiert die russische Verfassung eine Ehe nun als ein Bündnis, das ausschließlich zwischen einem Mann und einer Frau geschlossen werden kann. Weiterhin wurde ein Gesetzesvorschlag, das sogenannte "Mizulina-Gesetz", ins russische Parlament eingebracht, der danach trachtet, die Änderung des bei Geburt festgelegten Geschlechtseintrags zu verunmöglichen.

Auf dem Papier würden trans*- und intersexuelle Menschen damit vollständig aus der russischen Bevölkerungsstatistik verschwinden. Und es steht zu befürchten, dass genau das der zugrundeliegende, perfide Plan ist. Transsexualität ist in Russland bereits als schwere psychische Krankheit definiert, sodass die Menschen, die an ihr "leiden", nicht einmal einen Führerschein erhalten. Das Ziel scheint die völlige Verdrängung geschlechtlich und sexuell diverser Menschen aus der Öffentlichkeit.

Singapur

Ende 2019 erließ der Stadtstaat den Protection from Online Falsehoods and Manipulation Act (deutsch: "Gesetz zum Schutz vor Onlinebetrug und Manipulation"), kurz POFMA. Dieses gibt Ministern, also Mitgliedern der Exekutive, die Macht, eine online geteilte Information als "falsch" einzustufen und eine "Änderungsanzeige" auszusprechen. Dieser Anzeige nicht nachzukommen, kann mit einer Schließung des Accounts, bis zu zwölf Monaten Gefängnis oder einer Geldstrafe bis zu 15.000 Dollar geahndet werden.

Human Rights Watch zufolge sei das Gesetz in der ersten Hälfte 2020 mehr als 50-mal angewendet worden. Während der neuntägigen Wahlkampagne im Juli wurden diese "Änderungsanzeigen" auch gegen Oppositionskandidat:innen und -parteien eingesetzt.

Eine weitere Fessel am Bein der digitalen Grundrechte ist der 2016 in Kraft getretene Administration of Justice (Protection) Act. Dieser kriminalisiert regierungskritische Onlineinhalte von Privatpersonen und droht mit einer bis zu dreijährigen Gefängnisstrafe.

Im März 2020 bestätigte ein Berufungsgericht das Urteil gegen den Aktivisten Jolovan Wham, der auf Facebook geäußert hatte: "Die Gerichte in Malaysia sind unabhängiger als die in Singapur, wenn es um Fälle mit politischem Hintergrund geht." Einige Monate später bekräftigte das Berufungsgericht ein Urteil, in dem eine Person für einen privaten Facebookpost eine Strafe von 15.000 Dollar erhielt. Die Person behauptete in diesem Post, die Regierung Singapurs sei "klagefreudig" und habe ein "biegsames Justizsystem". Wham wurde inzwischen erneut angeklagt. Diesmal, weil er ein Pappschild mit einem Smiley in der Öffentlichkeit gezeigt hat.

Schlussgedanken

Seit Jahren beobachten wir ein weltweites Aufbäumen einer äußerst perfiden, weil kaum zu greifenden Art des Autoritarismus. Diejenigen, die diesen Autoritarismus vertreten, scheinen jede Zurechnungsfähigkeit vermissen zu lassen. Wenn gewählte Staatspräsidenten nicht nur die Existenz einer Pandemie leugnen, sondern ihre Bevölkerung implizit eben dieser Pandemie anheimfallen zu lassen versuchen, dann wirft das für die Wahrung der Menschenrechte existenzielle Fragen auf.

Diesen Akteuren, denen kein Kollateralschaden unannehmbar scheint, geben wir nun obendrein auch noch die Werkzeuge, um unser gesamtes digitales Leben zu kartografieren. Das Netz als Zufluchtsort für demokratische Opposition, Regimekritik und organisierten Widerstand gegen übergriffige Regierungen war noch nie in derartiger Gefahr.

Covid-19 wirkt als universeller Brandbeschleuniger und gleichzeitig als individueller Bremsklotz. Gerade, weil jede Nation zu beschäftigt ist für einen Blick über den "Grenze" genannten Tellerrand, haben es autoritäre Kräfte leichter als üblich. Sie sind schlicht weniger prüfenden Blicken ausgesetzt. 

Die Weltgemeinschaft darf nicht zulassen, dass ein Keil zwischen sie getrieben wird. Die Herausforderungen der Zukunft, nämlich Covid-19 und andere Pandemien, den Klimawandel, den steigenden Bedarf an Energie und den schwindenden solchen an menschlicher Arbeit und die große Frage, in wessen Hände die Überwachungsalgorithmen gehören, löst keine Nation alleine.

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