Kölner Missbrauchsgutachten

"Das war keine Aufarbeitung"

Gestern wurde das lang erwartete Gutachten zum Umgang mit Missbrauchsfällen im Erzbistum Köln im Rahmen einer Pressekonferenz vorgestellt. Im Anschluss enthob Kardinal Rainer Maria Woelki zwei Amtsträger mit sofortiger Wirkung ihrer Aufgaben. Den Betroffenen reicht das nicht, ihren Forderungen wird diese Form der Aufarbeitung nicht gerecht.

Mit Spannung war die Vorstellung des zweiten Kölner Missbrauchsgutachtens erwartet worden, auf das der Erzbischof gebetsmühlenartig verwiesen hatte, nachdem er ein erstes nicht veröffentlichen wollte. Gestern um 10 Uhr war es dann so weit, die beiden Strafrechtsanwälte Prof. Dr. Björn Gercke und Dr. Kerstin Stirner stellten unter enormem medialem Interesse in einer knapp zweistündigen Pressekonferenz das Gutachten mit dem sperrigen Namen "Pflichtverletzungen von Diözesanverantwortlichen des Erzbistums Köln im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen und Schutzbefohlenen durch Kleriker oder sonstige pastorale Mitarbeitende des Erzbistums Köln im Zeitraum von 1975 bis 2018 – Verantwortlichkeiten, Ursachen und Handlungsempfehlungen" vor. Seit gestern, 13 Uhr, ist es auf der Website des Erzbistums Köln auch für die Allgemeinheit einsehbar.

Woelki, der nach Aussage seines Pressesprechers die Inhalte des Gutachtens an diesem Tag selbst zum ersten Mal höre, betrat zu Beginn der Pressekonferenz als Zuhörer den Raum und nahm in der ersten Reihe Platz. Über fünf Monate habe man an dem rund 800 Seiten starken Dokument gearbeitet, erläuterte Gercke, wobei der Auftrag zu seiner Erstellung wortgleich zu dem der zuerst beauftragten Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl gewesen sei. Gegenstand der Prüfung seien nicht die Missbrauchstaten selbst gewesen, betonte der Strafrechtler vorab, sondern der kirchliche Umgang mit den im Untersuchungszeitraum eingegangenen Verdachtsmeldungen. Dabei konnte nur auf das zurückgegriffen werden, was aus den Akten hervorging. Eine eigenständige Ermittlung, ob die Verdachtsmeldungen zutreffend waren, habe nicht ermittelt werden können. "Wir sind Juristen", keine Kriminologen, Historiker, Soziologen oder Theologen, stellte Gercke klar, und dass ihr Gutachten nur ein Teil der Aufarbeitung sei. "Es ist das erste veröffentlichte Gutachten eines deutschen Erzbistums mit konkret öffentlich benannten Pflichtverletzungen, konkreter, namentlich benannter Personen in dieser Reichtweite und es ist ungeschwärzt."

Grundlage für die Auswertung waren diverse schriftliche Unterlagen sowie freiwillige Interviews und Befragungen, darunter zehn Personen, bei denen Pflichtverletzungen in Betracht kamen. Betroffene und Täter wurden nicht befragt. Alle Fälle seien in Kurzform anonymisiert dargestellt, ausgehend von den vom Auftraggeber zur Verfügung gestellten 236 Akten. Das Erzbistum habe diesbezüglich eine Vollständigkeitserklärung für den untersuchten Zeitraum abgegeben. Durch aktuelle Verantwortungsträger seien demnach keine Akten(teile) vorab entfernt worden. Es hätten im Untersuchungszeitraum jedoch mindestens zweimal Aktenvernichtungen gemäß kanonischem Recht stattgefunden.

Aus den zur Verfügung gestellten Akten ergaben sich insgesamt 202 Beschuldigte und 314 Betroffene sexuellen Missbrauchs Schutzbefohlener, für die das Erzbistum zuständig war. Diese Zahlen wurden nach einigen Kriterien weiter aufgeschlüsselt: 63 Prozent der Beschuldigten waren Kleriker, die Betroffenen zu 57 Prozent männlich. Bei über der Hälfte der Opfer handelte es sich um Kinder unter 14 Jahren. Über ein Drittel der Verdachtsfälle ereignete sich bereits vor Beginn des Untersuchungszeitraums 1975. Die überwiegende Mehrheit von ihnen wurde erst nach 2010 gemeldet, als der Missbrauchsskandal an die Öffentlichkeit gelangt war.

Im Rahmen der Untersuchung seien 20 Namen von Personen, die vermutlich mit sexueller Gewalt an Minderjährigen in Zusammenhang stehen, neu aufgetaucht. Insgesamt habe man "erhebliche Mängel" im Hinblick auf Aktenführung und Organisation des Aktenbestands gefunden; darüber hinaus wurden in vielen Fällen mehrere Einzelakten geführt, die jeweils unterschiedlich benannt waren. Kardinal Joachim Meisner habe zusätzlich einen separaten Ordner mit dem Titel "Brüder im Nebel" geführt, in welchem er "geheimhaltungsbedürftige Unterlagen" (nicht nur zum Thema Missbrauch) aufbewahrte. Strafrechtsanwältin Stirner sprach von einem "Bild (…), das über viele Jahre von Chaos, subjektiv empfundener Unzuständigkeit und Missverständnissen geprägt war". Dies habe sich erst 2015 mit der Gründung der Interventionsstelle geändert.

Es stellte sich heraus, dass bei beschuldigten Laien wesentlich konsequenter und zügiger reagiert wurde als bei Klerikern. Letztere stünden in einem beamtenähnlichen Verhältnis zu ihrem Arbeitgeber und könnten im Gegensatz zu den Laien nicht einfach gekündigt werden. Insgesamt wurden 75 eindeutige Pflichtverletzungen festgestellt. Davon beim verstorbenen Kardinal Meisner 24, beim ebenfalls nicht mehr lebenden Erzbischof Joseph Höffner acht; beim amtierenden Erzbischof Woelki hätten sie dagegen keine Pflichtverletzung erkennen können. Bei den früheren Generalvikaren Norbert Feldhoff, Dominikus Schwaderlapp und Stefan Heße kamen die Gutachter auf 13, acht beziehungsweise elf Fälle von Pflichtverletzung. Offizial Günter Assenmacher hatte in zwei Fällen unzutreffende Rechtsauskünfte erteilt.

Als vermutete Ursachen aus juristischer Perspektive nannte Stirner ein unklares Normgefüge, ein fehlendes Bewusstsein der Notwendigkeit der Rechtsbefolgung und eine massive Rechtsunkenntnis der Verantwortungsträger. Zuständigkeiten seien im Erzbistum Köln weder rechtlich noch faktisch klar gewesen. Dazu sei eine Überforderung mit der Meldewelle im Jahr 2010 gekommen, Mitarbeitende seien nie beispielsweise per Fortbildung auf ihre Aufgaben vorbereitet worden, Kontrollmechanismen fehlten. "Demensprechend würden wir streng genommen nicht von systematischer Vertuschung sprechen, wohl aber von systembedingter", so Gercke.

Meist wurde bei der Vorstellung des Gutachtens Bezug auf kanonisches Recht genommen, die Kanzlei habe keine nach weltlichen Rechtsnormen strafbaren Pflichtverstöße feststellen können. Man stehe jedoch in engem Kontakt mit der Staatsanwaltschaft Köln.

Kardinal Woelki entband in einer kurzen Ansprache im Anschluss, in der er deutliche Worte fand ("das ist Vertuschung"), mit sofortiger Wirkung Assenmacher, dessen Rolle bei der Bearbeitung der Missbrauchsfälle im Zuge des Gutachtens nicht abschließend geklärt werden konnte, und Schwaderlapp (mittlerweile Weihbischof) vorläufig von ihren Aufgaben. Letzterer bat später dem Papst seinen Rücktritt an, wie auch Heße, der aktuell Erzbischof von Hamburg ist. Feldhoff kündigte am Abend an, sich aus dem Priesterrat des Erzbistums zurückzuziehen.

"Strafverteidiger haben ihrem Mandanten einen Freispruch erkämpft"

Kurz nach Beendigung dieser Pressekonferenz folgte eine zweite: das "Aktionsbündnis Betroffeneninitiativen" kommentierte die Vorstellung des Gutachtens, die die Beteiligten per Livestream mitverfolgt hatten, gegenüber der versammelten Presse auf der Kölner Domplatte, vor der Kulisse des "Hängemattenbischofs".

Pressekonferenz von Betroffeneninitiativen vor dem Kölner Dom
Die Pressekonferenz von Betroffeneninitiativen vor dem Kölner Dom stieß auf großes mediales Interesse. (Foto: © David Farago)

"Ich bin gefragt worden, ob (…) ich persönlich enttäuscht bin von dem Gutachten", begann Matthias Katsch vom Eckigen Tisch, "dazu muss ich sagen: Um enttäuscht zu sein, müsste ich mir (…) unberechtigt hohe Hoffnungen gemacht haben. Das hab' ich nicht. Ich hatte nicht große Erwartungen und insofern sind meine Erwartungen getroffen worden." Den kirchenrechtlichen Freispruch Kardinal Woelkis finde er nicht befriedigend. "Hier wurde ein in Art und Umfang klar begrenztes Auftragsgutachten abgeliefert – nach Aktenlage. (…) inszeniert wurde es aber als ein Aufarbeitungsprojekt" – "das war keine Aufarbeitung", ist er sich sicher, Aufarbeitung müsse verschiedene Dimensionen und Professionen umfassen und unabhängig sein. "Und ich glaube, die Anwälte werden mir nicht böse sein, wenn ich ihnen sage, als (…) Strafverteidiger haben sie einen tollen Job gemacht, sie haben ihrem Mandanten einen Freispruch erkämpft (…) vor dieser Versammlung von Journalistinnen und Journalisten."

Es brauche dringend eine unabhängige Aufarbeitungskommission, das Parlament sei gefordert, "denn Köln ist überall". Katsch richtete einen Appell an die Politik: "Sie haben lange genug zugehört und zugesehen, Sie haben den Betroffenen das Feld überlassen und der Presse für die Aufarbeitung und die Aufklärung, betreten Sie jetzt bitte das Spielfeld und machen Sie Ansagen, sorgen Sie dafür, dass wirklich nach elf Jahren nach Aufdeckung dieses Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche in Deutschland Aufarbeitung in Gang kommt." Denn: "Wir können uns als Gesellschaft nicht damit zufriedengeben, dass tausende von Verbrechen unaufgeklärt bleiben."

"Mir fehlen heute so ein bisschen die Worte", sagte Jens Windel, Sprecher des Betroffenenbeirats der Deutschen Bischofskonferenz. Er sprach von einer "riesengroßen Käseglocke", "die über der Kirche hing". Die "sehr freundliche Studie" triggere ihn. Auf der anderen Seite sei er froh, dass Heße benannt worden sei, der immer nach außen gesagt habe, nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt zu haben. "Wir sind ein Rechtsstaat, wir sind eine Demokratie und es kann nicht sein, dass Kirche machen kann, was sie will."

Patrick Bauer, zurückgetretener Sprecher des Betroffenenbeirats des Erzbistums Köln und Mitglied des Betroffenenbeirats der Deutschen Bischofskonferenz, zeigte sich über die von Woelki ausgesprochenen Suspendierungen "hocherfreut". Enttäuscht sei er allerdings, dass in dem vorgelegten Gutachten keinerlei moralisch-ethische Bewertung enthalten sei. "Wie kann das sein, dass eine Kirche, die solch einen hohen moralischen Anspruch hat, das einfach weglässt? Das muss jetzt folgen. Ich erhoffe mir, dass dies der Ausgangspunkt für eine echte Aufarbeitung im Erzbistum Köln ist und ich erhoffe mir, dass es endlich dazu führt, dass die Machtstrukturen innerhalb der Kirche verändert werden, hin zu einer echten geschwisterlichen Kirche. Und dass wir Betroffenen eines Tages endlich sagen können: Jetzt haben wir Frieden gemacht mit dieser Kirche, aber ich glaube, dieser Tag ist noch ganz weit weg." Er schloss mit einer Kampfansage: "Lassen Sie uns heute als Auftakt nehmen, um weiterzukämpfen. Ich stehe hier dafür mit meinen ganzen Mitbetroffenen, dass wir nicht aufhören zu kämpfen, dass wir diese Kirche nicht in Ruhe lassen, bis zu dem Tag, an dem jeder benannt ist, der Missbrauch verursacht und vertuscht hat."

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