Was immer man von Freikirchen halten mag: Es sind schillernde Glaubensgemeinschaften mit streng christlichen Heilsvorstellungen. Für die frommen und bekehrten Gläubigen ist ihre Glaubensgemeinschaft die einzig wahre christliche Heilslehre. Schilderungen von manchen Aussteigern ergeben aber das Bild von einem Glaubensgefängnis. Sie bewerten Freikirchen als Sekten, die es mit ihren Missionierungskampagnen schaffen, sich in der Öffentlichkeit als lammfromme Christen darzustellen.
Ein solcher Aussteiger ist Bernd Vogt. Der deutsche Autor wuchs in einer freikirchlichen Familie auf und wurde streng christlich erzogen. Rund 16 Jahre lang opferte er sein Leben seinem Erlöser Jesus und seiner evangelikalen Freikirche.
Freiwillig tat er es nicht, er wurde von seinen Eltern gezwungen. Und von seinem religiösen Gewissen. Denn das Gefühl von Schuld, Sühne und Strafe fraß sich in seine kindliche Seele und löste Ängste aus. Innerlich rebellierte er schon früh gegen die Zwänge, doch die Furcht, Jesus, seine Familie und die Freikirche zu verraten und zu verlieren, hielten ihn gefangen.
Deshalb dauerten der Leidensweg und der Prozess seiner religiösen Emanzipation Jahrzehnte. Mit rund 60 Jahren wagte es Bernd Vogt, seine erschütternde Lebensgeschichte aufschreiben. So entstand das Buch "Missbraucht im Namen des Herrn – Die Geschichte einer gestohlenen Kindheit in einer evangelischen Freikirche".
Seine Schilderungen gehen unter die Haut. Was seine Eltern, Pastoren und die frommen Gläubigen seiner Freikirche mit dem kleinen Bernd durchexerzierten, sind psychologische und pädagogische Todsünden. Vogt beschreibt das superfromme Leben mit einem ironischen, bisweilen leicht sarkastischen Unterton, was die mit Galgenhumor gespickten Schilderungen erträglicher machen – und ihm vermutlich die nötige Distanz verschaffen.
Erschaudern lässt einem beim Lesen die emotionale Kälte seiner Eltern, Pastoren und Prediger. Hingabe und Wärme bringt seine Mutter nur ihrem Heiland entgegen, nicht aber ihrem Sohn, wie Bernd Vogt schreibt. Auch dafür gibt's eine Rechtfertigung aus der Bibel: "Wer Sohn oder Tochter mehr liebt denn mich, der ist meiner nicht wert", sagt Jesus in Matthäus 10,37.
Die Selbstkontrolle bis tief hinein in die Gefühlswelt und ins Unbewusste wird sein Lebensmotto. Sie soll davor schützen, Sünden zu begehen und von Gott fallen gelassen zu werden. Ein weiteres Rezept sind Drohungen und Strafen. So drohen ihm seine Eltern mit der Aussage: "Wenn du erst in der Hölle bist, können wir dir auch nicht mehr helfen."
Vogts Kommentar dazu: "Ganz offensichtlich schien es für sie das Normalste von der Welt zu sein, dass ich für alle Ewigkeit in der Hölle gequält würde, während sie derweil rund um die Uhr mit Jubelgesängen vor dem Throne Gottes beschäftigt sein würden."
Jesus verfolgt jeden Schritt und jeden Gedanken
Mindestens so tragisch ist die vermeintliche Kontrolle durch Jesus selbst. Der kleine Bernd glaubt, dass der Sohn Gottes jeden Schritt verfolgt und jeden Gedanken bewertet. Für ihn gilt alles als Sünde, was nicht in das enge Glaubensschema passt. Ihm wird eingetrichtert, dass Jesus jeden Fehltritt postwendend bestraft.
Angst jagen dem kleinen Bernd auch die Geschichten von Satan ein, der überall lauere, um ihn zu verführen und von Jesus zu trennen. Nachts verfolgen ihn Alpträume und lassen ihn aufschrecken. Angstattacken sind seine ständigen Begleiter. Bernd wird niedergeschlagen und traurig. Denn bei den stundenlangen Gottesdiensten werden zudem Endzeitdrohungen an die Wand gemalt, die ebenfalls Ängste erzeugen und Anpassung, Gehorsam und Unterwerfung bewirken.
Teufelsaustreibung mit zwölf Jahren
"Bis in den kleinsten Winkel meines kleinen Körpers hatte man mich vollgepumpt mit dem Grausen vor der ewigen Verdammnis, dem Verlust meiner Eltern, Schuldgefühlen für meine Schlechtigkeit, für Jesu Kreuztod", schreibt Vogt.
Als er zwölf Jahre alt ist, kommt es zum Showdown. Bernd lässt seinen Glaubenseifer vermissen, weshalb ein Prediger bei ihm den Teufel am Werk sieht und diesen austreiben will. "Dann hat der Prediger, der noch heute auf der Kanzel steht, meinen Kopf gefasst und versucht, ihn wie eine Zitrone auszupressen. Dabei schrie er, dass der Satan aus mir fahren solle", erzählt Bernd Vogt.
Das Leiden und der Freiheitsdrang in der Pubertät geben ihm die Kraft zur Rebellion. Mit 16 verweigert er sich seinen Eltern und dem Pastor. Nun wird er wie ein Aussätziger behandelt.
Die Freiheit wird zum Alptraum
Doch die ersehnte Freiheit wird für Bernd Vogt zum Alptraum. Die Dogmen und Ängste haben sich in seine Seele gefressen. Wie alle Missbrauchsopfer entwickelt er Gewissensbisse und Schuldgefühle. Er sucht die Schuld für seine Unfähigkeit, sich Gott hinzugeben, bei sich. Bernd Vogt entwickelt psychosomatische Beschwerden, der Körper reagiert heftig auf seine seelische Not. So wird er Dauerpatient bei verschiedenen Ärzten und erkrankt schließlich an Krebs. Für seine Eltern, seinen Bruder und den Pastor markieren die Krankheiten die prophezeite Strafe Gottes.
Als er am Ende seiner Kräfte ist, kriecht er mit 30 Jahren zu Kreuze. Die Freikirche nimmt ihn mit offenen Armen auf. Für sie und seine Eltern ist es der Beweis der Gnade Gottes, der ihre Gebete erhört und den verlorenen Sohn zurück in den Schoß der Gemeinde geführt hat.
Das religiöse Gefühlschaos bricht wieder auf
Doch nach seiner erneuten Bekehrung bricht das religiöse Gefühlschaos wieder auf. Nach einem weiteren inneren Kampf ergreift er erneut die Flucht. Doch die Zwänge und Ängste bleiben an ihm kleben, zu den körperlichen Beschwerden gesellt sich noch eine Depression.
Nach einer Odyssee durch Therapiepraxen stößt er endlich auf einen Psychotherapeuten, der versteht, dass er unter einer ekklesiogenen Depression leidet. Bernd Vogt erkennt, dass er Opfer einer radikalen Indoktrination geworden ist. Dann beginnt ein jahrelanger Emanzipationsprozess, der in das Schreiben des Buches mündet.
Wer erfahren will, wie Sekten funktionieren und Menschen zerstören können, sollte das eindringliche Buch von Bernd Vogt lesen.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.
Bernd Vogt, Missbraucht im Namen des Herrn – Die Geschichte einer gestohlenen Kindheit in einer Evangelischen Freikirche, BoD, Paperback, 280 Seiten, 10,99 Euro
27 Kommentare
Kommentare
A.S. am Permanenter Link
Bei weitem nicht so extrem aber prinzipiell genau so sind meine Erfahrungen im katholischen Milieu. Mein Exit aus der Kirche begann mit ca. 20 Jahren. Nach rd.
Ich kann jene Humanisten nicht verstehen, die in Religion etwas Gutes sehen.
Ich verstehe auch nicht, wieso in unserer Gesellschaft nicht erkannt wird, dass wir als Kinder von unseren Familien und dem Staat (Religionsunterricht) in die Religion gepresst werden.
Das ganze Getue von Nächstenliebe und Barmherzigkeit entlarvt sich in dem Moment als Fassade, in dem jemand aus der Glaubensgemeinschaft austreten will. Den Abtrünnigen begegnet die Gemeinschaft mit aller Härte, die der weltliche Staat zulässt.
In vielen muslimischen Ländern ist sogar der Mord an Apostaten erlaubt.
Danke an Herrn Vogt für das Buch und Danke an Herrn Stamm für die Rezension.
Hans Trutnau am Permanenter Link
"Ich verstehe auch nicht ..." - da, liebe Anja, sitzt die über Jahrhunderte geübte und optimierte Indoktrination u.U. halt ein Leben lang, wird ein unverrückbarer Teil des Lebens.
A.S. am Permanenter Link
Lieber Hans, meine Selbstbefreiung aus der Religion, die Befreiung meines Denkens empfand ich als wohltuend, geradezu als Erleuchtung - bis ich anfing, über die politischen Strukturen in Deutschland nachzudenken.
Die von den Kirchen vorangetriebene Islamisierung Deutschlands werte ich vor diesem Hintergrund als einen Schachzug gegen die Aufklärung. Zu dumm, dass die Linken den Kirchen dabei auch noch helfen.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Ja, Anja, die beiden erwähnten Bücher von Carsten Frerk sind eine unbedingte Empfehlung!
Aber die "von den Kirchen vorangetriebene Islamisierung Deutschlands" würde ich nicht zu hoch hängen. Ich werte das eher als ein Bemühen der Kirchen, die eigenen Pfründe zu wahren (nach dem Motto: 'Gebt auch den Anderen, was uns zusteht'). Und sobald das (vllt. in Form neuer Konkordate) geschafft ist, evtl. sogar schon früher, werden die Unterstützung der Islamisierung Schnee von gestern sein und die altbekannten Rivalitäten wieder aufbrechen.
Kurz - ich bin da recht entspannt; auch deshalb, weil ich das Resultat wohl nicht mehr erleben werde. Das ist ja eine Mehrgenerationenaufgabe.
A.S. am Permanenter Link
Lieber Hans, Du hast schon recht, die alten Rivalitäten werden bald wieder aufbrechen. Schließlich kämpfen die verschiedenen religiösen Gruppen um die "Ressource Mensch", die Ressource "Gläubige".
Hirten lieben ihre Tiere nicht, sie halten sie gefangen um sie auszubeuten und eines Tages aufzufressen. Von wegen "gute Hirten".
Hans Trutnau am Permanenter Link
Liebe Anja, da fällt mir sofort das irre gute Buch von Chritopher Hitchens ein: "Der Herr ist kein Hirte". Ein MUSS, falls du es noch nicht kennst.
Gustav Hohlbein am Permanenter Link
Danke für die Info, das ist genau was ich brauche...ich trete in so eine Freikirche ein
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Na dann viel Spass dabei.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Bereits *jede* frühkindliche Indoktrination ist: Missbrauch!
Nicht zu vergessen - auch RKK und EKD sind nichts als Sekten:
Groß-Sekten von Staats wegen.
Da bin ich lieber Aussätziger.
Roland Fakler am Permanenter Link
Das gewährt einen tiefen Einblick in das religiöse Irrenhaus.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Lieber Roland, leider ist das kein Irrenhaus, die Pfaffen wissen genau was sie tun und welche Absichten dahinter stecken.
Wie man weltweit sieht, funktioniert dieses perfide System bestens.
Roland Fakler am Permanenter Link
@Gerhard Wenn es kein Irrenhaus ist, lieber Gerhard, und wirklich böse Absicht dahintersteckt, ist das umso krimineller. Ich möchte aber nicht allen diese kriminelle Absicht unterstellen, denn die Täter, d.h.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
So gesehen muss ich dir Recht geben, nichts desto Trotz hat jeder Mensch das Recht und die Fähigkeit alles zu hinterfragen, zumal wenn dessen Verhalten ständig kritisiert wird.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Buch ist bestellt !
Angelika Wedekind am Permanenter Link
Der Staat muss endlich dafür sorgen, dass die Evolution in der Schule von Klasse 1 an als Unterrichtsfach fest verankert wird.
Christian Meißner am Permanenter Link
Die Schule soll die Kinder "zu gesunden Menschen erziehen"?
Angelika Wedekind am Permanenter Link
Ach, der Christian.... ja wenn man wie immer etwas missverstehen will..China ist ein Horrorstaat.
Christian Meißner am Permanenter Link
Schön, dass wir uns in Bezug auf den Kommunismus einig sind. Wir kennen uns ja auch viel zu gut, um uns misszuverstehen!
Christian Meißner am Permanenter Link
Nachtrag: Eine solche Erziehung führt deswegen in die Unfreiheit, weil hier Erkenntnis, welche laut dem Popperschen Falsifikationismus stets vorläufigen Charakter hat, mittels einer Machtposition gesellschaftliche Gel
Christian Meißner am Permanenter Link
Nachtrag 2: Bei jeder Theorie geht es letztendlich nicht um ihren absoluten Wahrheitsgehalt, sondern um die Frage, ob sie uns zur Erklärung der Welt weiterhilft und somit unsere realen Probleme löst.
Die Evolutionstheorie löst im Moment viele unserer Probleme. Es kann aber theoretisch der Moment kommen, wo sie das nicht mehr tut, und wir infolgedessen die Theorie ergänzen, modifizieren oder gar verwerfen müssen.
Für diesen Fall ist es wichtig, eine kritisch-rationale Geisteshaltung beizubehalten und sich seinen vermeintlichen Gewissheiten eben nicht zu gewiss zu sein.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Das ist Religion wie sie leibt und lebt, so zerstört man Kinderseelen und produziert
kranke Seelenkrüppel.
Frei kann man nur ohne Religionen sein, oder werden, frei von Indoktrination, frei von Gewissensbissen, frei von Schuldgefühlen, frei von Bevormundung, frei von Ängsten, frei von Scham, eben frei von allem was einen unnötig belastet.
anne nerede am Permanenter Link
Was ist jetzt der Unterschied zwischen Sekten und Sekten?
Hans Trutnau am Permanenter Link
Keiner, anne; egal, ob kleine oder große Sekte. Im Prinzip alles dieselbe klerikale Kackscheiße.
Thomas Neumann am Permanenter Link
Hier im Deutschen haben wir leider nur ein Wort (Sekte) wofür es im Englischen zwei gibt:
Sect = Abspaltung von einer Glaubensgemeinschaft
Klaus Bernd am Permanenter Link
"Wer Sohn oder Tochter mehr liebt denn mich, der ist meiner nicht wert", sagt Jesus in Matthäus 10,37.
Lebendiges Wort Gottes ! Siehe auch Beitrag über den Priestersohn Kucharski.
„Angst jagen dem kleinen Bernd auch die Geschichten von Satan ein, der überall lauere, um ihn zu verführen und von Jesus zu trennen.“
Der Papst warnte kürzlich vor der „Verrückten im Haus“, die einen selbst beim Gebet heimsuche.:„Die heilige Teresa (von Avila) nannte diese sich ständig während des Gebets weiterdrehende Phantasie die 'Verrückte im Haus' (la loca de la casa). Das ist wie eine Verrückte, die dich dazu bringt, dich ständig zu drehen…““
Teufelsaustreibung:
vatican news 22 Oktober 2020, 10:53 : Italien: Exorzisten-Kurs wegen Corona-Pandemie abgesagt
„dass er unter einer ekklesiogenen Depression leidet“
So mancher Ex-Katholik kennt das auch.
Udo Endruscheit am Permanenter Link
"Wer Sohn oder Tochter mehr liebt denn mich, der ist meiner nicht wert" - wer diesen inhumanen Jesus-Spruch (der ja eh nicht mal authentisch sein dürfte) zum Prinzip seines persönlichen Handelns macht, tritt
Solche Dinge, die Kastration von Autonomie und Menschenwürde durch die sogenannten Glaubensinhalte, haben mich vor Jahrzehnten zum Kirchenaustritt bewogen, nicht die Kirchensteuer (und die Aufdeckung der Missbrauchsskandale lag damals noch in weiter Ferne). Und ich denke, das ist bei sehr vielen noch heute der Fall.
Roland Fakler am Permanenter Link
Lukas 14:26 „So jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigen Leben, der kann nicht mein Jünger sein.“ Das ist einer der Gründe, weshalb ich nicht sei