Rezension

Nicht nur ein Frauenthema, sondern ein gesellschaftliches Freiheitsrecht

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Dr. med. Alicia Baier bei der Vorstellung des Buches
Dr. med. Alicia Baier

In ihrem Buch "Das Patriarchat im Uterus" zeigt Dr. med. Alicia Baier, wie tief patriarchale Strukturen in Medizin, Politik und Recht verankert sind – und warum das Recht auf körperliche Selbstbestimmung kein Nischenthema, sondern ein Prüfstein für unsere Demokratie ist.

Baier legt mit "Das Patriarchat im Uterus" ein ebenso mutiges wie kluges Buch vor. Als angehende Gynäkologin und Mitgründerin von Doctors for Choice Germany verbindet sie persönliche Erfahrung, medizinische Expertise und politisches Bewusstsein zu einer eindringlichen Analyse über Macht, Körper und Selbstbestimmung. Ihr Ausgangspunkt ist klar: Der Schwangerschaftsabbruch ist kein moralisches Problem – sondern eine Frage der Menschenrechte und reproduktiven Gerechtigkeit.

Teil I – Politik und Macht

Alicia Baier zeichnet die lange Geschichte der Entmündigung ungewollt Schwangerer nach. Sie zeigt, wie über Jahrhunderte hinweg religiöse, rechtliche und politische Institutionen das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper eingeschränkt und kontrolliert haben. Dabei spannt sie den Bogen von den frühen Protestbewegungen über weitere Wellen des Widerstands bis hin zur aktuellen politischen Debatte um den Paragrafen 218 StGB. Besonders spannend ist ihre Schilderung des jüngsten "politischen Krimis". Sie beschreibt die vertane historische Chance, den Schwangerschaftsabbruch endlich zu entkriminalisieren – und was dieser Rückschritt über das Machtgefüge zwischen Staat, Kirche und Körper aussagt.

Buchcover

Sie analysiert messerscharf, wie vorgeschobener "Lebensschutz" und die Instrumentalisierung des Embryos dazu dienen, Kontrolle über Frauenkörper aufrechtzuerhalten. Sie benennt das Erzwungene, die Pflicht zur Geburt, die Erwartung der Selbstaufgabe, als das, was es ist: eine Form struktureller Gewalt. Besonders eindrucksvoll ist, wie sie die Strategien der Anti-Choice-Bewegung beleuchtet, die längst nicht nur religiös motiviert ist, sondern zunehmend von rechtspopulistischen Kräften getragen wird.

Teil II – Medizin und Alltag

Im zweiten Teil wechselt Baier die Perspektive. Hier tauchen die Leser:innen tief ein in die Praxis und Lebensrealität von ungewollt Schwangeren, Ärzt:innen, Aktivist:innen und Lobbyist:innen. Sie nimmt uns mit in die konkreten Situationen, in denen Betroffene unter den bestehenden gesetzlichen und gesellschaftlichen Einschränkungen Wege suchen müssen, mit einer ungewollten Schwangerschaft und ihrem Abbruch zurechtzukommen.

Sie beschreibt eindringlich die schlechte Versorgungslage, die unzureichende Zahl an Ärzt:innen, die Abbrüche durchführen, und die bürokratischen und moralischen Hürden, die den Zugang zusätzlich erschweren. Besonders aufschlussreich ist ihr Blick auf die Beratungsregelung, die vorschreibt, dass der Abbruch nur bis zur 14. Woche nach dem ersten Tag der letzten Menstruation straffrei ist. Der frühe Schwangerschaftsabbruch nach Beratung – der häufigste Fall – wird durch starre Zeitvorgaben und eine Beratungspflicht unnötig erschwert. Die Autorin zeigt, warum viele Frauen es trotz klarer Entscheidung nicht schaffen, innerhalb dieser Fristen einen Abbruch durchführen zu lassen, und warum der Weg in die Niederlande für manche dann auch heutzutage noch der letzte Ausweg bleibt.

Einen besonderen Fokus legt Baier auf die Situation nach der 14. Woche nach dem ersten Tag der letzten Menstruation, wenn ein Abbruch nur noch bei medizinischer Indikation erlaubt ist. Hier gewährt sie einen tiefen Einblick in das Spießrutenlaufen, das Betroffene erleben: die zermürbende Suche nach Ärzt:innen, die bereit sind, eine Indikation zu stellen, die anschließende Odyssee, um eine Klinik zu finden, die den Eingriff überhaupt vornimmt. Sie zeigt, dass hier nicht nur medizinische, sondern vor allem gesellschaftliche und institutionelle Barrieren wirken. Und sie bleibt nicht bei der Analyse stehen, sie macht sichtbar, wie es besser gehen könnte.

Dr. med. Alicia Baier
Dr. med. Alicia Baier bei der Vorstellung des Buches, Foto: privat

Mit beeindruckender Klarheit steigt sie tief in die Ursachen dieser Missstände ein, von den hartnäckigen Abtreibungsmythen über Tabus in der medizinischen Ausbildung bis zu strukturellen Defiziten in der ärztlichen Weiterbildung. Sie schildert die Entstehung ihrer eigenen Initiative, der ersten deutschen Hochschulgruppe Medical Students for Choice, und erklärt, wie daraus ein Netzwerk von Ärzt:innen entstand, die mit Papaya-Kursen praxisnah und enttabuisiert lehren, was an deutschen Universitäten noch immer zu kurz kommt.

Das Buch endet mit einem eindrucksvollen Blick auf die Stigmatisierung von Ärzt:innen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Baier beschreibt den täglichen Kampf mit der Bürokratie, einem Arzneimittelgesetz, das medikamentöse Abbrüche unnötig erschwert, und die Anfeindungen durch Abtreibungsgegner:innen, denen viele Mediziner:innen ausgesetzt sind. Ihre Schilderungen sind dabei sachlich, aber nie distanziert. Sie geben denjenigen eine Stimme, die sonst kaum gehört werden.

Ein unverzichtbares Buch

"Das Patriarchat im Uterus" ist ein unverzichtbares Buch für alle, die sich für Menschenrechte, reproduktive Selbstbestimmung und eine säkulare Gesellschaft einsetzen, in der Ethik nicht aus Dogmen, sondern aus Mitgefühl und Vernunft entsteht. Es spricht Ärzt:innen, Aktivist:innen, politisch Interessierte und alle an, die verstehen wollen, warum das Recht auf Abbruch nicht nur ein Frauenthema, sondern ein gesellschaftliches Freiheitsrecht ist.

Und wer bis zum Ende liest, wird im Epilog mit einer utopischen Schlussszene belohnt: Baier blickt darin über die Gegenwart hinaus – mit einer hoffnungsvollen, fast visionären Perspektive auf eine Zukunft, in der Körperautonomie keine Forderung mehr sein muss, sondern selbstverständlich geworden ist.

Ein Buch, das informiert, aufrüttelt, inspiriert – und Mut macht, weiterzudenken.

Dr. med. Alicia Baier, Das Patriarchat im Uterus, Droemer 2025, 22 Euro, 352 Seiten, ISBN: 978-3-426-56609-1

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