Und wieder haben wir dieselben Fehler gemacht: Während wir de facto regierungslos durch die vierte Welle einer Jahrhundert-Pandemie schleudern, kann man beobachten, wie gut das mit der Eigenverantwortung funktioniert – ein falsch verstandener Freiheitsbegriff und einseitiges kritisches Hinterfragen haben uns in eine Lage gebracht, die schlimmer ist als je zuvor und noch immer massiv unterschätzt wird. Die persönliche Frustration ist enorm.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich finde die aktuelle Pandemie-Lage wesentlich schwerer zu ertragen als alle bisherigen. Wir haben schon eine lange Corona-Geschichte hinter uns und immer hatten wir neue Hoffnungen, die dann nicht das erfüllten, was wir erwartet hatten. Da waren die Masken und der Gedanke, wenn alle Masken trügen, könnten wir ja wieder alles machen. Da waren Tests verbunden mit der Erwartung, dass wenn sich nur jeder testet, sollte ja das Leben wieder möglich sein. Da war die Impfung, die sich alle vernünftig denkenden Menschen herbeisehnten und die einem nach der Verabreichung eine kurze Phase der Unbeschwertheit bescherte, an die man jetzt schon wieder nostalgisch zurückdenkt wie an die guten alten Zeiten. Und dann das Nicht-für-möglich-Gehaltene: So viele Menschen mit einem falsch verstandenen Freiheitsbegriff hielten es für klüger, das Impfangebot nicht anzunehmen, sodass wir auf einmal wieder da stehen, wo wir nie wieder hin wollten: bei hohen Inzidenzzahlen und volllaufenden Intensivstationen.
Dank einer Politik, die auch nach fast zwei Jahren Pandemie-Management noch nicht verstanden hat, wie wichtig vorausschauendes Handeln ist, dass es nicht reicht, nachzusteuern, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Oder schlimmer noch: die das Management einer Jahrhundert-Pandemie im einen Fall nicht mehr als ihren Zuständigkeitsbereich begreift und im anderen Wichtigeres zu tun zu haben glaubt. Wir haben es geschafft, trotz Impfung schlechter dazustehen als je zuvor. Und einmal mehr kann man nicht das Versprechen einlösen, das man sich vor bald zwei Jahren gegeben hat: "Das ist nur vorübergehend, das muss jetzt sein und geht vorbei. Das Leben wird weitergehen." – Nun muss man wieder Treffen absagen, sich von Plänen, auf die man sich gefreut hatte, verabschieden – obwohl es diesmal vermeidbar gewesen wäre. Und das empfinde ich als zutiefst frustrierend und es macht mich unglaublich wütend.
Ein Lockdown wäre längst überfällig, derzeit haben wir die von Maßnahmenskeptikern beschworene Eigenverantwortung als maßgebliche Handlungskomponente. Es scheint nur so, dass Menschen nicht in der Lage sind, die bedrohliche Situation richtig einzuschätzen, solange keine vorgegebenen Beschränkungen existieren. Das verzweifelte Flehen Lothar Wielers, dass "jeder alle Kontakte so weit einschränkt, wie es eben möglich ist", verhallt. Da wird halt trotzdem gemacht, was man so macht, wird schon nix passieren. Ist ja nicht verboten. Und irgendwann ist ja auch mal genug, man hat jetzt keine Lust mehr, sich einzuschränken. Und einen selbst wird es ja vermutlich nicht schwer treffen. Die gleiche egoistische Haltung, die uns überhaupt erst in diese Situation gebracht hat. Die Menschen scheinen mit dieser Eigenverantwortung angesichts einer solchen Notsituation, wie sie Christian Drosten im Corona-Virus-Update nannte, überfordert zu sein.
Gleichzeitig herrscht die Meinung vor, jeder verfüge über genug Sachverstand, eine epidemische Lage von nationaler Tragweite – und doch, das ist sie, auch wenn sie heute formal für beendet erklärt wird – selbst einzuordnen. Jeder mit Internetanschluss hält sich für kompetent genug, die Sicherheit von Impfstoffen und die Validität von Daten selbst zu beurteilen. Was ich mir angesichts dessen wünschen würde ist: etwas Demut. Demut vor der Sachkompetenz anderer und die Bewusstmachung der eigenen Fehlbarkeit. Das sind jetzt zwei unglücklicherweise religiös aufgeladene Begriffe, die ich aber nicht so verstanden wissen will. Es geht ganz einfach darum, dass es einen Grund hat, dass es Berufe gibt. Für die man eine Ausbildung absolvieren muss. Dass es einen Unterschied macht in meiner Aussagefähigkeit über medizinische Sachverhalte, ob ich Medizin studiert habe oder eben nicht. Dass es einen Grund gibt, warum auch Statistik ein eigenes Studienfach ist. Stattdessen erleben wir überall falsch verstandenes "kritisches Hinterfragen", das oftmals die Minderheitenposition per se als wahr erachtet, nur aufgrund ihres Außenseiterstatus'. Da greift man lieber zur Pferdewurmkur als zur Impfung, weil man seriösen Zulassungsverfahren misstraut und dafür lieber ungeprüfte Ratschläge unqualifizierter Personen annimmt, die weit weniger kritisch hinterfragt werden.
Vor diesem Hintergrund scheint der einzige Ausweg eine Impfpflicht zu sein, die man jetzt anfängt, zu debattieren. Und siehe da: erste Einschätzungen haben ergeben, dass sie mit dem Grundgesetz vereinbar wäre. Damit wir nicht in einem pandemischen Perpetuum mobile hängen bleiben, weil zu viele Menschen ihre Trotzphase nicht abgeschlossen haben. Winfried Kretschmann, Ministerpräsident des Querdenker-Epizentrums Baden-Württemberg, drückte es in der FAZ so aus: "Eine Impfpflicht ist kein Verstoß gegen die Freiheitsrechte. Vielmehr ist sie die Voraussetzung dafür, dass wir unsere Freiheit zurückgewinnen."
22 Kommentare
Kommentare
A.K. am Permanenter Link
Wenn nach diesem Winter jeder entweder geimpft, genesen oder gestorben ist, wie Jens Spahn behauptet, dann brauchen wir selbstverständlich noch die Impfpflicht für alle.
Da das Durchimpfen der Impfgegner (neben den Boostern der bisher Geimpften) allerdings aus logistischen Gründen ein paar Monate dauern wird, brauchen wir jetzt die neuen Impfstoffe für die neuen Virus-Varianten, die im April und Oktober 2022 auftreten werden.
Wir müssen jetzt endlich alle impfen. Egal womit, egal wogegen!
Hans Trutnau am Permanenter Link
Die Autorin betreibt m.E. noch wüstere Panikmache als Spahn (der das 4.
Klaus Kress am Permanenter Link
"Eine Impfpflicht ist kein Verstoß gegen die Freiheitsrechte.
Ulrich Körner am Permanenter Link
Das hohe Gut der individuellen Freiheit offenbart auch das Ausmaß der individuellen Blödheit.
Antimodes am Permanenter Link
Ich habe mich zusammengerissen. Ich habe den erlaubten Rahmen nicht ausgeschöpft. Ich habe gewartet, bis wir eine Lösung gefunden haben.
Nun ist Winter und offensichtlich, dass es nicht an Technik und Wissen mangelt sondern an Einsicht.
Ich habe keine Lust mehr. Ich habe keine Empathie mehr. Ich sehe, dass wir einen Lockdown brauchen, um unnötig viele Tote zu verhindern, aber es ist mir fast egal. Es stört mich, dass notwendige Behandlungen nicht stattfinden. Das ungeimpfte Realitätsverweigerer in den Intensivstationen unter einem knirschenden Gesundheitssystem ihre letzten Atemzüge röcheln ist mir fast schon egal. Nein, in meinem Freiheitsbegriff eingepreist.
Wer nicht will muss entweder zur Impfung gezwungen werden, wie wir auch Gurtflicht und Heroinverbot gegen den Willen und für den Schutz Betroffener durchsetzen.
Oder wir lassen sterben, wer keine Lust hat. Die weitaus hässlichere Option, der ich nicht einmal die Abschreckung zutraue, die sie beinhalten sollte.
Die Pocken waren grausam. Und selbst da reichte die Vernunft nicht. Warum sollte es heute anders sein? Wir könnten es alle besser wissen, aber manche haben einfach keine Lust. Ich auch nicht.
Manfred H. am Permanenter Link
Mir geht es genauso. Ich habe auch keine Lust mehr.
Ich wünsche mir eine klare Triage-Regelung mit absolutem Vorrang für Geimpfte und dann Augen zu und durch.
Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.
David Z am Permanenter Link
Mit welcher Begründung, Herr H?
Glücklicherweise haben unsere Ärzte kein derart eingeschränktes Verständnis von Ethik.
Manfred H. am Permanenter Link
Weil ich keine Schmarotzer mag.
Glücklicherweise läuft es in der Praxis vermutlich auch bei uns derart: "Wenn ich zwei Covid-Patienten in einer ähnlichen Ausgangslage habe und nur einer ist geimpft, dann würde ich dem geimpften Patienten das Bett geben, weil wir wissen, dass die Impfung die Überlebenschance erhöht
und Nicht-Geimpfte schwerer krank sind.", sagt Frau Friesenecker.
David Z am Permanenter Link
Interessante Begründung. Immer wieder interessant zu sehen, wie willkürlich die ihren sind: Bei Migration, die zu einem grossen Teil durch die finanziellen Vorteile der westl.
Die Argumentation von Frau Frieseacker ist trivial. Bei einer Triage, die eine med. Bevorzugung notwendig macht, wird die Person ausgewählt, die die höhere Überlebensfähigkeit hat. Das kann, muss aber nicht mit dem Impfstatus zusammenhängen.
Denn die Entscheidung ist keine moralische sondern eine spezifisch medizinische.
Angelika Wedekind am Permanenter Link
Verpflichtende Impfungen ja! Sofort ! Das erwarte ich von der neuen Koalition. Und wenn das immer noch nicht reicht, sollte sogar ein Impfzwang möglich sein bei einer Pandemie.
Bernd am Permanenter Link
"Wir haben es geschafft, trotz Impfung schlechter dazustehen als je zuvor."
Komisch das Afrika fast ohne Impfungen besser dasteht. Vielleicht klappt das "Wunder" von Afrika bei uns ja auch.
https://www.spiegel.de/ausland/hohe-durchseuchung-und-niedrige-sterblichkeit-in-afrika-a-5b16ecd0-1803-4659-8405-3696c0ef55cb
Petra Pausch am Permanenter Link
Ja, ist wirklich komisch.
Hinterfrager am Permanenter Link
@Bernd Glaube ich nicht, da wir geografisch im Norden uns befinden und wir demzufolge aktuell Winter haben. Aktuell gibt es keine UVB-Strahlung bei uns, demzufolge keine Cholecalciferol-Produktion der Haut.
Fredrit Beman am Permanenter Link
Der "falsch verstandene Freiheitsbegriff" darf auch nicht dazu führen, dass sich Ärzte und Ärztinnen weigern könnten, zu impfen.
a.s. am Permanenter Link
Mir scheint, dass mit der Schuldzuweisung an die Impfverweigerer die Regierung von ihrem eigenen Mißmanagement ablenken will. Nicht die Regierung habe versagt, sondern das dumme, unbelehrbare Volk.
Was ich von meinen Mitmenschen erwarte, ist verantwortliches Handeln. Eine Impfverweigerung in Kombination mit konsequenter Selbstisolation ist für mich akzeptabel. Impfverweigerung in Kombination mit hochfrequenter Testung und ggf. Einhaltung von Quarantäne ebenso.
Im Gegenzug halte ich es für unverantwortliches Regierungshandeln, trotz zahlreicher Impfdurchbrüche bei Doppeltgeimpften so zu tun, als gäbe es bei Geimpften kein Gefährdungspotential (2G darf alles). Wegen der Impfdurchbrüche müssten zumindest in kritischen Bereichen (u.a. Altenpflege) ALLE getestet werden.
René am Permanenter Link
>> Was ich von meinen Mitmenschen erwarte, ist verantwortliches Handeln. Eine Impfverweigerung in Kombination mit konsequenter Selbstisolation ist für mich akzeptabel.
Das ist aber nicht das, was im Alltag der meisten Impfverweigerer passiert!
>> Im Gegenzug halte ich es für unverantwortliches Regierungshandeln, trotz zahlreicher Impfdurchbrüche bei Doppeltgeimpften so zu tun, als gäbe es bei Geimpften kein Gefährdungspotential (2G darf alles).
Das ist doch mittlerweile auch überhaupt nicht mehr der Fall. Schau Dir doch mal die aktuellen Verordnungen im Detail an.
>> Wegen der Impfdurchbrüche müssten zumindest in kritischen Bereichen (u.a. Altenpflege) ALLE getestet werden.
Das wird doch auch getan. Wenn man nicht weiß, wie die Situation in der Praxis tatsächlich aussieht, ...
Thomas Baader am Permanenter Link
Ist es wirklich ein falsch verstandener Freiheitsbegriff? Freiheit ist auch immer die Freiheit zu scheitern. Das war sie auch schon immer.
Manfred H. am Permanenter Link
"Wer sich nicht impfen lässt, der verhält sich unsolidarisch. Gegenüber den Mitmenschen, aber auch gegenüber dem medizinischen Personal.
https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-11/triage-corona-intensivmedizinerin-barbara-friesenecker/komplettansicht
David Z am Permanenter Link
Erschöpft? Kein Wunder, wenn die Krankenhäuser dieses Jahr sogar weniger (!) Kapazitäten zur Verfügung haben als letztes Jahr. Frau Friesenecker sollte vielleicht mal über den Tellerrand schauen.
René am Permanenter Link
>> [...] wenn die Krankenhäuser dieses Jahr sogar weniger (!) Kapazitäten zur Verfügung haben als letztes Jahr [...]
Immer wieder das gleiche Gelaber. Könnte es vielleicht auch sein, dass die Zahlen (falls es die überhaupt so gibt!) nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass (erschöpftes) Personal aufgibt oder durch Krankheit ausfällt?
David Z am Permanenter Link
Selbstverständlich könnte das sein. Dann bliebe der Sachverhalt aber immer noch ein politisches management-Versagen.
Warum Sie dieses Faktum als "Gelaber" abtun, will mir nicht einleuchten.
Manfred H. am Permanenter Link
Aus derselben Quelle:
"Die Politik hat im Sommer wahrscheinlich gedacht: Wir schenken den Leuten Normalität, das kommt gut an, und alle Warnungen der Experten vor dem Herbst ignoriert. Als jemand, der an vorderster Front gegen diese Pandemie kämpft, fühle ich mich von der Politik verraten."
https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-11/triage-corona-intensivmedizinerin-barbara-friesenecker/komplettansicht