Das Bekanntwerden von Missbrauchsfällen in der Münchner Erzdiözese durch das kürzlich veröffentliche Missbrauchsgutachten sowie die träge und häufig fadenscheinige interne Aufarbeitung der Fälle durch die katholische Kirche treibt die Austrittszahlen in Bayern auf einen Rekordwert. Wie andere Städte zuvor gerät nun auch die bayerische Landeshauptstadt mit ihren Kapazitäten zur Bearbeitung entsprechender Anliegen an ihre Grenzen. Besonders die dem Namen nach "christlichen" Parteien tragen in diesem Kontext ungewollt zu weiterem Unverständnis bei.
Es gibt viele gute Gründe, aus der Kirche auszutreten. Von veralteten und zu langsam reformierten Strukturen über den persönlichen Unglauben bis hin zu einzelnen, konkreten Skandalen ist eine ganze Bandbreite vorhanden. Doch in Bayern ist vor allem einer für eine regelrechte Austrittswelle verantwortlich: Die Aufdeckung von mindestens 497 Missbrauchsfällen in der Erzdiözese München-Freising. Wie sich herausstellte, wurde dort Kindesmissbrauch über Jahrzehnte hinweg geduldet und vertuscht. Selbst der ehemalige Papst Benedikt XVI. war dem Gutachten zufolge daran beteiligt, indem er – damals noch Erzbischof von München und Freising – etwa den Priester Peter H. trotz einer Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs weiter als Seelsorger einsetzte. Dabei wurde fortwährend der Ruf der Kirche über die Anerkennung des Leids der Opfer gestellt. Doch diese Handhabung blieb nach Bekanntwerden nicht folgenlos.
In der ersten Januarhälfte gab es in München pro Arbeitstag etwa 80 Kirchenaustritte. Doch nach Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens am 20. Januar sind es an jedem Arbeitstag bereits bis zu 160 Menschen, die der Kirche dauerhaft den Rücken kehren. Die Kreisverwaltung geht sogar davon aus, dass noch weitaus mehr Menschen austreten möchten, nur gerade nicht gelistet werden, weil aufgrund von Personalmangel aktuell nicht mehr Austrittsgesuche bearbeitet werden können. Und das wird trotz verlängerter Öffnungszeiten und einer kurzfristigen Personalumschichtung in absehbarer Zeit auch so bleiben. Auch in anderen bayerischen Städten gab es eine Vervielfachung der Austrittszahlen. So sind in Nürnberg doppelt so viele Menschen ausgetreten wie zuvor üblich. In Ingolstadt haben sich die Zahlen verdreifacht und in Würzburg gab es sogar eine Verfünffachung im Vergleich zum selben Vorjahreszeitraum. In all diesen Städten melden die zuständigen Behörden, dass die Nachfrage nach Austrittsterminen ungebremst hoch sei.
Die Äußerungen von Teilen der Union dürften die Austrittszahlen sogar noch weiter ansteigen lassen. Der langjährige CSU-Politiker (Staatsminister a.D. in Bayern sowie ehemaliger Landtags- und Bundestagsabgeordneter) Peter Gauweiler hat die Aufklärung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen als "Missbrauch des Missbrauchs" geframt. Für die vorgeworfene damalige Vertuschung und den fahrlässigen Umgang bei der Aufarbeitung durch Joseph Ratzinger gibt es von Gauweiler keine Kritik in seine Richtung, sondern er bezeichnet ihn in diesem Zusammenhang als den "bedeutendsten lebenden Deutschen", dessen "Gegner" ihn nur aus Eigeninteresse allzu scharf angingen. Auch einige Pfarrer stimmen in diesen Tenor mit ein, indem sie von "Maulkörben" sprechen, die ihnen auferlegt worden seien. Die Wirkung solcher relativierenden Worte auf die Opfer wird dabei gänzlich ignoriert. Einige von diesen fordern die Verantwortlichen indessen auf, die Verbrechen nicht länger kleinzureden oder anderen anzulasten und verlangen, dass endlich Entschädigungszahlungen geleistet werden, die mehr als nur Almosen sein sollten.
Damit dies umfassend geschieht, ist es jedoch höchste Zeit, auch in allen anderen Bistümern und Diözesen unabhängige Gutachter:innen zu beauftragen, den Vorwürfen nachzugehen, sodass mit Opfern gesprochen sowie Zeug:innen vernommen werden können und anschließend ein weltliches Gericht urteilen kann. Dass bislang noch sehr viel unaufgearbeitet blieb, zeigen allein die Menschen, die sich in den letzten Tagen zu Wort meldeten, ebenfalls Betroffene neuer und alter Fälle zu sein. Diese Meldungen bestätigen auch die Einschätzung aus dem Gutachten zu München-Freising, wonach die Dunkelziffer als weitaus höher angenommen wird.
9 Kommentare
Kommentare
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Was erwartet man von einer Kirche, welche ihre gesamte Existenz auf einer Lüge aufbaut.
Die vor tausenden von Jahren erfundene Existenz eines Schöpfers der Welt ist in keiner
die Menschheit und auch nicht um missbrauchte Kinder, das müssen diejenigen machen,
welche erkannt haben wie verlogen der Glaube ist und wozu er benutzt wird.
Klaus Bernd am Permanenter Link
Ich denke da sehen Sie die Reihenfolge und die verantwortlichen Instanzen ganz falsch: "Damit ... und anschließend ein weltliches Gericht urteilen kann."
Von denen beauftragte Studien sind doch längstens überflüssig wie ein Kropf. Immer dieselben rhetorischen Rituale von Betroffenheit und Entschuldigung und Hinhören und Zuwendung (natürlich finanziell eher zurückhaltend) zu den Betroffenen. Was schließlich in der verlogenen Aussage gipfelt, dass man ohne diese Studie ja ganz und gar nichts gegen den Missbrauch hätte unternehmen können, und dass man erst auf der Basis dieser Studie in den nächsten Jahren Maßnahmen planen könne …
WÜRG; WÜRG … Anders kann ich das nicht mehr ausdrücken !
A.S. am Permanenter Link
Sie sehen das meines Erachtens richtig.
Die Kirche maßt sich an, zunächst selber zu entscheiden und ggf. dann an die "untergeordnete" Staatsanwaltschaft weiter zu reichen.
Die Opfer müssen direkt zur Staatsanwaltschaft gehen (können), diese muss ordentlich ermitteln, ggf. durchsuchen und anklagen, und dann kann in einem weiteren Schritt die Kirche sich überlegen, ob sie diszipilnarische Maßnahmen gegen straffällig gewordene Kirchenleute verhängt.
Martin am Permanenter Link
Die katholische Kirche hat in Bayern noch über 6.1 Millionen Mitglieder.
Die schrumpft deutlicher durch Ableben aus durch Austreten.
Christian Walther am Permanenter Link
Die Frage ist, wie die Leute, die nun aus der katholischen Kirche ausgetreten sind, weltanschaulich orientiert sind.
A.S. am Permanenter Link
Sie sprechen einen wichtigen Punkt an. Warum treten Leute wirklich aus der Kirche aus?
Richtiger dürfte sein, so meine Vermutung, dass Glaubenszweifeler sich durch Schandtaten bestätigt sehen. Die Glaubwürdigkeit der Kirche nimmt ab, die Zweifel nehmen zu.
Wer aber wegen nicht mehr verdrängbaren Glaubenszweifeln aus der einen Kirche austritt, tritt nicht in eine andere ein, auch nicht die "Kirche der Humanisten". Kirchenwechsel wäre eher zu erwarten, wenn Glaubenszweifel nicht im Spiel sind und nur das Agieren der Institution oder einzelner Kirchenvertreter stört.
Gegen die Kirche organisieren tun sich nur Leute, die richtig böse auf den Laden sind, Leute, die nicht nur ungläubig geworden sind, sondern die die Kirche durchschaut haben und als gefährlich (als zynisch, macht- und geldgierig) erkennen, die hinter die Fassade der Nächstenliebe geschaut haben.
Viele humanistische Organisationen sind politisch linkslastig. Das stört nicht wenige.
Carsten Ramsel am Permanenter Link
Die Religionssoziologie hat inzwischen eine ganz gute Antwort darauf, warum die Menschen aus der Kirche austreten.
A.S. am Permanenter Link
Das passt ja ganz gut zu meiner Vermutung.
Es bleiben die Fragen:
- Ist es persönlich notwendig, mehr zu glauben? Die Kirchen hätten das gerne, aber mMn nur aus Eigennutz.
Ich behaupte ja, die Kirchen pflegen einen institutionellen Narzissmus. Sie wären gerne wichtig.
Carsten Ramsel am Permanenter Link
Religiöse Überzeugungen und Gemeinschaften erfüllen bestimmte psychische und soziale Funktionen, die sonst von anderen weltanschaulichen Überzeugungen und Gruppenzugehörigkeiten übernommen werden.