Kommentar

Geflüchtete erster und zweiter Klasse?

Menschen, die aus der Ukraine zu uns kommen, erfahren derzeit beispiellose Solidarität und Unterstützung, sowohl auf offizieller wie privater Ebene. So begrüßenswert das ist, fragt man sich doch, warum wir dazu nun auf einmal in der Lage sind – und es 2015 nicht waren. Auch erhalten andere, noch verheerendere humanitäre Krisen auf der Welt keine vergleichbare Aufmerksamkeit, obwohl sie ihnen mindestens in gleichem Maße zustehen würde.

Bis zum Osterwochenende sind laut Angaben des Bundesinnenministeriums rund 350.000 Personen aus der Ukraine nach Deutschland geflohen. Wobei dies lediglich eine grobe Schätzung ist, denn eine systematische Erfassung der Geflüchteten erfolgt nicht. Dies liegt zum einen daran, dass Ukrainerinnen und Ukrainer visafrei nach Deutschland einreisen und sich dort bis zu 90 Tage aufhalten dürfen. Zum anderen liegt es auch am Wunsch der Politik, die Menschen aus der Ukraine mit möglichst wenig Restriktionen zu behelligen. Dem ist durchaus zuzustimmen: Personen, die vor Krieg fliehen, müssen nun wirklich nicht mit überbordender Bürokratie drangsaliert werden.

Dennoch erstaunt der Umgang mit den ukrainischen "Gästen", besonders im Vergleich mit der "Flüchtlingskrise" ab 2015. Die Geflüchteten, die zumeist 2015 und 2016 hierher kamen, wurden gemäß Königsteiner Schlüssel direkt auf die Länder verteilt, teilweise mehrfach und ohne jegliche Rücksicht auf familiäre Bindungen, die nun plötzlich von der Politik beschworen werden. Was nun wünschenswert erscheint – das Unterkommen bei Verwandten oder Bekannten – war den Geflüchteten von 2015 strikt untersagt, selbst der bloße Besuch war verboten, sofern es sich um ein anderes Bundesland handelte.

Man wundert sich schon: Was 2015 überreglementiert erschien, macht nun den Eindruck von laissez faire. Die unterschiedliche Behandlung der "alten" und "neuen" Geflüchteten spiegelt sich auch in anderen Bereichen wider: Asylverfahren? Nicht nötig. Geld vom Sozialamt? Nicht doch, Grundsicherung vom Jobcenter. Obligatorische Unterbringung in einer Erstaufnahmeeinrichtung? Fehlanzeige. Arbeitserlaubnis? Ja, sofort. Anerkennung von Bildungabschlüssen? Beschleunigt. Zugtickets? Natürlich kostenlos. Gefühlt hat inzwischen die Hälfte der Personen aus meinem Umfeld Menschen aus der Ukraine aufgenommen. Mehr als 100 Millionen Euro wurden in Deutschland bislang aus privater Hand für die Ukraine gespendet. Selbst Länder wie Polen, die 2015 noch mit Stolz verkündet haben, so gut wie keine muslimischen Flüchtlinge aufgenommen zu haben und noch bis vor zwei Monaten Geflüchtete aus dem Nahen Osten an der belarussischen Grenze erfrieren haben lassen, haben nun im großen Stil die Nächstenliebe entdeckt.

Verstehen Sie mich nicht falsch: ich finde es ganz wunderbar, wie sich Menschen und Politik engagieren. Genau so muss es sein. Es zeugt von großer Empathie und zivilgesellschaftlichem Engagement. Nur frage ich mich, wo eben jene Empathie für Personen aus anderen Weltregionen bleibt. Seit mehr als sieben Jahren tobt beispielsweise im Jemen ein erbarmungsloser Krieg, bei dem bislang Hunderttausende umgekommen sind. Die meisten übrigens aufgrund der katastrophalen humanitären Situation: Hunger, unzureichende medizinische Versorgung etc. Über zwei Millionen Kinder unter fünf Jahren sind dort akut mangelernährt, Säuglinge und Kleinkinder sterben an eigentlich vermeidbaren Krankheiten, die aufgrund des zusammengebrochenen Gesundheitssystems nicht behandelt werden können.

Ähnliches spielt sich in Syrien und Äthiopien ab. Wo ist die Empathie und die mediale Aufmerksamkeit hier? Wo sind die 100 Millionen Euro an privaten Spendengeldern? Im März wurde bei einer UN-Geberkonferenz für den Jemen nicht einmal die Hälfte der erforderlichen Gelder zugesagt, die Medien berichten kaum über das Land. Natürlich, die Lage in der Ukraine, gerade in Städten wie Mariupol, ist katastrophal, anders kann man es nicht sagen. Bei der medialen Aufmerksamkeit, welche der Krieg und das Leid in der Ukraine erhalten, kann man schnell den Eindruck gewinnen, dass es sich um die größte humanitäre Katastrophe der Welt handelt. Doch dies ist eben nicht der Fall.

Wo liegt also der Unterschied? "Die Menschen in der Ukraine stehen uns näher" oder "Das ist ein Krieg auf europäischem Boden" hört man landläufig. Wenn jedoch die Fähigkeit, Empathie zu empfinden, nicht davon abhängt, was einem Menschen widerfahren ist, sondern lediglich, woher dieser kommt, ist dies nicht nur – gelinde gesagt – primitiv, sondern schlicht rassistisch. Rassismus kommt nicht immer in Springerstiefeln und Bomberjacke daher (obwohl das durchaus wünschenswert wäre, dann könnte man ihn leichter erkennen!). Nein, rassistische Denkmuster sitzen meist tief verwurzelt und sind einem oftmals nicht einmal bewusst. Dennoch sind sie vorhanden und beeinflussen unser Denken und Handeln.

Neben der "Ukrainer stehen uns kulturell näher"-Argumentation gibt es noch ein weiteres Narrativ, welches gerade en vogue ist: "Anders als 2015 kommen nun vor allem Frauen und Kinder, die (heroischen) ukrainischen Männer verteidigen ihr Heimatland!" Während dies nicht per se falsch ist, impliziert die Aussage oft noch einen zweiten Teil, der jedoch meist nicht explizit ausgesprochen wird: "Wäre das mal 2015 so gewesen! Aber die (feigen) geflüchteten Männer, die 2015 zu uns kamen, haben ja stattdessen Land (meist Syrien, Irak, Afghanistan) und Familie im Stich gelassen, um ihre eigene Haut zu retten!" So oder so ähnlich dürfte die Argumentation in vielen Köpfen lauten.

Was dabei großzügig außer Acht gelassen wird, sind die gravierenden Unterschiede. Erstens: Die Konflikte, die sich zu dieser Zeit in Syrien, Irak und Afghanistan abspielten, sind keine Kriege wie der aktuelle Krieg in der Ukraine, bei dem ein Staat gegen einen anderen kämpft. Beispiel Syrien: Wem hätte sich ein syrischer Mann 2015 anschließen sollen? Der Armee von Assad, um auf die eigenen Leute zu schießen? Wohl eher nicht. Dem sogenannten Islamischen Staat, um einen Gottesstaat zu errichten? Kaum. Zweitens: Fluchtkorridore ins sichere Ausland, wie sie den Menschen in der Ukraine glücklicherweise zur Verfügung stehen, gab und gibt es in den genannten Ländern nicht. Vielmehr ist der Fluchtweg nach wie vor extrem gefährlich: bis heute ertrinken regelmäßig Personen auf seeuntüchtigen Schlauchbooten auf dem Mittelmeer. Zudem bleibt die Flucht kriminalisiert, ohne einen Schlepper ist sie kaum zu bewältigen. Man kann nun einmal in sich gehen und darüber nachdenken, ob man selbst Frau und Kinder in ein solches Boot gesetzt hätte. Aber gut, zu Hause auf dem Sofa redet es sich natürlich leicht.

Im Ergebnis bleibt Ernüchterung, Desillusionierung und auch Wut. Nicht nur bei mir, sondern vielmehr bei Menschen aus den bislang "klassischen" Fluchtherkunftsländern, die sich nun zu Recht fragen, wieso Europa mit zweierlei Maß misst und scheinbar in Flüchtlinge erster und zweiter Klasse unterteilt. Das gleiche Europa, welches sonst – zu Recht! – weltweit für die Einhaltung von Menschenrechten eintritt und sich gegen Rassismus engagiert. Zuletzt äußerte sich der Generaldirektor der WHO Tedros Adhanom Ghebreyesus dazu und stellte infrage, ob die Welt schwarzen und weißen Leben wirklich die gleiche Beachtung schenke. Viele Kommentatoren aus dem Nahen Osten, Vorderasien und Afrika kommen zu ähnlichen Schlüssen. Neben dem ethischen Aspekt hat somit nicht zuletzt die außenpolitische Glaubwürdigkeit Europas Schaden genommen.

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