"Celebrating Dissent" Köln 2022 – Tag 1

"Du kannst die Blumen stutzen, aber du kannst den Frühling nicht aufhalten!"

Am vergangenen Wochenende fand in Köln der zweitägige internationale Kongress "Celebrating Dissent" statt. Auf dieser nach Selbstbeschreibung "größten und prominentesten Versammlung von Ex-Muslimen, Freidenkern und Intellektuellen, die die Freiheit des Denkens verfechten, seit Beginn der Covid-19-Pandemie" waren auch einige säkulare Stargäste vertreten, allen voran Richard Dawkins. Der hpd berichtet in zwei Teilen über das intensive Programm aus Diskussion, Filmvorführungen, Kunstprojekten, Aktivismus und Musik.

Schnell sei die Veranstaltung ausverkauft gewesen, erklärt Organisator Sami Abdallah (Präsident von Freethought Lebanon) gegenüber dem hpd. Ein Jahr Vorbereitung steckt hinter dem Event mit insgesamt 200 Teilnehmer:innen aus der ganzen Welt, für das auch Bürgermeister Andreas Wolter ein Video-Grußwort sprach. "Es tut so gut euch zu sehen!", freute sich Maryam Namazie, Sprecherin des mitveranstaltenden Council of Ex-Muslims of Britain in ihrer Eröffnungsrede. Auch Sami Abdallah begrüßte die Anwesenden und warf einen Blick auf jene Teile der Welt, in denen Apostasie noch immer mit dem Tod bestraft wird: "Denkt mal einen Moment darüber nach: Wenn du nicht an den imaginären Freund von jemand anderem glaubst, wirst du umgebracht." Doch: "Wir sind die Zukunft und sie sind die Vergangenheit. (…) Heute kommen wir zusammen, um einmal mehr unser Recht hochzuhalten, von einem religiösen Dogma abzuweichen – unser Recht, es zu kritisieren und uns darüber lustig zu machen – und unser Recht auf Gedanken- und Meinungsfreiheit." Und Maryam Namazie zitierte kämpferisch: "'Du kannst die Blumen stutzen, aber du kannst den Frühling nicht aufhalten!' – Es gibt zu viele von uns." Die Ex-Muslime nannte sie "die neue Bürgerrechtsbewegung unserer Zeit". "Wie alle Bürgerrechtsbewegungen überschreiten wir Grenzen, sind subversiv und gelten als gefährlich, weil wir die Welt ohne Erlaubnis neu denken. Eine Welt, die Fatwas, Sharia-Gerichte und Theokratien kriminalisiert. Eine Welt, die Apostasie, Blasphemie und Andersdenken feiert."

Kein freies Denken ohne Blasphemie

Auf dem ersten Panel wurde über Blasphemie, Islamophobie und freie Meinungsäußerung gesprochen. Man könne gar nicht phobisch auf Ideen reagieren, meinte die kenianisch-somalische Dichterin Halima Salat, und Ideen müssten kritisiert werden. Mit dem Vorwurf der Islamophobie solle erreicht werden, dass nicht kritisch über den Islam gesprochen wird. Auf diesen Zug sprängen andere Religionen auf, ergänzte Susanna McIntyre, Vorsitzende von Atheist Republic. In diesem Zusammenhang sei auch die Verwendung des "neuen religiös-orthodoxen" Begriffs "Transphobie" zu sehen, so der Ex-Muslim-Coach Jimmy Bangash, der sich vor allem für muslimische LGBTQ-Personen einsetzt. Er konstatierte trocken: "Wenn du nicht der Islamophobie beschuldigt wurdest, hast du keinen guten Job gemacht". Es gebe kein Menschenrecht, nicht beleidigt zu werden. Problematisch sei auch der Begriff "Hate Speech", führte Sami Abdallah weiter aus. "Wer definiert, was Hate Speech ist? (…) Ich will, dass dumme Menschen dumme Sachen sagen, damit ich darauf antworten kann." Alle waren sich einig, dass es kein freies Denken ohne Blasphemie geben könne. Und wenn man sage, dass man nicht glaube, werde das bereits als Blasphemie wahrgenommen, so Halima Salat.

Das erste Diskussionspanel
Das erste Diskussionspanel (von links): Jimmy Bangash, Susanna McIntyre, Halima Salat, Sami Abdallah und Moderatorin Annie Laurie Gaylor (Co-Präsidentin der Freedom from Religion Foundation). (Foto: © Eva Witten)

Die zweite Diskussionsrunde drehte sich um Apostasie als Asylgrund und die Schwierigkeiten, die sich aus der aufgeladenen Migrationsdebatte ergeben. Die Anwältin Ana González berichtete von Fällen, die sie in Großbritannien vor Gericht geführt hat. Zur Glaubwürdigkeit des Asylgrundes Glaubensabfall sagte sie: "Ein Muslim würde vortäuschen, homosexuell zu sein. Aber nicht, dass er Apostat ist." Außerdem stellte sie klar: "Wenn eine Frau aus Saudi-Arabien, die vom Glauben abgefallen ist, kein Asyl bekommt, dann kann es niemand bekommen." Kanada sei hier das großzügigste Land, fügte Podcaster Harris Sultan hinzu. Hier haben etwa die für ihn kämpfende Frau von Raif Badawi Ensaf Haidar und der Atheist-Republic-Gründer Armin Navabi eine neue Heimat gefunden. Wer Hilfe suchte, konnte sich von Ana González im Rahmen eines Workshops für Asylsuchende beraten lassen.

Das zweite Diskussionspanel
Das zweite Diskussionspanel (von links): Harris Sultan, Ana González, Nina Sankari (Vize-Präsidentin der atheistischen Kazimierz Lyszczynski Foundation aus Polen, Ahmedur Rashid Chowdhury (Verleger der bangladeschischen Zeitschrift Shuddhashar), Yahya Ekhou (Säkulare Flüchtlingshilfe), Lilith Raza (Queer-Trans-Aktivistin aus Pakistan) und Moderator Dan Barker. (Foto: © Eva Witten)

Debatte Nummer 3 an diesem ersten Kongresstag befasste sich mit der Problematik, die Hijab und Verschleierungszwang für die körperliche Autonomie und die Rechte von Frauen bedeuten. Lisa-Marie Taylor, Vorsitzende von FiLiA, sprach sich dafür aus, dass Apostasie Teil des feministischen Mainstreams werden müsse. Rana Ahmad, deren Selbstermächtigung und Flucht aus Saudi-Arabien die Gründung der Säkularen Flüchtlingshilfe bewirkte, fragte: "Der Körper ist schön, warum sollte man ihn verhüllen?" Die Diskutantinnen waren sich einig: Der Hijab sei dazu da, Frauen und ihre Sexualität zu kontrollieren. Fauzia Ilyas, Gründerin der Atheist and Agnostic Alliance Pakistan, erklärte, dass der Islam den Menschenrechten widerspreche. Man erlebe einen Rückschlag für den Feminismus, in der arabischen Welt und in den USA. Säkularismus und Redefreiheit sollten feministische Anliegen sein.

Das dritte Diskussionspanel
Das dritte Diskussionspanel (von links): Annie Laurie Gaylor, Sara Nabil, Fauzia Ilyas, Rana Ahmad und Moderatorin Lisa-Marie Taylor. (Foto: © Eva Witten)

Das weibliche Haar ist gewissermaßen das Herzstück der islamischen Verschleierungsvorschriften: Je nach Strenge müssen unterschiedliche Körperteile verhüllt werden, zumindest jedoch immer das Haar. "Ich bin immer von meinen Haaren unterdrückt worden", sagt die afghanische Künstlerin Sara Nabil, die durch ihr Wirken Kritik an patriarchalen Strukturen zum Ausdruck bringen will. In einer Performance, von der ein Video gezeigt wurde, schneidet sie sich deshalb ihr Haar ab – Stück für Stück, und platziert die Strähnen sorgfältig in kleinen Schmuckkästchen. Immer rabiater wird sie dabei in ihrem Befreiungskampf, steigt von der Schere auf den Rasierer um, bis nicht mehr viel übrig ist von dem, was keiner sehen soll.

Performance von Sara Nabil
Von Sara Nabils Performance wurde ein Video gezeigt. (Foto: © Eva Witten)

Vor dem nächsten Panel lud Performance-Künstlerin Victoria Gugenheim zu einer Solidaritätsaktion zum internationalen "Tag der Apostasie" ein. Dabei malte sich jede:r ein rotes "A" auf und zeigte damit Unterstützung für Ungläubige weltweit.

"Nichts macht die Moral besser kaputt als Religion"

Im Anschluss wurde über Religiosität und Moral diskutiert. Ein häufiger Vorwurf gegenüber Atheisten lautet, dass sie keinen moralischen Kompass hätten. Armin Navabi hielt dagegen: "Nichts macht die Moral besser kaputt als Religion." Keine Moral könne anrichten, wozu Religion im Stande sei; diese mache die schlimmsten Verbrechen rechtfertigbar. Viel Applaus und viele Lacher erntete Cemal Knudsen Yucel (Council of Ex-Muslims of Norway), der es folgendermaßen auf den Punkt brachte: Ein guter Moslem solle zwar nicht mit dem rechten Fuß zuerst in die Toilette gehen, der Jihad hingegen sei kein Problem. Die Moral definiere sich fortlaufend neu und verbessere sich dabei, so noch einmal der Gründer von Atheist Republic. Und YouTuber Veedu Vidz stellte fest: "Ihr habt ein Buch. Wir haben Millionen." Wo religiöse Regeln gälten, führe das immer zu Diskriminierung und dem Töten von Menschen, steuerte die pakistanische Journalistin Khadija Khan bei.

Das vierte Diskussionspanel
Das vierte Diskussionspanel (von links): Nuriyah Khan, Armin Navabi, Cemal Knudsen Yucel, Sohail Ahmad (in den Sozialen Medien bekannt als "Reason on Faith"), Wissam Charafeddine (Unternehmer, Dichter und Gründer verschiedener gemeinnütziger Organisationen) und Moderator Veedu Vidz. (Foto: © Eva Witten)

Danach folgte ein besonderes Highlight der zweitägigen Zusammenkunft: Maryam Namazie sprach mit Richard Dawkins, der viele Apostaten inspiriert hat, ihren Atheismus zu erkennen (über das Interview wird in den kommenden Tagen ein eigener Text im hpd erscheinen).

Zwischen den Diskussionen war Raum für Kunst: Veedu Vidz rappte seinen Song "Music is haram", Dan Barker, Co-Präsident der Freedom from Religion Foundation, spielte umjubelte Songs auf dem Klavier.

Als letzter Programmpunkt des ersten Tages der Konferenz stand die Verleihung der "Freethought Champions Awards" für "unschätzbare Beiträge für die Sache der Vernunft, der Wissenschaft und das freie Denken" an: Einer ging an die algerische Soziologin Marieme Helie Lucas, Gründerin von Secularism Is A Woman's Issue und Women Living Under Muslim Laws. Zu ihrer Ehrung wurde gesagt, sie sei "unbeirrbar in ihrem politischen Aktivismus" und habe schon lange vor allen anderen von der Bedeutung des Säkularismus für den Feminismus gesprochen. Einen weiteren Preis erhielt Richard Dawkins, dessen Einfluss auf die Verbreitung des Freidenkertums in der Welt schwierig zu überschätzen sei. Er habe durch seine Veröffentlichungen viele Menschen befreit und ermächtigt. Der dritte Award wurde an den nicht anwesenden Soheil Arabi vergeben, der im Iran acht Jahre im Gefängnis saß – wegen Apostasie und Freidenkertum und weil er sich für politische Gefangene einsetzte. Das iranische Regime habe mehr Angst vor Atheisten und Freidenkern, als diese vor dem Regime hätten, hieß es in der Laudatio für ihn. Die drei Geehrten seien "eine Inspiration im Kampf gegen Ignoranz, Bigotterie und Dogmen". Mittlerweile wurde auch Arabis Mutter trotz gesundheitlicher Probleme inhaftiert, da sie unverschleiert zum Wahlboykott aufgerufen hatte. Die Kongressteilnehmer wurden gebeten, eine Petition für ihre Freilassung zu unterschreiben.

Die gesamte Konferenz stand unter dem Eindruck des Attentats auf Salman Rushdie, für den es am Abend eine spontane Kundgebung gab. Alle Teilnehmer begaben sich im Anschluss an das offizielle Programm in einem Protestzug zum Heumarkt im Zentrum der Stadt, wo sie (übersetzt) "Lang lebe Salman Rushdie", "Let Raif Fly" und "Nicht die Kirche, nicht der Staat, Frauen entscheiden über ihr Schicksal" skandierten und Botschaften mit Kreide auf dem Boden hinterließen.

Maryam Namazie schreibt mit Kreide auf den Boden
Maryam Namazie bei der Solidaritätskundgebung für Salman Rushdie. (Foto: © Eva Witten)

Immer wieder sprachen sich die Aktivist:innen auf dem Kongress gegenseitig Mut zu und bestärkten sich in ihrem Engagement, das in vielen Fällen mit großen Gefahren verbunden ist, die sie auf sich nehmen, um eine Verbesserung für alle zu bewirken. Welche Opfer und Brüche mit allem Bisherigen dies mit sich bringen kann, wurde deutlich, als die Diskutant:innen zu Beginn jedes Panels zunächst ihre Biographie vorstellten, warum sie Atheisten und wie sie Aktivisten wurden. Viele der Anwesenden leben im Exil. Die Alternative ist, im Gefängnis zu landen – oder Schlimmeres.

Der hpd-Artikel über den zweiten Kongresstag findet sich hier.


Hinweise der Redaktion: Im siebten Absatz war irrtümlicherweise von der YouTuberin Nuriyah Khan (die nicht teilnehmen konnte) statt von der pakistanischen Journalistin Khadija Khan die Rede. Dies haben wir am 24.08.2022 um 19:00 Uhr korrigiert.

Das Zitat am Ende des ersten Absatzes wurde am 24.08.2022 um 20:15 Uhr ergänzt.

Der Abschnitt zur Petition für Soheil Arabis Mutter im zehnten Absatz wurde am 25.08.2022 um 11 Uhr hinzugefügt.

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