Midterms-Special, Teil 1

Der US-Evangelikalismus und sein Beitrag zur Erosion der Demokratie

Haben texanische Kirchen durch ihre teils offen provokante Unterstützung für die republikanische Partei Bundessteuergesetze verletzt? Was meint Ron DeSantis, Gouverneur Floridas, wenn er in einem Wahlwerbespot sagt, dass Gott persönlich ihn zum Kämpfer auserkoren habe? Ein Blick auf die US-Midterms – und darauf, wie evangelikale Politpropheten die US-Demokratie gefährden.

Zunächst gilt es, zu definieren, was "evangelikal" eigentlich bedeutet. Wer sind "die Evangelikalen"? Woran glauben sie, wie ist ihre Verteilung in der US-Bevölkerung?

Das Umfrageinstitut Gallup beobachtet seit Jahrzehnten die Entwicklung der Evangelikalen in den USA. Im Zeitraum von 2016 bis 2018 identifizierten sich 41 Prozent der Bevölkerung als evangelikal oder "wiedergeboren" (Englisch: "born again"). Dieser Anteil ist – von ein bis zwei Prozentpunkten Abweichung nach oben hin abgesehen – seit 30 Jahren konstant. Interessanterweise ist die Zahl derer, die keine religiöse Identität haben, im Bezugszeitraum von sieben auf 18 Prozent gestiegen und die Zahl der Menschen, die Religion für "sehr wichtig" hält, leicht gesunken (von 58 Prozent in 1991 auf 51 Prozent in 2018).

Es lohnt daher, darauf einzugehen, warum die Zahl der Evangelikalen diesem säkularen Trend zu trotzen scheint. Wichtig ist hier der besondere Bezug auf das Begriffspaar "evangelikal/wiedergeboren". Erstmals inkludierte Gallup eine Variation dieser Zuordnung, die die beiden Begriffe getrennt voneinander abfragte. Weitaus mehr Menschen (38 gegenüber 21 Prozent) identifizierten sich 2018 mit dem Begriffspaar als lediglich mit dem Begriff "evangelikal". Besonders hoch ist diese Diskrepanz unter nicht Weißen, sie neigen stark dazu, sich eher mit dem Begriffspaar zu identifizieren. Dies, mutmaßt Gallup, könnte mit einer gefühlten Assoziation des Terminus "evangelikal" mit der republikanischen Partei (GOP) zusammenhängen. Genau diese Gruppe, die spezifisch "Evangelikalen", muss im Lichte ihrer jüngeren politischen Aktivitäten genauer untersucht werden.

Das alte Lied von Kirchen und Steuern

Die vermeintliche Nähe überwiegend weißer, evangelikaler Kongregationen zur republikanischen Partei ist nämlich kein Hirngespinst. In den Vereinigten Staaten sind Kirchen von Bundessteuern befreit, müssen sich im Gegenzug aber an ein politisches Neutralitätsgebot halten. Das nach dem federführenden Senator benannte Johnson-Amendment wird jedoch von bestimmten evangelikalen Kirchen zunehmend provokant ignoriert, während die IRS, das US-amerikanische Finanzamt, sich aus der Verantwortung stiehlt. In einer gemeinsamen Recherche haben ProPublica und der TexasTribune 20 Kirchen gefunden, die das Johnson-Amendment in den vergangenen zwei Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit verletzt haben – das sind mehr, als die IRS im gesamten vergangenen Jahrzehnt wegen Beeinflussung politischer Kampagnen untersucht hat.

Manche dieser Kirchen dankten republikanischen Kandidat*innen, dass diese "tun, was Gott sie angewiesen hat, zu tun". Ein texanischer Pastor verkündete den Anwesenden, er "habe eine Kandidatin, die Gott gewinnen sehen will". Bisweilen laden Kirchen Kandidat*innen sogar zu Gottesdiensten ein. Bei einer der kurioseren dieser Veranstaltungen sprach der texanische Vizegouverneur (Englisch: "lieutenant governor") Dan Patrick davon, dass seine Wiederwahl ein "Kampf von Licht und Finsternis" und "der Teufel in diesem Land am Werk" sei. Zwar haben Kirchen auch demokratische Kandidat*innen auf wahrscheinlich unerlaubte Weise unterstützt, doch sind solche Fälle eine Minderheit und erreichen bei Weitem keine vergleichbare rhetorische Intensität.

Es sind dünn verhüllte Andeutungen wie solche von Patrick, der seine Wiederwahl komfortabel gewonnen hat, die an das knappe Viertel unter den Republikaner*innen gerichtet sind, die dem absurden Verschwörungsmythos, die US-Regierung werde von satanistischen Pädophilen gesteuert, anhängen. Populisten wie Floridas Gouverneur Ron DeSantis machen sich die gleichen Mechanismen zunutze, wenn sie sich in Wahlwerbespots als "Kämpfer", den Gott "am achten Tag" erschaffen habe, inszenieren. Zwar sinkt der Anteil der Bevölkerung, der findet, die USA sollten eine christliche Nation sein, doch mit 45 Prozent gibt es noch immer zahllose US-Amerikaner*innen, bei denen solche wenig impliziten Rufe nach einem christlichen Nationalismus verfangen.

Im Namen Gottes heißt im Namen Trumps

Besonderes Augenmerk verdienen auch die in einigen Bundesstaaten stattfindenen Wahlen der Staatssekretär*innen (Englisch: Secretary of State, SoS). SoS sind unter anderem für die Durchführung und Zertifizierung von Bundeswahlen wie der Präsidentschaftswahl verantwortlich – wenig verwunderlich also, dass der extremistische Flügel der republikanischen Partei nach genau diesen Ämtern zu greifen versucht.

Die von Donald Trump unterstützte Fraktion der sogenannten "Election-Deniers" – Personen und Kandidat*innen, die die Legitimität der vergangenen Präsidentschaftswahl anzweifeln oder vollauf leugnen – hängt häufig verschiedenen Verschwörungsmythen an, die mit Elementen christlich-nationalistischer Rhetorik vermischt werden. Gemäß einer Untersuchung des Public Religious Research Institute, einer unabhängigen NGO mit Sitz in Washington, D.C., sind religiöse US-Amerikaner*innen zwei- bis dreimal so anfällig für den QAnon-Mythos wie ihre säkularen Mitbürger*innen. So beispielsweise die in Michigan unterlegene republikanische Kandidatin Kristina Karamo: "Abtreibungen sind nichts Neues. Das Kinderopfer ist eine satanistische Praxis, und nichts anderes sind Abtreibungen. [Ich glaube, dass] intime Beziehungen zu Menschen, die von Dämonen besessen sind, eine Person selbst für Besessenheit öffnen. Dämonen, die von uns Besitz ergreifen, sind real."

Es ist eine fundamental anti-empiristische Haltung, die bei diesen Kandidat*innen zum Ausdruck kommt. Zwei Jahre nach der vermeintlich gestohlenen Wahl hat Trump noch immer nicht den Hauch eines Beweises für seine wilden Anschuldigungen geliefert. Dass eine satanistische Kabale die Vereinigten Staaten steuert, um Blutopfer zu produzieren, ist eine Neuauflage des ältesten antisemitischen Verschwörungsmythos überhaupt und damit offensichtlich falsch. Nur resonieren diese simplen Erkenntnisse nicht mit deren vorgefertigtem Weltbild und dem von Trump zum Leidwesen der gesamten Weltbevölkerung salonfähig gemachten Konzept der "alternativen Fakten".

Wie aber soll Politik, die per Definition auf Diskurs angewiesen ist, funktionieren, wenn eine der beteiligten Parteien den Boden von Empirie, Vernunft und objektiver Wahrheit längst verlassen hat? Wie spricht man mit jemandem, der in Donald Trump den leibhaftigen Messias zu erkennen glaubt, geschweige denn mit jemandem, der sich gar selbst als Messias wähnt?

Glücklicherweise haben die jüngsten Wahlen gezeigt, dass der offene Flirt mit dem Wahnsinn zumindest in umkämpften Bundesstaaten nicht wirklich angekommen ist, insgesamt kann Bidens Regierung die besten Midterms für einen amtierenden Präsidenten seit 1998 verbuchen. Doch diejenigen in der GOP, die unsere gemeinsame Realität längst zugunsten ihrer kollektiven Psychose verlassen haben, werden nicht verschwinden. Genauso wenig wie ihre Wähler*innen. Trump wird nicht vor die Presse treten und zugeben, dass er gelogen hat. Wenn die antidemokratische Büchse der Pandora einmal geöffnet ist, lassen sich die befreiten Geister niemals kampflos zurück in ihr Gefängnis drängen – es wäre das erste Mal in der Geschichte. Die extremistische Fraktion der GOP ist und bleibt eine Gefahr für die US-Demokratie, aber auch für den Rest des Planeten.

Der zweite Teil des Midterm-Specials wird sich amtierenden Senator*innen widmen, die postulieren, die Klimakatastrophe sei gottgemacht und nicht aufzuhalten, sowie deren Basis: Menschen, die in der Klimakatastrophe die biblische Apokalypse, die wortwörtliche Endzeit, herannahen sehen.

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