Frankreich will selbstbestimmtes Lebensende erlauben

Die Chancen stehen nicht schlecht, dass das Jahr 2023 in Frankreich den Durchbruch für das selbstbestimmte Lebensende bringt. In diesen Wochen erarbeitet ein eigens einberufener Bürgerrat Empfehlungen für ein Gesetz zur Legalisierung der Sterbehilfe. Laut Präsident Macron soll es bereits zum Jahresende umgesetzt sein.

Seit Anfang Dezember 2022 tagt ein Bürgerrat, bestehend aus 185 Französinnen und Franzosen, die durch ein Losverfahren ausgewählt wurden. Sie sollen bis Ende März die Basis für einen Gesetzentwurf schaffen, der Sterbehilfe und assistierten Suizid unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Präsident Emmanuel Macron will damit ein Wahlversprechen einlösen.

Derzeit herrschen in Frankreich noch massive Einschränkungen der Selbstbestimmung am Lebensende. Das Claeys-Leonetti-Gesetz von 2016 erlaubt lediglich eine "tiefe und kontinuierliche Sedierung" von unheilbar Kranken mit schweren Leiden, deren baldiger Tod absehbar ist. Nur in besonderen Fällen darf die medizinische Behandlung auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten beendet oder zurückgefahren werden. Jedoch bemängeln Experten fehlende Mittel für die Palliativmedizin. Das Nationalinstitut für demografische Studien (Institut national d'études démographiques, Ined) geht von jährlich 2.000 bis 4.000 Fällen von illegaler Sterbehilfe in Frankreich aus.

Dagegen herrscht in der Bevölkerung breite Zustimmung für eine Liberalisierung. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IFOP von Februar 2022 waren 89 Prozent der Französinnen und Franzosen für die Erlaubnis der Sterbehilfe bei Personen mit schwersten, nicht behandelbaren Leiden, 84 Prozent sprachen sich pro Legalisierung des unterstützten Suizids aus – ein Meinungsbild, das laut IFOP seit zehn Jahren stabil sei. Im September empfahl der Nationale Ethikrat die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe bei Volljährigen mit schweren, unheilbaren Krankheiten und mittelfristig begrenzter Lebenserwartung.

Beobachter gehen davon aus, dass auch die Mehrheit der Abgeordneten eine Gesetzesänderung befürwortet. Gegenstimmen kommen aus der Opposition; so wertet der Konservative Jean Leonetti, Co-Autor des derzeit noch geltenden Verbotsgesetzes, den assistierten Suizid als "wesentliche Grenzüberschreitung". Auch nach Ansicht der Rechtspopulistin Marine Le Pen bestehe kein Anlass zur Reform, da derzeit "ein gutes Gesetz" gelte. Gegen eine Änderung sprechen sich erwartungsgemäß auch die Kirchenvertreter aus. Anfang Dezember veröffentlichte der Rat der christlichen Kirchen in Frankreich (Conseil d'Eglises chrétiennes en France, CECEF) eine gemeinsame Erklärung, in der es heißt: "Die Würde einer menschlichen Gesellschaft besteht darin, das Leben bis zum Tod zu begleiten und nicht darin, den Tod zu erleichtern."

Viele Betroffene scheinen das anders zu sehen. Erika Preisig, Gründerin und Präsidentin des schweizer Vereins lifecircle, schätzt, dass aktuell über 100 Franzosen jährlich einen friedvollen Tod in der Schweiz suchen, Tendenz steigend. "Doch die Reise in die Schweiz ist eine schlechte Lösung, einzig die Legalisierung in allen Ländern ist eine humane Lösung und wird den Sterbetourismus zum Versiegen bringen", ist sie überzeugt. Deshalb werde sie mit aller Kraft dabei helfen, dass die französische "Consultation Citoyenne", die Bürgerbefragung, einen positiven Ausgang nehme: "Wir schicken an die französischen Parlamentarier Zeugnisse von Menschen und deren Angehörigen, die zur Zeit aus Frankreich in die Schweiz reisen, um zu sterben. Zeugnisse sind eindrücklich, und ich hoffe, dass bei den Bürgerbefragungen auch Menschen einbezogen werden, die wirklich eine Freitodbegleitung eines geliebten Angehörigen erlebt haben. Nur die können wirklich erzählen, was sie empfinden, was die Freitodbegleitung ihnen und ihrem Lieben bedeutet hat."

Bereits vor zehn Jahren habe man an François Hollande, den vorhergehenden Präsidenten von Frankreich, solche persönlichen Berichte geschickt. "Die Briefe wurden beantwortet, dass sie jedoch je vom Präsidenten gelesen wurden, wage ich zu bezweifeln", so Preisig. "Durch das Amtsantrittsversprechen von Emmanuel Macron und die nun doch einige Wochen laufende Bürgerbefragung hoffe ich sehr, dass sich endlich etwas bewegen wird."

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