Vor 90 Jahren

Als die deutsche Sexualwissenschaft den Nazis zum Opfer fiel

Entgegen verschiedener Narrative ist die Geschlechterforschung kein Produkt postmoderner Langeweile, sondern eine bereits vor einhundert Jahren in Deutschland etablierte Disziplin. Die Nazis raubten bereits gesammeltes Wissen auf brutalste Weise. Ein Essay über Queerness in der Weimarer Republik und Nazideutschland.

Am 6. Mai 1933, kein halbes Jahr nach der Machtergreifung, stürmte ein Mob von Nazis das in Berlin-Tiergarten ansässige Institut für Sexualwissenschaft und plünderte die weltweit größte – und einzige – Bibliothek der Sexualforschung. Schätzungen sprechen von insgesamt bis zu 25.000 Büchern, die in den folgenden Tagen Opfer der Flammen wurden. 40.000 Menschen wohnten am 10. Mai in Berlin dem barbarischen Treiben bei, als Joseph Goebbels vor rauchgeschwängerter Kulisse verkündete, der "jüdische Intellektualismus" sei "tot" und die Deutschen hätten sich das Recht verdient, "den Müll der Vergangenheit zu beseitigen".

Faschistischer Aufmarsch vor dem Institut für Sexualwissenschaft, 6. Mai 1933
(Foto: United States Holocaust Memorial Museum via Wikimedia Commons, Photograph #01625 https://collections.ushmm.org/search/catalog/pa26346, public domain)

Dies ist die Geschichte von Magnus Hirschfeld, dem Gründer des Instituts für Sexualwissenschaft, Dora Richter, der ersten Trans-Frau, die sich einer geschlechtsangleichenden Operation unterzog und Heinz Heger, der den Horror der Konzentrationslager überlebte, um 1972 in seinem Buch "Die Männer mit dem rosa Winkel" Zeugnis abzulegen.

Magnus Hirschfeld: Pionier der Sexualforschung

Magnus Hirschfeld gründete das Institut für Sexualwissenschaft (IfSW) im Jahr 1919 zusammen mit dem Psychotherapeuten Arthur Kronfeld und dem Dermatologen Friedrich Wertheim. Ursprünglich als Forschungseinrichtung konzipiert, entwickelte sich das IfSW schnell zu einer Art psychotherapeutischen Klinik. Etwa 18.000 Beratungsgespräche mit 3.500 Menschen führte das Institut allein im ersten Jahr durch. Per scientiam ad justitiam, mit Wissenschaft zu Gerechtigkeit, war sowohl der Leitspruch des IfSW als auch Hirschfelds persönliches Lebensmotto.

Hirschfeld, selbst jüdisch und homosexuell, war bereits in den 1920er Jahren regelmäßig Übergriffen der Sturmabteilung und anderer Nazis ausgesetzt. Am 4. Oktober 1920 wurde Hirschfeld bei einem tätlichen Angriff schwer verletzt, einige Jahre später wurde in Wien auf ihn geschossen. Doch selbst unter diesen lebensgefährlichen Umständen setzte Hirschfeld seine Arbeit fort. Seine Motivaton speiste sich aus der eigenen Lebens- und Arbeitserfahrung, dernach Homosexuelle ein Stigma trugen, das so schwer wog, dass sich ein Großteil von ihnen das Leben zu nehmen versuchte.

Als die Nazis am 6. Mai 1933 das Institut für Sexualwissenschaft plünderten, befand sich Hirschfeld gerade in der Schweiz. Die NSDAP annullierte seine deutsche Staatsbürgerschaft, Hirschfeld starb 1935 im Alter von 67 Jahren im französischen Exil. Dort schrieb er ein letztes Buch, "Rassismus", in dem er die pseudowissenschaftlichen Wurzeln der Rassenlehre verortete. "Rassismus" wurde 1938 posthum veröffentlicht. Im Jahr 2011 wurde, unter Schirmherrschaft des Bundesministeriums der Justiz, die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld mit Sitz in Berlin errichtet, die sich – ganz in der Tradition ihres Namenspatrons – der wissenschaftlichen Forschung zu Fragen der Sexualität und des Geschlechts verschrieben hat.

Das Institut für Sexualwissenschaft war bereits in den 1920er Jahren weit mehr als "nur" eine Bibliothek oder Klinik. Als weltweit einziges Sexualforschungsinstitut war es ein sicherer Hafen für Menschen, die in ihrem Alltag schlimmster Diskriminierung und körperlicher Gewalt ausgesetzt waren. Gleichzeitig war es eine Beratungsstelle für Eheprobleme und Familienplanung, behandelte Geschlechtskrankheiten und leistete Sexual- und Verhütungsaufklärung. Mehr noch, das IfSW war die weltgrößte Sammlung sexualanthropologischen und -psychologischen Materials überhaupt. Eine beispiellose Zahl von "Sexualartefakten" gab Zeugnis von der universellen Existenz von Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit.

Dildokästchen
Eines der wenigen Exponate, die dem Furor der Nazis entgangen sind: Ein antikes japanisches Dildo-Kästchen (Foto: Jean-Pierre Dalbéra via Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY 2.0)

An dieser Stelle sei erwähnt, dass auch das Institut für Sexualwissenschaft bisweilen auf dubiose Weise zu seinen Exponaten kam. Dies soll nicht ausgeklammert werden. Jedoch ist vom Material des Instituts kaum etwas übrig geblieben. Was die Nazis 1933 nicht verbrannten oder konfiszierten, fiel spätestens im Kampf um Berlin dem Feuer zum Opfer. Was uns geblieben ist, ist die Geschichte des Instituts und seiner Patient*innen.

Dora Richter: Märtyterin für die Diversität

Eine dieser Patientinnen war Dora Richter. Sie war einer der ersten Menschen, die sich mit modernen medizinischen Methoden durchgeführten geschlechtsangleichenden Operationen unterzogen. Bereits im Alter von sechs Jahren soll sie versucht haben, ihren Penis zu amputieren – 1922 wurden ihre Hoden operativ entfernt, 1931 erhielt sie schließlich die weltweit erste Vaginoplastie im Institut für Sexualwissenschaft.

Hirschfeld, der diesem heutzutage als "physiologische Transition" bekannten Prozess ursprünglich skeptisch gegenüberstand, hatte seine Meinung während der Arbeit im IfSW geändert. Der Grund hierfür war die astronomische Suizid- beziehungsweise Suizidversuchs-Rate unter Trans-Patient*innen, die ihn an das gleiche Phänomen unter Homosexuellen erinnerte.

Der Mensch bringt sich um, wenn sein innerstes Sein von der ihn umgebenden Gesellschaft als degeneriert und abartig bezeichnet wird, konstatierte Hirschfeld, und schloss daraus, dass Trans-Menschen ebenso wie Homosexuelle keinerlei willentlichen Einfluss auf ihre Neigungen und ihre Persönlichkeit ausüben können. Ihnen den Wunsch nach einer Transition zu erfüllen, ob sozial oder physiologisch, ist schlicht und ergreifend der einfachste Weg, die psychische Resilienz und die Lebensqualität zu erhöhen. An dieser Erkenntnis hat sich in 100 Jahren übrigens nicht das Geringste geändert, Hirschfelds pragmatischer Ansatz ist durch kontemporäre Forschung validiert.

Dora Richter, liebevoll "Dorchen" genannt, die lange Zeit im Institut für Sexualwissenschaft lebte und arbeitete, starb mutmaßlich an jenem 6. Mai durch die Hand eines Faschisten, der in der bloßen Existenz einer Trans-Frau das Wirken "jüdischer Wissenschaft" zu erkennen glaubte. Der "Müll der Vergangenheit" sei "auszulöschen", geiferte Joseph Goebbels vier Tage später. Gemeint waren aber nicht nur die zu seinen Füßen brennenden Bücher. Gemeint waren Menschen wie Dora Richter, Magnus Hirschfeld und Heinz Heger.

Heinz Heger: "Die Männer mit dem rosa Winkel"

Am 27. Januar 2023 würdigte der Deutsche Bundestag in seiner Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus erstmals explizit die queeren Opfer der Nazidiktatur. Diesen hatte die Politik bislang kaum Aufmerksamkeit geschenkt, auch, weil Homosexualität in der Bundesrepublik Deutschland ein paar Jahrzehnte nach dem Fall Berlins noch immer ein Verbrechen war. Die queeren Häftlinge, die die Konzentrationslager überlebt hatten, waren nach 1945 zwar keiner systematischen Vernichtung mehr ausgesetzt, wohl aber immensen staatlichen, strafrechtlichen und sozialen Repressionen.

In seinem 1972 erschienenen Buch "Die Männer mit dem rosa Winkel" schildert der Zeitzeuge und KZ-Überlebende Heinz Heger (Pseudonym) – selbst wegen Homosexualität in Sachsenhausen und später Flossenburg inhaftiert – das vergessene Schicksal queerer Häftlinge. Von den Wachen und Kapos als Sexsklaven missbraucht, standen Homosexuelle zusammen mit jüdischen Menschen sowie den Sinti und Roma auf der niedrigsten Stufe der Häftlingshierarchie: "Juden, Homos und Zigeuner (sic), also die gelben, rosa und braunen Winkel, waren die Häftlinge, die am häufigsten und schwersten unter den Martern und Schlägen der SS und Kapos zu leiden hatten. Sie wurden als Abschaum der Menschheit bezeichnet, die überhaupt kein Lebensrecht auf deutschem Boden hätten und daher vernichtet werden müssten". Wenig verwunderlich also, dass gerade Magnus Hirschfeld – schwul und jüdisch – in den irren Augen der Nazis die Ausgeburt alles Bösen auf der Welt war.

Konklusion: Trans-Menschen sind eine Kulturkonstante

Wir können festhalten, dass die Geschlechter- und Sexualforschung kein Produkt der Postmoderne ist. Die vergleichsweise liberale Weimarer Republik und Magnus Hirschfeld waren globale Pioniere des wissenschaftlichen Felds, das wir heute Gender Studies nennen. Vor 100 Jahren fanden sich im Institut für Sexualwissenschaft zahllose Materialien zu und Nachweise für die anthropologische und soziologische Realität des geschlechtlichen und sexuellen Spektrums.

Der römische Kaiser Nero soll, gewandet in ein Brautkleid, den befreiten Sklaven Pythagoras geheiratet haben. Elagabalus trat als Frau auf, betätigte sich als Prostituierte und soll neben drei Frauen auch noch einen Mann geehelicht haben. Es gibt zahllose Kulturen, die ein drittes, viertes oder fünftes (und so weiter und so fort) Geschlecht kennen: Die Navajo auf dem amerikanischen Kontinent bezeichnen diese Menschen als "two spirits" und sehen darin ein Geschenk der Natur. Das Volk der Bugi, die auf der Insel Sulawesi in Indonesien leben, kennt drei biologische und fünf soziale Geschlechter.

Dass die westliche Welt mit diesen Konzepten nicht vertraut ist, muss – wie so viel des Leids, das wir auf die gleiche Weise über die Menschheit gebracht haben – als Konsequenz einer puristischen Auslegung des Christentums gelten. In der Genesis ist nur die Rede von Adam und Eva. Der christliche Gott schuf kein drittes Geschlecht, keine intersexuellen Menschen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, durfte es diese Menschen jahrhundertelang nicht geben – denn ihre bloße Existenz beweist, dass die Bibel entweder nicht stimmt, oder der unfehlbare Gott einen Fehler gemacht hat. Und das sind keine guten Nachrichten für brokatbewandete Päpste und ihr Geschäftsmodell. Wenn wir also über die Rechte von Trans-Personen sprechen, sollten wir uns stets an Magnus Hirschfeld erinnern: per scientiam ad justitiam – mit Wissenschaft zu Gerechtigkeit.

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