BERLIN. (hpd) Zum Inhalt einer Sonntagsversammlung für “gottlose” Menschen gehört auch ein philosophischer Vortrag, der sich mit ethischen Themen, mit Fragen nach dem Sinn des Lebens, mit dem Staunenswerten über unsere Welt beschäftigt. Auf dem ersten Treffen der Berliner “Sunday Assembly” Ende September hielt der Philosoph Dr. Stephen Cave einen Vortrag, dem er den Titel “Buch des Lebens” gegeben hatte und in dem er sich mit “Unsterblichkeit” und dem einzigen Leben, das Menschen haben, befasste.
Der hpd veröffentlicht im Folgenden den Vortrag im Wortlaut. Die Zwischenüberschriften stammen von der Redaktion:
Buch des Lebens
Die Sunday Assembly, so steht es auf der Webseite, ist eine Feier - a celebration - eine Feier des einzigen Lebens, das wir haben.
Es steht da auch, dass wir aus dem Nichts geboren sind und wieder ins Nichts gehen werden. Das heißt - und ich will kein Panikmacher sein - dass wir alle sterben werden.
Hoffentlich nicht heute - wir sollten optimistisch bleiben. Aber eines Tages.
In einhundert Jahren wird diese Halle, wenn sie noch steht, gefüllt von anderen jungen Männern und Frauen sein. Und wir werden alle Futter für Regenwürmer sein.
Das wisst Ihr natürlich. Aber ich weiß noch etwas. Ich weiß, dass - nur indem ich unsere Sterblichkeit erwähnt habe - Euer Geisteszustand sich beträchtlich verändert hat.
Ich habe Euch, sozusagen, in einen anderen mentalen Gang geschaltet. Wenn Ihr religiös seid, seid Ihr jetzt religiöser geworden. Wenn Ihr patriotisch seid, seid Ihr jetzt patriotischer geworden. Wenn Ihr etwas gegen Ausländer habt - Ihr bestimmt nicht, wie Ihr da vor mir sitzt - wäret Ihr fremdenfeindlicher geworden. Was auch immer der Kern Eurer Weltanschauung ist, Ihr werdet ihn jetzt aggressiver verteidigen und seine Gegner stärker ablehnen. Und alles nur, weil ich erwähnt habe, dass wir alle sterblich sind.
Über 400 Studien aus der Sozialpsychologie haben dieses Phänomen bewiesen.
Zum Beispiel: vor kurzem untersuchte eine Studie zwei Gruppen von Agnostikern, sprich Menschen, die unentschieden in ihren religiösen Ansichten sind. Die eine Gruppe wurde aufgefordert, sich vorzustellen, dass sie tot sind. Die andere sollte sich vorstellen, dass sie einsam sind. Anschließend wurden beide noch einmal über ihre religiösen Ansichten befragt. Die Gruppe, die an den Tod gedacht hatte, fand danach im Schnitt die Existenz Gottes zweimal so plausibel.
Erst waren sie agnostisch, aber sobald man sie mit dem Tod konfrontiert, rennen sie zu Jesus.
An Tod erinnern fördert Glauben an Geschichten, die Unsterblichkeit versprechen
Dies zeigt, dass die Erinnerung an den Tod Menschen dazu bringt, an Geschichten zu glauben, die in irgendeiner Form Unsterblichkeit versprechen.
Das Christentum verspricht natürlich sehr explizit “das ewige Leben”.
Aber andere Studien zeigen, dass dieser Effekt nicht auf Religion beschränkt ist. Patrioten werden patriotischer, zum Beispiel, wenn auf ihren Tod hingewiesen wird, weil diese Ideologie Unsterblichkeit als Teil eines größeren Ganzes verspricht. Aber auch der Drang, berühmt werden zu wollen, wird stärker; oder auch der Wunsch, reich zu werden - in der Hoffnung, dass man ewiges Leben kaufen kann.
Und so weiter. Die Forscher hinter diesen 400 Experimenten waren von Sigmund Freud und dem amerikanischen Anthropologen Ernest Becker inspiriert. Sie waren davon überzeugt, dass viele Ideologien und Glauben psychologischen Schutz gegen die Angst vor dem Tod bereitstellen.
Menschliches Wissen um die Unausweichlichkeit des Todes
Zwar sterben alle Lebewesen, aber nur wir - soweit wir es wissen - sind uns dessen bewusst. Nur wir haben ein ausreichendes Bewusstsein unserer Selbst und der Zukunft, um zu sehen, dass der Tod unausweichlich ist.
Das heißt es, ein Sterblicher zu sein. Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges schrieb, “außer Menschen sind alle Geschöpfe unsterblich, weil sie nichts vom Tode wissen.” - “except for man, all creatures are immortal, for they are ignorant of death.” But we are not ignorant. Wir wissen es.
Und wir haben Angst.
Und genau deswegen entwickeln wir diese Erzählungen, die den Tod verleugnen. Sie versprechen uns, dass wir dem Tod irgendwie entkommen können - und weiter leben. Ohne Ende.
Jorge Luis Borges, um ihn noch mal zu zitieren, beschrieb diese Glauben als “magische Schranken”, die den Tod aufhalten sollen.
In jeder Kultur Erzählungen, die den Tod verleugnen
Man findet solche Erzählungen in jeder Kultur, jeder Zivilisation, jeder Religion. (Und in meinem Buch “Unsterblich” stelle ich die vier Grundformen dieser Erzählungen vor.)
Aber diese Erzählungen haben einen Preis.
Wenn Ihr glaubt, dass das echte Leben erst nach dem Tod anfängt, dann werdet Ihr dieses Leben nicht zu schätzen wissen. Oder wenn Ihr glaubt, dass die Medizin oder die Wissenschaft Euch retten werden und Euch unendlich viele Jahre schenken, dann werdet Ihr Euren Tagen hier und jetzt nicht wertschätzen.
Den Tod zu verleugnen heißt, den Wert des Lebens zu verleugnen.
Wie sollen wir dieses eine Leben führen?
Die Frage ist also: Sind wir dazu verurteilt, dieses eine Leben, das wir haben, in einer Art und Weise zu führen, die von Angst und Verdrängung geprägt ist?
Oder können wir diese Angst überwinden? Mit der Sterblichkeit zurechtkommen, und so dieses eine Leben, dass wir haben, richtig schätzen - und auch feiern?
Der griechische Philosoph Epikur meinte, dass wir das können. Die Angst vor dem Tod sei natürlich, aber nicht rational.
Fear of death is natural, but it is not rational.
“Der Tod”, sagte Epikur, “ist für uns ein Nichts: Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr.”
Dies wird oft zitiert, doch ist es schwierig, wirklich zu verstehen, wirklich zu verinnerlichen, denn genau diese Vorstellung, nicht mehr da zu sein, ist für uns so schwer.
Also hat der Philosoph Ludwig Wittgenstein es 2000 Jahre später so beschrieben: “Der Tod ist kein Ereignis im Leben: Den Tod erlebt man nicht.” “Und somit”, sagte er, “in diesem Sinne, hat das Leben kein Ende.”
Also ist es ganz natürlich, dass Leute Angst vor dem Tod haben. Aber es ist nicht rational, denn keiner von uns wird ihn je erleben.
Angst vor dem Tod bewältigen
Trotzdem ist es nicht einfach, diese Angst zu überwinden, da sie so tief in uns verwurzelt ist. Doch wenn wir begreifen, dass sie unbegründet ist, dann können wir anfangen, sie zu bewältigen.
Und das Motto der Sunday Assembly kann uns dabei helfen: wenn wir mehr über die Welt staunen, dann leben wir eher in der Gegenwart - und dann sind wir weniger gefangen von Zukunftsängsten, einschließlich der Angst vor Sterblichkeit.
Und wenn wir anderen helfen, werden wir weniger ichbezogen. Bertrand Russell, der große, englische Philosoph, schrieb über Angst vor dem Tod: “Der beste Weg zu ihrer Überwindung besteht darin, die eigenen Interessen schrittweise weiter und weniger persönlich zu fassen, so dass die Mauern des Ego immer weiter zurückweichen und das eigene Leben immer stärker mit dem universellen Leben verschmilzt.”
Das Leben wie ein Buch ansehen
Ich finde, es hilft, das Leben wie ein Buch zu sehen. Genauso wie ein Buch von zwei Klappseiten umgeben ist, dem Anfang und dem Ende, ist unser Leben von Geburt und Tod begrenzt.
Aber obwohl ein Buch durch Anfang und Ende begrenzt ist, so kann es doch entfernte Landschaften, exotische Figuren und fantastische Abenteuer enthalten.
Und obwohl ein Buch durch Anfang und Ende begrenzt ist, so kennen die Charaktere darin doch keine Grenzen. Genau wie wir, kennen sie nur die Momente, die Teil ihrer Geschichte sind, auch nachdem das Buch geschlossen ist.
Die Charaktere in einem Buch haben keine Angst vor der letzten Seite. “Harry Potter” hat keine Angst davor, dass Ihr das Buch zu Ende lest. Genauso sollte es für uns sein.
Stellt Euch Euer Leben als Buch vor, die Buchdeckel sind Eure Geburt und Euer Tod. Ihr könnt nur die Momente dazwischen kennen, die Momente, die Euer Leben ausmachen. Es hat keinen Sinn, sich vor dem zu fürchten, was außerhalb dieser Klappseiten liegt, ganz gleich ob das vor Eurer Geburt oder nach Eurem Tod ist.
Dankbarkeit, dass wir überhaupt leben
Und wenn Ihr daran denkt, wie unwahrscheinlich es ist, dass das Buch Eures Lebens zustande gekommen ist, dann ist die richtige Haltung nicht Angst, dass es zu Ende gehen muss, sondern Dankbarkeit, dass es überhaupt existiert.
Wir können unmöglich ermessen, wie viele glücklicher Zufälle es bedurfte, damit das Leben, dann die Tiere, die Säugetiere, die Menschen, Eure Vorfahren, Eure Eltern und schließlich Ihr selbst entstanden seid.
Und wenn man daran denkt, wie viel Glück Ihr habt, dass das Buch Eures Lebens überhaupt zu füllen ist, dann erscheint es etwas kleinlich zu klagen, dass es ein bisschen kürzer ist, als man gerne hätte.
Tatsache ist, Ihr sollt Euch keine Gedanken darüber machen, wie lang das Buch ist, und ob es ein Wälzer ist oder ein Novelle: Was zählt ist, dass es eine gute Geschichte ist.
It doesn’t matter how long or short your book is; if it’s a doorstopper or a novella. What matters is that you make it a great story.
Die Redaktion dankt Dr. Stephen Cave für die Überlassung des Vortragsmanuskripts.
Dr. Stephen Cave: “Unsterblich”. (Aus dem Englischen von Michael Bischoff. S. Fischer, Frankfurt/M. 367 S., 22,99 Euro. ISBN 978–3100102355)
Rezension des Buches “Unsterblich” in DIE WELT 16.07.2012: “Unsterblichkeit hat nur einen geringen Spaßfaktor”
Veranstaltungshinweis:
Das zweite Treffen der Berliner Sunday Assembly findet am kommenden Sonntag (26.10.2014) statt. Beginn 14.00 Uhr, Einlass 13.40 Uhr.
Akademischer Verein Hütte, Carmerstraße 12, 10623 Berlin (zwischen Savignyplatz und Steinplatz, U-Bahn Zoo und Ernst-Reuter-Platz). Schwerpunktthema: “How long ist now”, Vortrag zur Philosophie und Praxis der Achtsamkeit von Michael Meudt (Schriftsteller und Journalist)
http://berlin.sundayassembly.com/
https://www.facebook.com/SundayAssemblyBerlin
5 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Angst.
Vor dem Sterben?
Habe ich nicht mehr; mein Ende gehört mir.
Wozu dann diese Sunday Assembly-Dienste? Erschließt sich mir nicht.
Sascha Rother am Permanenter Link
Na ja, es gibt halt genug Menschen, die wollen eigentlich davon lassen, sind aber unentschlossen. Diesen kann man damit die nötigen Denkanstöße geben.
Andrea Pirstinger am Permanenter Link
Sterben und Tod sind zwei unterschiedliche "Zustände":
Sterbende leben noch, Tote (glücklicherweise?) nicht mehr.
Was sich den einen nicht erschließt, erschließt sich evtl. den anderen.
Hans Schulze am Permanenter Link
Herzlichen Glückwunsch an Sunday Assembly Berlin zu der gelungenen Auftaktveranstaltung in Berlin. Weiter so.
Die Vereinigung sollte sich ihr Konzept nicht miesmachen lassen durch atheistische Spießer, die sich und anderen in langen Tiraden gerne erzählen, was alles Schreckliches in der Bibel, im Koran oder sonstwo steht. Wen will man denn mit solchem Zeug begeistern? "Gott sei Dank" geht die Tendenz in Deutschland ja dahin, dass sich die Leute schlichtweg überhaupt nicht mehr für Gott und die ganzen Heiligengeschichtchen interessieren.
Evolutionär-humanistisches Gedankengut, darum geht es und nicht um die Erbsenzählerei, wann "Gott" in irgendeiner Heiligen Schrift etwas menschenrechtsfeindliches erzählt oder getan haben soll - soll man seine wertvolle Lebenszeit etwa mit der Befassung mit solch einem Unsinn verplempern?
Stephen Cave ist auf die Fragen nach dem Sinn des Lebens, der Bewertung des eigenen Lebens und der Endlichkeit des individuellen Lebens (in der Kürze seiner Redezeit) in großartiger Weise eingegangen, ohne religiöses Brimborium, ohne christliche Überheblichkeit - wir haben einfach Glück gehabt, sagt er, dass wir für eine bestimmte Zeitspanne überhaupt leben dürfen, da müssen wir uns keinem Schöpfergott oder seinen Priestern unterwerfen. Das Gefühl der Dankbarkeit darüber, das man existiert, das Cave anspricht, kann die Grundlage für eine andere, neue Bewertung existentieller Fragen sein.
Mir scheint, Cave ist bei seinen Überlegungen ganz bei Richard Dawkins, der auch von dem Glück spricht, dass es ein Universum gibt, in dem wir leben können, von dem Glück, dass es uns ganz individuell gibt. "Wir alle müssen sterben, das heißt, wir haben Glück gehabt. Die meisten Menschen sterben nie, weil sie nie geboren werden" schreibt er in seinem Buch "Der entzauberte Regenbogen".. Eine ganz andere Sicht auf existenzielle Fragen - das ist erforderlich und ein Ansatz, der das religiöse Denken auf Dauer ablösen wird.
Religiöse und ihre Widerparte, solche Atheisten, die weiter und weiter in den alten Schriften wühlen, um irgendetwas zu entlarven, werden für eine evolutionär-humanistische Entwicklung keine Beiträge leisten können. Man kann solchen Leuten nur sagen: bleibt in euren Zirkeln und kaut zum xten Male wieder, was im Alten oder Neuen Testament steht. Wem´s Spaß macht ... Und wenn ihr schon nicht in der Hölle schmort, dann doch wenigstens im eigenen Saft. Es ist auch völlig unerheblich, ob sich euch etwas erschließt oder nicht - wen interessiert das schon!
F. Nicolai am Permanenter Link
Hans Schulze bezieht sich offenbar auf Richard Dawkins, „Der entzauberte Regenbogen – Wissenschaft, Aberglaube und die Kraft der Phantasie“, Rowohlt.